Besser eins als keins

Das mittige Einzel-Implantat im zahnlosen Unterkiefer älterer Patienten

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Der folgende Beitrag zeigt den Einsatz eines einzelnen Implantats im Unterkiefer mit Versorgung durch ein Kugelkopfattachment zur Stabilisierung der vorhandenen Totalprothese am Beispiel einer 86-jährigen zahnlosen Patientin. Diese kostengünstige Vorgehensweise hat sich sich im dargestellten Fall bisher über mehr als drei Jahre erfolgreich bewährt.

Trotz aller Erfolge in der Prävention von Zahnerkrankungen und Zahnverlusten bei Jugendlichen und Erwachsenen ist immer noch ein hoher Anteil der 65- bis 74-Jährigen in Deutschland in einem oder beiden Kiefern zahnlos [Micheelis & Schiffner, 2006]. So waren im Jahr 2005 noch 30,5 Prozent der Senioren mit Totalprothesen in einem Kiefer und 22,6 Prozent mit Totalprothesen in beiden Kiefern versorgt. Vor allem im zahnlosen Unterkiefer sind Halt und Funktion von Totalprothesen häufig unbefriedigend und können die Lebensqualität der Betroffenen und deren soziale Interaktion mit anderen Menschen erheblich beeinträchtigen [Fiske et al., 1998].

International gilt heute eine auf zwei interforaminären Implantaten verankerte abnehmbare Deckprothese als Standardtherapie des zahnlosen Unterkiefers [Feine et al., 2002]. Da diese Standardtherapie jedoch nicht im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland bezahlt wird, schließt der finanzielle Aufwand viele Patienten von dieser Therapieform aus. So waren trotz der hohen Zahnlosigkeit der Senioren im Jahr 2005 in Deutschland nur 2,6 Prozent mit Implantaten als Therapiemittel versorgt [Micheelis & Schiffner, 2006].

Um Kosten und Aufwand der Implantation im zahnlosen Kiefer von Senioren zu verringern, wurde die Verankerung einer Totalprothese über ein einzelnes zentrales Implantat in der Unterkiefermitte seit Ende der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts in mehrere Studien evaluiert [Cordioli et al., 1997; Krennmair & Ulm, 2001; Liddelow & Henry, 2007; Walton et al., 2009; Wolf et al., 2009a].

Es wurde nachgewiesen, dass ein einzelnes Unterkieferimplantat in der Lage ist, eine Deckprothese mittels Kugelkopfmatrize zu verankern. Die Studien zeigten zudem, dass sich diese Therapieform über einen Zeitraum von bis zu fünf Jahren klinisch gut bewährt. So traten in den genannten Studien weder Implantatverluste noch deren Funktion beeinträchtigende Probleme auf. Eigene Pilot-Untersuchungen unterstützen diese Erkenntnisse und weisen nach, dass schon ein zentral gesetztes Unterkieferimplantat zu einer Verbesserung der mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität und der objektiven Kaufunktion führt [Wolfart et al., 2007]. Trotz dieser positiven Ergebnisse scheint es so, dass in Deutschland diese Therapieoption in der Zahnärzteschaft noch weitgehend unbekannt ist und im zahnlosen Unterkiefer auf eine Implantation verzichtet wird, wenn der Patient sich nicht wenigstens zwei Implantate leisten kann. Aufgrund der wissenschaftlichen Datenlage stellen zwar zwei Implantate weiterhin die minimale Standardversorgung des zahnlosen Unterkiefers dar, nach Ansicht der Autoren genügt aber die verfügbare wissenschaftliche Evidenz, um bei nicht ausreichenden finanziellen Mitteln den zahnlosen Unterkiefer eines älteren Patienten mit einem einzigen mittig gesetzten Unterkieferimplantat zu versorgen, getreu nach der Devise „besser eins als keins“ [Kern, 2008].

In diesem Beitrag soll anhand des Beispiels einer 86-jährigen zahnlosen Patientin demonstriert werden, dass der kostengünstige Einsatz eines einzelnen Implantats im Unterkiefer mit Versorgung durch ein Kugelkopfattachment zur Stabilisierung der vorhandenen Totalprothese beiträgt und sich im dargestellten Fall bisher über vier Jahre gut bewährt hat.

Klinisches Vorgehen

Die 86-jährige zahnlose Patientin mit suffizienten Totalprothesen in Ober- und Unterkiefer klagte über einen mangelhaften Halt der Unterkieferprothese in Funktion (Abbildungen 1 und 2). Anamnestisch lagen keine Kontraindikationen für eine Implantatinsertion vor. Zwei oder mehr Implantate konnte sich die gesetzlich krankenversicherte und von Zuzahlung befreite Rentnerin nicht leisten, so dass sie sich nach einer entsprechenden Aufklärung für die Therapie mit nur einem Implantat entschloss. Für die Röntgenmesssaufnahme wurde in die Unterkieferprothese von basal mittig im anterioren Bereich des Unterkieferalveolarfortsatzes eine Mulde geschliffen und eine Röntgenmesskugel mit einem Durchmesser von 4 mm mit Wachs (Flexaponal, Dentaurum, Ispringen) provisorisch eingebracht (Abbildung 3). Nach Anfertigung der Panoramaschichtaufnahme wurde die Kugel entfernt und die vorhandene Mulde mit Provisorienkunststoff (Luxatemp, DMG) verschlossen.

