Der Mensch in der Masse
Der Hadsch ist die Mutter aller Großveranstaltungen. Während der nur fünf Tage dauernden „großen Pilgerfahrt“ strömen zwischen zwei und drei Millionen Muslime in das saudi-arabische Mekka. Bis zum Jahr 2040 soll ihre Zahl auf sechs Millionen steigen. Allen Pilgern die traditionelle Umrundung der Kaaba zu ermöglichen, ist ein logistischer Kraftakt. Beim sogenannten Tawaf, dem Lauf um die heilige Stätte, kommen bis zu zehn Menschen auf einem Quadratmeter zusammen – die eigene Richtung zu bestimmen, ist für den Einzelnen in der Masse kaum noch möglich.
In der Vergangenheit hatte das oft tödliche Folgen: Im Jahr 1990 kamen mehr als 1 400 Menschen beim Gedränge in einem Fußgängertunnel ums Leben. Vier Jahre später wurden 270 Pilger an den Jamarat-Säulen zu Tode getrampelt, im Jahre 2004 starben 251 Menschen an der gleichen Stelle. Um die Gefahren in den Griff zu bekommen, ließen die saudi-arabischen Behörden ein professionelles Konzept für die Bewältigung der Besucherströme ausarbeiten. Unterstützt wurden sie dabei von Verkehrsforschern.
Drängeln und schubsen
Ein Aspekt der Verkehrsforschung: die Analyse von Massenturbulenzen, den „crowd turbulences“. Turbulenzen entstehen bei einer zu hohen Personendichte. Die Regel: Wenn sieben oder mehr Menschen sich auf einem Quadratmeter zusammenfinden, verhält sich die Masse wie eine Flüssigkeit. Es kommt zu wogenden Bewegungen. Wird der Druck zu groß, hebt man durch die entstehenden Schockwellen unter Umständen vom Erdboden ab und wird meterweit wegtragen. Das Individuum verliert die Kontrolle über seinen Körper, der Druck kann das Atmen erschweren und durch die Hitze besteht die Gefahr, in Ohnmacht zu fallen.
Zu crowd turbulences kommt es typischerweise, wenn zum Beispiel vor dem Eingang zu einem Festivalgelände ein zu hohes Besucheraufkommen dazu führt, dass mehr Menschen dort hereindrängen als die Engstelle passieren können. Viele Wartende reagieren mit Ungeduld, schieben nach vorne oder versuchen, aus dem Pulk herauszukommen. Dadurch entstehen ungeordnete Bewegungsströme, die zu noch mehr Stillstand führen. Der Grund: Die für die Mobilität einer Masse entscheidende Bahnbildung wird gestört.
Verkehrsforscher haben herausgefunden, dass Fußgängerströme sich selbst organisieren – ohne dass die Strukturen von außen vorgegeben werden. Das Individuum ist sich seiner Mitwirkung an den kollektiven Verhaltensstrukturen oft gar nicht bewusst. Zu beobachten ist dieses Phänomen etwa in Einkaufsstraßen, wo sich Bahnen herausbilden, auf denen sich alle in eine Richtung bewegen. Mit zunehmender Dichte werden diese Bahnen breiter, bis oft nur noch zwei Ströme übrig bleiben, die in die entgegengesetzte Richtung laufen.
Fazit: Besteht keine Balance zwischen Zuund Abgang auf ein Gelände, brechen eben noch funktionierende Fußgängerströme plötzlich zusammen. Die Menschenmengen schieben gegeneinander, um wieder Bewegung in den Strom zu bringen.
Doch gerade dadurch schalten sie die Möglichkeit zur Entspannung vollends aus – das kann dann zu sogenannten „crowd disasters“ führen, zu denen auch Massenpaniken gehören.
