Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV)

„Teile der Politik wollen einen kompletten Systemwechsel“

mg
Politik
Mit Nachdruck hat der Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) im Rahmen der heutigen Vertreterversammlung in Mainz die Politik noch einmal aufgefordert, die Situation der Niedergelassenen in Deutschland grundlegend zu verbessern – andernfalls stehe die ambulante Versorgung auf dem Spiel.

„Eine der größten Errungenschaften des deutschen Gesundheitswesens ist die wohnortnahe niedrigschwellige haus- und fachärztliche sowie psychotherapeutische Versorgung durch mehr als 100.000 Praxen. Das sehen die Bürgerinnen und Bürger ganz genauso“, sagte KBV-Vorstandsvorsitzender Dr. Andreas Gassen und erinnerte an eine Umfrage anlässlich der von KBV und Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) kürzlich initiierten Kampagne „Wir sind für Sie nah“ zur Rettung der Praxen. Die Sorge, dass die ambulanten Strukturen wegbrechen „beziehungsweise weggebrochen werden“ hielt der KBV-Chef für berechtigt.

Gassen: „Es ist offenkundig, dass Teile der Politik, und zwar konkret die aktuelle Leitung des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG), einen kompletten Systemwechsel wollen. Karl Lauterbach sagt ja auch unverblümt, dass er das ganze Gesundheitssystem umkrempeln will.“ Tatsächlich liste das BMG derzeit 15 Gesetze auf, die möglichst noch vor der Sommerpause in knapp zwei Monaten ins Kabinett sollten – unter anderem das bereits seit über zwei Jahren angekündigte Bürokratieentlastungsgesetz. „Wir sind gespannt. Die Zeit wird jetzt natürlich knapp. Man hat halt 2,5 Jahre für die bahnbrechende Cannabislegalisierung gebraucht“, konstatierte Gassen.

Umbau in Richtung NHS geht vor allem zu Lasten der Patienten

Der KBV-Chef kritisierte die „Verstationierung“ der Versorgung im Gegensatz zur eigentlich erforderlichen Ambulantisierung: „Die Krankenhäuser werden immer weiter für ambulante Leistungen geöffnet.“ Es müsse jedem klar sein, welche Ideologie und welches strategische Ziel dahinterstehe, so Gassen: „Nämlich eine Zentralisierung unseres Gesundheitswesens nach skandinavischem oder britischem Vorbild und die Vernichtung der wohnortnahen Grundversorgung in inhabergeführten Praxen. Gassen appellierte an Minister Lauterbach: „Vergraben Sie Ihre Papiere zum Umbau des deutschen Gesundheitswesens wieder in den Kellern, in denen sie lagen, seit Ulla Schmidt das BMG verlassen musste. Staatsmedizin war und ist eine Totgeburt. Sie schafft eine gewaltige Benachteiligung, gerade von Menschen, die unser Gesundheitssystem besonders brauchen!“

Der stellvertretende KBV-Vorstandsvorsitzende Dr. Stephan Hofmeister begrüßte die im Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) vorgesehene Stärkung der hausärztlichen Versorgung durch die Entbudgetierung. „Dass sie kommt, ist richtig und überfällig“, sagte Hofmeister. Zugleich wies er aber darauf hin, dass bei der konkreten Umsetzung noch einige Details zu klären seien, die sich mit dem entsprechenden politischen Willen aber lösen ließen. Der KBV-Vize warnte jedoch: „Die strukturellen Anpassungen der hausärztlichen Vergütung, die der Gesetzentwurf zum GVSG vorsieht, sind nicht mit zusätzlichem Geld hinterlegt. Das bedeutet im Klartext: Vorhandene Mittel werden umverteilt.“

Das GVSG bietet auch Chancen

Hofmeister forderte geschärfte gesetzliche Leitplanken ein, die sicherstellen, „dass die Praxen nicht für das gleiche Geld mehr arbeiten müssen“. Für substanzielle Honorarumverteilungen zwischen den hausärztlichen Praxen sei kein Spielraum vorhanden. Hofmeister: „Unerklärlich ist mir nach wie vor, wie es sein kann, dass sich alle Fachleute und Politik in der Analyse einig sind, dass es zu wenig hausärztliche Versorgung gibt und die Zahl der Praxen sogar weiter zu sinken droht und wir uns unter diesen Prämissen dennoch mit Punktsummen- und Ausgabenneutralität befassen müssen.“

