Ein fast vergessener Wegbereiter
Als Joseph der II. von Österreich, Sohn Maria Theresias, am Morgen des 30. April 1783 beim Morgenkaffee saß, mag sein Blick bei der Lektüre der „Wiener Zeitung“ auf folgende Anzeige gefallen sein: „Herr Serre, erfahrener Zahnarzt von verschiedenen Akademien in Frankreich, als auch an der Universität in Wien, nimmt sich die Freyheit die Fortsetzung seiner Dienste denen Herren Kavalieren und Damen, wie auch dem hochgeschätzten Publiko anzubieten, und suchet je länger, je mehr dero Zutrauen zu erwerben, in der Hoffnung die von ihm täglich gegebene Proben seiner Kenntniß und Erfahrenheit in diesem Fache noch besser an Tag zu legen [...] Man kann sich an Herrn Serre in allen die Zahnkuhr betreffenden Operationsfällen wenden, sey es die Zähne zu putzen, sie zu feilen, voneinander zu sondern, solche verkürzen, ihre Fäulniß benehmen, solche wegbeitzen, ausfüllen, gerade richten, gehörige Lage zu geben, befestigen, wie auch solche zu trepanieren. Er setzt auch natürliche und falsche Zähne auf verschiedene Art ein, dass sie alle Dienste gleich wie unsere eigenen Zähne thun, auch den natürlichen ganz ähnlich sind [...]“ [Fricke-Patzak, 1968].
Zur Person
Wer war dieser Johann Jacob Joseph Serre, der im Alter von nur 24 Jahren seine, alle Bereiche der Zahnheilkunde inklusive der Orthodontie umfassenden Kenntnisse und Fähigkeiten derart selbstbewusst anpries und dessen später erschienenes Lehrbuch „Praktische Darstellung aller Operationen der Zahnarzneikunst“ heute im europäischen Antiquariatsbuchhandel für vierstellige Beträge gehandelt wird?
Dem, seinem bekanntesten Buch vorangestellten Frontispiz ist zu entnehmen, dass Serre am 5. Mai 1759 in Mons – damals Niederlande, heute Belgien – geboren wurde. Er war das sechste Kind eines approbierten Chirurgen. Der Beruf des Vaters – Serre schreibt, er habe ihn oft bei der Arbeit begleitet – hat auch das Interesse des Sohnes geweckt. Nach Beendigung des Spanischen Erbfolgekriegs zwischen Habsburg und Frankreich, waren die katholischen Niederlande durch den Frieden von Utrecht 1713 an Österreich gefallen. Die Wiener medizinische Fakultät verfügte – aufgrund der, durch Maria Theresias Leibarzt van Swieten durchgeführten Reformen – über einen bedeutenden Ruf in Europa. Für den jungen Serre lag es somit nahe, in Wien eine chirurgische Ausbildung zu absolvieren. Anfangs mit schwachen Leistungen, denn Serre fiel bei seiner ersten Prüfung zum magister chirurgorum am 31. Januar 1781 durch. Ein halbes Jahr später wiederholte er – diesmal mit Erfolg. Zwei Dinge sind an diesem Punkt bemerkenswert: Zwar unterzog sich Serre einer Prüfung zum Wundarzt, dem damals übergeordneten Examen, wurde aber im Catalogus chirurgorum der Wiener Universität bereits 1781 als „Dentista“ geführt. Das bedeutet, dass sich Serre schon in der Zeit vor seiner Prüfung hauptsächlich mit der Zahnheilkunde beschäftigt hat. „Ich habe sowohl auf meinen Reisen in Frankreich, als zu Hause bei meinem Vater in den Niederlanden, so manche Operationen, auf so mancherlei Art und mit so verschiedenen Instrumenten verrichten sehen“, schreibt er in der Vorrede der Zahnarzneikunst, in der Widmung an Zar Alexander I. von Russland: „Unter so günstigen und glücklichen Vorbedeutungen, wage ich es in tiefster Verehrung, Ew. Kaiserl. Majestät, die Frucht einer 26-jährigen Ausübung und Erfahrung zu Füßen zu legen“ [Serre, 1804].