Kopfloser Herdentrieb
Gerät ein Mensch in Panik, wird Blut aus Kopf und Bauch in die Muskulatur der Beine gepumpt, um das schnelle Weglaufen zu unterstützen. Dieser uralte Impuls hat in einer Gefahrensituation oberste Priorität. Statt gründlich zu überlegen, nimmt man stattdessen lieber die Beine in die Hand und läuft „der Herde“ blind hinterher. Das kann funktionieren, bewegt man sich aber auf engem Raum in einer komplexen Umgebung, zum Beispiel einem brennenden Hochhaus, kann es gerade falsch sein, sich einer bereits laufenden Masse anzuschließen. Ist man erst einmal Teil des Pulks, kommt man nur schwer – oder gar nicht mehr – aus ihm heraus.
Die psychologische Dynamik einer Massenpanik haben Wissenschaftler noch nicht genau geklärt. Zum einen, weil es schwierig ist, an geeignetes Forschungsmaterial zu gelangen. Denn wo Panik ausbricht, sind nur in seltenen Fällen Kameras angebracht. Und Experimente sind wegen der Unberechenbarkeit der Situation viel zu gefährlich. So lässt sich noch nicht ausreichend erklären, wie sich die Panik eines Einzelnen auf die Masse überträgt. Fest steht nur: Im Moment der Panik reagieren Menschen vollkommen irrational, denn sie ist ein Zustand absoluter Führungslosigkeit.
Meistens genügt es schon, wenn sich zu viele Menschen auf zu engem Raum bewegen und die Panikreaktionen einer Einzelperson beobachten. Das auslösende Ereignis muss nicht einmal lebensbedrohlich sein. Die im Moment des Beobachtens gefühlte Gefahr, gibt den Ausschlag und potenziert sich schnell in der Masse.
Im Jahr 1971 drängten zum Beispiel die Zuschauer gegen Ende eines torlosen Spiels im Ibrox Park Stadium, Glasgow, in Richtung Ausgang, als plötzlich doch noch ein Tor fiel. Einige Fans versuchten, zu ihren Plätzen zurückzukehren. 66 Menschen wurden bei dem Konflikt getötet. Ein plötzlicher Stromausfall im Quitab Minar Turm in Neu-Delhi veranlasste einige Besucher dazu laut auszurufen, der Turm stürze ein. Die dadurch ausgelöste Panik kostete 45 Menschen das Leben. Bei einem plötzlichen Hagelsturm über dem mit 30 000 Besuchern besetzten Nepal National Stadium in Katmandu kamen 1988 mehr als 100 Menschen ums Leben, als die Masse versuchte zu fliehen, die Ausgänge aber verschlossen fand. Was eine Panik auslöst, ist also oft nicht vorhersehbar – aber entsprechende Sicherheitsvorkehrungen senken das Risiko.
Panik vermeiden
Veranstalter können die Gefahren minimieren, indem sie im Vorfeld ein Mobilitätskonzept ausarbeiten, um die Besucherströme effizient zu leiten. Beispiel Hadsch: Mit Absperrungen teilt man die Mengen und mit zusätzlichen Ausweichflächen, auf die die Menschen im Notfall umgeleitet werden, sorgt man dafür, dass kritische Dichten aufgelöst werden. Die Zahl der Einund Ausgänge wurde erhöht, ein System von Einbahnstraßen lässt die Fußgängerströme reibungsloser fließen. Im Gegensatz dazu diente bei der Loveparade in Duisburg der Tunnel, in dem sich die Todesfälle ereigneten, gleichzeitig als Aus- und Eingang.
Gefährliche Engpässe an einem Eventort lassen sich sehr effizient mit Baumdiagrammen aufzeigen. Sie markieren die Ein- und Ausgänge sowie die Hauptwege und Kreuzungen auf einem Gelände. Ein weiterer Trick, um den Durchfluss zu erhöhen, sind in kurzem Abstand zu Ein- und Ausgängen platzierte Pfeiler, die die Besucherströme teilen. Die Pfeiler sollten rund sein, damit sich niemand an ihnen verletzen kann. Während des Events helfen Videoüberwachung und die computergestützte Analyse der Besucherströme dabei, kritische Engpässe zu identifizieren und rechtzeitig einzuschreiten.