Während das GVSG an einigen Stellen Chancen biete, werde jedoch mit dem Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) „sozusagen hinterrücks wieder eingerissen, was man vorne gerade mühsam aufbaut“, so der KBV-Vize. Bestrebungen, sektorenübergreifende Versorgungszentren zusätzlich finanziell fördern zu wollen, würden die wohnortnahe Versorgung weiter ausdünnen. „Mit einer solchen Regelung würde der Vorrang der ambulanten Versorgung durch Vertragsärztinnen und -ärzte im hausärztlichen Bereich in den meisten Regionen abgeschafft“, warnte Hofmeister. Noch absurder werde es, wenn der Gesetzentwurf die sektorenübergreifenden Versorgungszentren darüber hinaus als künftige Zentren der allgemeinmedizinischen Weiterbildung deklariere.

Demokratie ist essenziell für ein funktionierendes Gesundheitswesen

Mit Blick auf die anstehende Europawahl verwies Hofmeister auf das gemeinsam mit der Bundesärztekammer verfasste Positionspapier. „Wir sind der Überzeugung, dass die Einhaltung demokratischer, rechtsstaatlicher Prinzipien nicht nur essenziell für den inneren Frieden Europas ist, sondern auch für ein funktionierendes Gesundheitswesen.“ Er verwahrte sich aber vor einem Hineinregieren in ärztliche und psychotherapeutische Angelegenheiten und deren Selbstverwaltung. Hofmeister: „Das können wir nicht akzeptieren – ganz gleich, auf welcher politischen Ebene.“ Denn alles, was Politik als Alternative zu bieten habe, mag mehr staatlicher Kontrolle dienen, aber nicht den hohen Ansprüchen, die Ärzte und Psychotherapeuten selbst an ihr Handeln stellen: „Nämlich, nach bestem Wissen und Gewissen für unsere Patientinnen und Patienten ,nah’ zu sein.“

Auch KBV-Vorstandsmitglied Dr. Sibylle Steiner betonte: „Vor uns liegen entscheidende Wochen und Monate für die Zukunft der Praxen.“ Bevor insbesondere die „elektronischen Patientenakte (ePA) für alle“ ausgerollt wird, bedürfe es einer erheblich zuverlässigeren Telematikinfrastruktur (TI). Das TI-Netz sei in diesem Jahr bereits über 630 Stunden lang ausgefallen. Steiner: „Wer von der segensreichen KI träumt, sollte erst einmal die TI ans Laufen bringen.“ Die Stichworte seien Stabilität, Performanz, Ausfallsicherheit und Funktionsfähigkeit.

BMG und Kassen müssen über die ePA aufklären

Gleiches gelte für Praxisverwaltungssysteme (PVS) als Dreh- und Angelpunkt für die erfolgreiche Einführung der ePA. Praxen dürften nicht zum Sündenbock gemacht werden, wenn ihre PVS-Anbieter die notwendigen Voraussetzungen nicht erfüllen. „Sanktionen und Bußgeldandrohungen, die sich gegen die Praxen richten, sind vollkommen inakzeptabel“, stellte die Vorständin klar. Eine jüngste Umfrage des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) habe ergeben, dass nur eine von vier Praxen mit ihrem PVS zufrieden sei und es weiterempfehlen würde.

Hier mahnte Steiner seitens der Hersteller Verbesserungen an – und verwies auch auf die neue Möglichkeit, eine Rahmenvereinbarung mit der KBV zu schließen: „Die PVS müssen die Nutzung der ePA schnell, einfach, gut bedienbar und stabil ermöglichen.“ Des Weiteren müssten auch BMG und Krankenkassen endlich ihrer Pflicht nachkommen, Versicherte über die ePA aufzuklären. „Gemeinsam sind wir als KVen dem BMG und den Krankenkassen mal wieder weit voraus und haben längst mit der Information von Ärzten und Psychotherapeuten begonnen“, so Steiner.

Zum GVSG hob das Vorstandsmitglied positiv hervor, dass mit der Bagatellgrenze von 300 Euro im Rahmen von Wirtschaftlichkeitsprüfungen für verordnete Leistungen ein erster Schritt zu einem Ende der Misstrauenskultur gegenüber Ärzten und Psychotherapeuten gemacht werde. Auf der anderen Seite unterstellt das BMG dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) zeitraubende Diskussionen sowie Selbstblockade. Deshalb will es engere Fristen für die Beratungsdauer setzen. Gleichzeitig sollen zusätzliche Organisationen erweiterte Beteiligungsrechte im G-BA erhalten. Steiner resümierte: „Ein klarer Widerspruch in sich oder vielleicht doch Absicht?“

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