Erste Dienstjahre in Wien
Somit zählt Serre das Jahr 1777 als sein erstes Berufsjahr. Er war damals 18 Jahre alt. Noch lässt sich nicht ahnen, dass er, der durchgefallene Prüfling von 1781, später Hofzahnarzt zu Berlin, Mitglied der chirurgischen Akademie zu Metz, Autor dreier Lehrbücher und Kenner der medizinischen Fachliteratur von Galen bis Heister, von Hippokrates bis Hunter sein wird. Zwei Jahre nach der bestandenen Prüfung in Wien erschien eingangs zitierte Anzeige. Serre muss wohl in der Zwischenzeit in Frankreich gewesen sein. Indes war er auch Mitglied der chirurgischen Akademie zu Metz.
Publikationen zur Zahnmedizin
1783 erfolgte die „Niederlassung“ in Wien, wo er 1788 sein Debüt als zahnmedizinischer Autor mit der Herausgabe der immerhin über 150 Seiten umfassenden „Geschichte oder Abhandlung der Zahnschmerzen des schönen Geschlechts in ihrer Schwangerschaft“ gab. Gemäß seinem Anliegen „Schmerzen abzukürzen und mit Vorurteilen zu widerlegen“ verteidigte Serre seine Ansicht, dass man die erkrankten Zähne Schwangerer sehr wohl behandeln dürfe. Er räumte damit mit dem falschen Volksglauben auf, dass „sie allzeit in Gefahr wären, ihre Frucht zu verlieren“, und vertrat die – für seine Zeit – moderne Ansicht, dass akute entzündliche Prozesse dem ungeborenen Kind mehr schaden als die Therapie derselben.
Ein weiteres Fachbuch folgte 1791. Die „Abhandlung über die Flüsse und Entzündungen, von denen die Geschwülste oder Zahnfleischgeschwüre herrühren; nebst einer gründlichen Widerlegung des Vorurtheiles, dass bey Flüssen oder Entzündungen der Zahn, der sie verursacht, nicht herausgenommen werden soll“ umfasst bereits fast 300 Seiten und scheint einer Herzensangelegenheit gewidmet zu sein. Unermüdlich erläutert Serre seine Meinung zu dem, wie er sagt „Vorurteil“, dass bei vorhandenen Entzündungen („Flüsse und Entzündungen“) der dafür verantwortliche Zahn nicht entfernt werden darf. Er vertritt die Meinung, dass zur Genesung jeder Krankheit die Ursache derselben beseitigt werden muss (Zahnentfernung). Mit dieser Therapieempfehlung verlässt der Praktiker Serre die Ebene der zeitgenössischen wissenschaftlichen Sicht. Diese spiegelte sicherlich die Erfahrung wider, dass chirurgische Interventionen im entzündlichen Stadium zur Ausbildung von ernsteren und – im Zeitalter fehlender antibiotischer Therapiemöglichkeiten – schlecht beherrschbaren Entzündungen (wie Osteomyelitis) führen können.
Doch verweist er in seinen Schriften auch auf Umstände, unter denen eine Zahnentfernung ungünstig ist. Scharf kritisiert Serre jene Ärzte, die, motiviert durch bessere Verdienstmöglichkeiten, nicht erhaltungsfähige Zähne zunächst noch mit Brennbehandlungen und Metallfüllungen versorgen, bevor sie dann doch wegen eingetretener Schwellungen entfernt werden müssen. Das in sechs „Hauptstücke“ unterteilte Buch, enthält weiterhin Hinweise zur Ursache und Entstehung von Entzündungen – auch denen der Kieferhöhle – und Therapieempfehlungen.
Unglückliche Ehe
Am 1. Mai 1789 heiratet Serre Elisabeth Sartelli. Es deutet einiges darauf hin, dass diese Ehe, im Übrigen kinderlos, nicht glücklich verlief. [Fricke-Patzak, 1968] Serre zog im Jahr 1800 nach Berlin. Ein Jahr spä-ter verstarb Elisabeth Sartelli, die in Wien zurückgeblieben war, an der „Lungenschwindsucht“.