Ameisen, Fische, Menschen
Wie größere Gruppen interagieren und wie die (nonverbale) Kommunikation bei Menschen und Tieren funktioniert, sind Fragen, mit denen sich die Schwarmforschung beschäftigt. Einer der Kernbegriffe dieses Wissenschaftsgebiets ist die Schwarmintelligenz. Eine Ameisenkolonie findet Problemlösungen, die für einzelne Ameisen undenkbar wären. Etwa, den Schwarm vor Angreifern zu schützen oder den kürzesten Weg zur Futterquelle zu finden. Wie sich eine Masse bewegt, konnten Wissenschaftler anhand von Fischschwärmen ausmachen. Heringsschwärme zum Beispiel bewegen sich pfeilschnell durch das Wasser und können dabei schlagartig ihre Richtung ändern, ohne zusammenzustoßen.
Schwarmforscher gingen diesem Phänomen auf den Grund, indem sie Hochgeschwindigkeitskameras auswerteten. Das Ergebnis: Der Richtungswechsel erfolgt nicht gleichzeitig, sondern einige wenige Fische beginnen damit. Die anderen folgen lediglich in einem extrem kurzen Zeitabstand. Heringe folgen also drei Grundsätzen. Erstens: bei der Gruppe bleiben. Zweitens: Zusammenstöße vermeiden. Drittens: in die gleiche Richtung schwimmen wie der Nachbar.
Schwarmforscher haben herausgefunden: Menschenmengen organisieren sich nach ähnlichen Prinzipien wie Heringsschwärme – ohne verbale Abstimmung. Das geht aus einem von Verhaltensforschern der Universität Leeds und dem WDR-Wissenschaftsmagazin „Quarks & Co“ organisierten Großexperiment aus dem Jahr 2007 hervor. Gemeinsam mit 200 Probanden testeten die beiden Crews Schwarmverhalten und -intelligenz des Menschen. In einem ersten Versuch sollten sich die Teilnehmer in einer Gruppe frei im Raum bewegen, ohne zu kommunizieren, allerdings immer nahe beim Nachbarn bleiben. Nach einiger Zeit bildeten sich im Raum zwei rotierende Kreise – ein innerer und ein äußerer – die sich in gegenläufige Richtungen bewegten.
Eine weitere Frage, die die Forscher sich stellten: Wie viele Führer braucht man, um eine Menschenmenge effizient zu leiten? Ohne es der ganzen Gruppe mitzuteilen, gaben sie fünf Prozent der Teilnehmer den Auftrag, einen bestimmten Punkt im Raum anzupeilen. Ergebnis: Die gesamte Menge folgte ihnen. Für die Wissenschaftler legte das die Vermutung nahe, dass in einer Gruppe jeder zum Anführer werden kann, der über Informationen verfügt.
Im Prinzip verhalten sich größere Menschenmengen also nicht anders als Tierschwärme. Mithilfe dieser Erkenntnisse könnten tödliche Massenpaniken, wie bei der Loveparade, verhindert werden, findet der Biologe und Schwarmforscher Jens Krause. In einem Interview mit der „Frankfurter Rundschau“ zu den Ereignissen in Duisburg sagte er, mit geeigneten Führungspersonen seien auch „so viele Menschen gut zu kontrollieren“. Als entscheidenden Sicherheitsfaktor nannte Krause die Anzahl der Ordner. Sie sollten fünf bis zehn Prozent der Besucher von Großveranstaltungen stellen. Die Sicherheitskräfte müssten „nicht gestikulieren oder über das Megafon sprechen, sie müssen nicht einmal eine Uniform tragen“. Sie müssten sich einfach nur deutlich und zielgerichtet bewegen – dann werden sie von allen anderen kopiert.
Susanne TheisenFreie Journalistin in KölnSusanneTheisen@gmx.net