Die Reiselust war zur damaligen Zeit für Zahnbehandler nicht ungewöhnlich, noch nicht allzu lange war es her, dass sie nach ihrer Lehrzeit wie Handwerker auf eine mehrjährige Wanderschaft gehen mussten, bevor sie ihre Abschlussprüfung vor der Innung und dem Amtsarzt (Physicus) ablegen konnten. [Wiegel, 1957]
Nach dreijähriger, zahnärztlicher Tätigkeit in Berlin meldete sich Serre erneut als Lehrer zu Wort und veröffentlichte sein bekanntestes und wichtigstes Buch. Die „Praktische Darstellung aller Operationen der Zahnarzneikunst“ ist ein mit 32 Kupferstichen opulent ausgestattetes Werk. Ihm sind drei überaus positive Rezensionen vorangestellt. Serre widmete es dem russischen Zaren Alexander I.
In Erwartung eines großen Erfolgs wurde bereits ein nächstes Buch über „die Verfertigung künstlicher Zähne“ angekündigt, das aber nicht erschienen ist. Ein weiteres scheinbar nur angekündigtes Buch mit dem Titel „Tägliche Vorsichtsmaßregeln, die Zähne und das Zahnfleisch rein und gesund zu halten“, ist in einigen Bibliografien verzeichnet und soll demnach 1812 in Berlin erschienen sein. Allerdings konnten weder andere Biografen [Athanassoff, 1925; Fricke-Patzak, 1968] noch der Autor diesen Text nachweisen. In einer Anzeige im Intelligenzblatt der Stadt Wien am 5. Januar 1813 bezeichnet Serre selbst die „Zahnarzneikunst“ als sein letztes Werk, so dass davon ausgegangen werden kann, dass kein weiteres Buch aus Serres Feder erschienen ist. Die „Praktische Darstellung aller Operationen der Zahnarzneikunst“ umfasst mehr als 570 Seiten und handelt – bis auf die Zahnersatzkunde – alle relevanten Gebiete ab. In der als Vorbericht bezeichneten Einleitung findet sich der – für ein Lehrbuch aus heutiger Sicht deplatzierte – folgende Text: „Ich zweifle übrigens, dass der größte Theil meiner Kollegen mit meiner Arbeit zufrieden seyn werde; außer wenn sie Verstand haben, welches ich aber nicht glauben kann, da sie vorsätzlich bemüht gewesen sind, mir zu schaden, wiewohl sie eben dadurch meinen Ruf vermehrt haben. Man sucht sehr richtig das Talent nur da, wo der Neid nicht fern ist; auch ist es besser, Neider zu haben, als Mitleider“. Diese „üble Pole misierung“ [Hoffmann-Axthelm, 1985] trübt den Blick auf den im ersten Kapitel ein wahres Feuerwerk seines Wissens (bezüglich der Historie seines Fachgebiets) abschießenden Autor. So lässt sich Geist-Jacobi zu folgender Beurteilung hinreißen: „Es ist nicht leicht, eine gerechte Kritik dieses nicht unbedeutenden Mannes zu entwerfen, denn wir finden in ihm eine sonderbare Zusammenstellung von gründlicher, wissenschaftlicher Bildung und einen ungewöhnlichen Forschungstrieb, gepaart mit einem Selbstbewusstsein und einer Selbsteinschätzung welche nahe an Scharlatanismus streifen und sich nur durch eine allgemeine Anfeindung erklären lassen.“ Sicherlich basierte Serres ausgeprägtes Selbstbewusstsein auf seiner, für die damalige Zeit immer noch als außergewöhnlich fundiert zu bezeichnende Ausbildung – verglichen mit vielen, die sich als Zahnbehandler bezeichneten. Zahnärzte wie Serre, mit breitem Wissen in allen Teilen der Zahnheilkunde, die zudem eine Studium- adäquate Ausbildung genossen hatten, waren auch noch achtzig Jahre später nicht die Regel. So bemerkt Julius Scheff, Dozent an der Wiener Universität und Herausgeber eines der ersten mehrbändigen Werke über die Zahnheilkunde, 1891: „In abgelegenen Orten oder dort, wo Aerzte wegen unzureichenden Auskommens nicht ansässig sind, befindet sich die Zahnheilkunde und namentlich das Ausziehen der Zähne in den Händen des Dorfbaders oder irgend eines Bauern [...] welche das Zahnreissen als lucrative Nebenbeschäftigung zum Unheil der Hilfesuchenden betreiben.“ [Scheff, 1891-93] Vielleicht würde man heute Serres „Bemerkungen“ zur Konkurrenz eher als berufspolitisches Engagement bezeichnen, denn als Diffamierung.
Gezielte Eigen-PR
Es macht den Anschein, dass er mit dem Verfassen seiner „Zahnarzneikunst“ die Weitergabe von Wissen, Ausdruck seiner berufspolitischen Einstellung, Werbung für seine Person sowie durch die Widmung an den russischen Zaren einen ganzen Korb von Zielen verfolgte. Dies scheint ihm auch weitestgehend gelungen zu sein. Bereits im Dezember 1808, vier Jahre nach Erscheinen seines letzten Buches, kündigt Serre in Frankfurt seine Dienste per Anzeige im Intelligenzblatt an. Neben den bereits bekannten Titeln führt er nun auch den der kaiserlich medizinisch chirurgischen Akademie zu Sankt Petersburg. Er scheint auf der Durchreise gewesen zu sein, von Kassel kommend, wo er den König von Westfalen behandelt hatte [Wiegel, 1957]. Ein Mann im besten Alter, auf dem Gipfel seiner Karriere. Noch ganz in der Tradition der Aufklärung handelnd, hatte er sich bemüht, bestehende Dogmen zu überprüfen und wenn er sie für falsch befunden hatte, auch zu bekämpfen. Gleichzeitig war er bestrebt, sich einen bleibenden Platz in der zahnmedizinischen Geschichte zu sichern. An dieser Stelle sei die Frage nach dem Nachhall Serres für die folgenden Generationen erlaubt. Sein Lehrbuch sollte eine Lücke schließen. „Da ich vielfältig hörte, dass es in Deutschland gänzlich an einem solchen Werke fehle, und mehrere berühmte Professoren mich zur Unternehmung desselben aufmunterten“ heißt es in der Vorrede zur „Zahnarzneikunst“. Sicher ist, dass das Buch positiv aufgenommen wurde, denn bereits im Jahr nach der Erstausgabe erschien eine weitere und noch 50 Jahre später bemerkte Joseph Linderer Serres Buch „habe mit vollkommendsten Rechte zu jener Zeit große Epoche gemacht und der Praxis und Wissenschaft wesentlich genützt“. Johann Nepomuk Rust, Professor der Chirurgie und der Augenheilkunde unter anderem an der Charité, schreibt in seinem viel beachteten „Handbuch der Chirurgie“ 1834: „Serre [...] praktischer Zahnarzt zuerst in Wien, dann Hofzahnarzt in Berlin [...] machte sich auch durch folgende Schriften bekannt, welche zu den besseren über Zahnheilkunde gehören“.
Erfinder von Instrumenten
Nachhaltig nicht erfolgreich war indessen Serres Beitrag als Entwickler von Instrumenten. So beschreibt Scheff die von Serre entwickelte „pyramidenförmige Schraube“ zur Entfernung tief liegender Wurzeln genau und erwähnt, dass sie noch vielfach auf dem Lande in Gebrauch sei, lehnt aber deren Gebrauch als historisch überholt ab. Serre hatte mit der Schraube ein Instrument schaffen wollen, das die notwendige Zeit, um eine Wurzel zu entfernen, verkürzen sollte, um „Schmerzen abzukürzen, die die Operation an sich verursacht“. Nach Entwicklung der Lokalanästhesie 1884 stand nicht mehr alleine die Schnelligkeit der Zahnentfernung im Vordergrund, sondern auch ein möglichst schmerzarmes Vorgehen. Im Zuge dieser veränderten Vorgehensweise verloren nicht nur die Serresche Schraube, sondern auch der Pelikan, der Schlüssel und der Überwurf ihre praktische Bedeutung.
Lebensabend in Berlin
Serre starb am 3. Juli 1830 im Alter von 71 Jahren in Berlin nach einem engagierten, langen Berufsleben. Die Zahnheilkunde stand am Anfang revolutionärer Entwicklungen. Die Erforschung der Kariesentstehung durch Linderer und andere ab den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts, die Einführung der Narkose 1842, der Lokalanästhesie 1896 und der Röntgentechnik 1896 sind nur einige Beispiele. Im Hinblick darauf hätte Serre sicherlich gerne weitere 71 Jahre miterlebt.
Dr. Martin J. C. Winter
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