Nach der präimplantologischen Diagnostik erfolgte die Implantation eines schraubenförmigen Implantats (Camlog Screw Line, Camlog Biotechnologies, Wimsheim) mit einer Länge von 13 mm und einem Durchmesser von 3,8 mm zentral im anterioren Bereich des Unterkiefers (Abbildung 4). Aufgrund der einfachen klinischen Situation konnte auf die Verwendung einer zusätzlich Kosten verursachenden Bohrschablone verzichtet werden. Das Implantat wies eine sehr gute Primärstabilität auf, und seine Schraubenwindungen waren allseits von Knochen bedeckt.

Nach Entfernen der Einbringhilfe und Applikation von Chlorhexidindigluconat-Gel (Chlorhexamed 1 Prozent Gel, GlaxoSmith-Kline Consumer Health, München) in den Implantathohlraum wurde ein 1,5 mm hoher Gingivaformer in das Implantat geschraubt. Aufgrund der guten Primärstabilität konnte das Implantat transgingival einheilen. Der Nahtverschluss erfolgte mit Einzelknopfnähten (Supramid, DS 13, 5.0, Resorba Wundversorgung, Nürnberg) (Abbildung 5). Um ungleichmäßige Druckbelastungen auf dem Implantat zu vermeiden, wurde die Prothese im Wundgebiet von basal großzügig ausgeschliffen und mit einem weichbleibenden Unterfütterungsmaterial (Softliner, GC, Tokio, Japan) unterfüttert. Dieses Vorgehen ersparte der betagten Patientin eine Freilegungsoperation und verbesserte den Halt der vorhandenen Totalprothese schon am Tag der Implantation. Hochzufrieden verließ die Patientin den Behandlungsraum.

Abschließend wurde eine Panoramaschichtröntgenaufnahme zur Kontrolle der Implantatposition durchgeführt (Abbildung 6). Nach acht Tagen erfolgten die Nahtentfernung und die vorsichtige Reinigung des Gingivaformers mit in einer 0,2-prozentigen Chlorhexidindigluconat-Lösung getränkten Wattepellets. Es zeigten sich reizlose Schleimhautverhältnisse. Bezüglich der Mundhygiene wurde die Patientin in den Gebrauch einer Einbüschelbürste für den Bereich des Implantats unterwiesen.

Drei Monate nach der Implantatinsertion wurde die Patientin einbestellt, um die vorhandene Unterkiefertotalprothese mittels Kugelkopfmatrize auf dem nun osseointegrierten Implantat zu verankern (Abbildung 7). Der Gingivaformer wurde abgeschraubt, der Implantathohlraum mit 0,2-prozentiger Chlorhexidindigluconat-Lösung gespült und dann mit Chlorhexidindigluconat-Gel (Chlorhexamed 1 Prozent Gel) aufgefüllt. Das Kugelkopfabutment (Gingivahöhe 1,5mm, Camlog) wurde mit einem definierten Drehmoment von 30 Ncm mit einem manuellen Drehmomentschlüssel (Camlog) angezogen (Abbildung 8). Das Periotest-Gerät (Sirona, Bensheim) zeigte einen Periotest-Wert von minus 5 an.

Eine schraubaktivierbare Matrize mit ovalem Retentionsdeckel (Dalbo-Plus elliptic, Cendres & Métaux SA) wurde auf den Kugelkopf gesetzt und achsengerecht ausgerichtet (Abbildung 9). Die Prothese wurde im anterioren Bereich ausgeschliffen (Abbildung 10) und der Platzbedarf für die Matrize mit einer Fließsilikonprobe überprüft. Um einen guten Verbund zwischen Matrize und Prothesenkunststoff zu gewährleisten, wurde die Matrize mittels Rocatec-Verfahren (3M Espe, Seefeld) silikatisiert und silanisiert (Abbildung 11) und die Prothese im Bereich der einzupolymerisierenden Matrize mit 50 µm Aluminiumoxidpulver bei 2 bar abgestrahlt und mit einem Kunststoffprimer (Glaze & Bond, DMG, Hamburg) konditioniert. Danach wurde die Matrize mit einer kleinen Menge eines Provisorienkunststoffs (Luxatemp, DMG, Hamburg) in die Prothese einpolymerisiert (Abbildungen 12, 13).

Abschließend wurde der Sitz der Prothese mit einem Fließsilikon überprüft (Fit checker, GC, Tokio, Japan) und die Patientin in die Handhabung und Pflege der Unterkieferprothese und des Kugelkopfes eingewiesen. Die äußerst zufriedene Patientin (Abbildung 14) wurde in das Nachsorgeprogramm der Klinik aufgenommen.

Wegen nachlassendem Halt des Verankerungselements musste der schraubaktivierbare Matrizeneinsatz erstaunlicherweise schon innerhalb des ersten Jahres gegen den etwas engeren Matrizeneinsatz Tuning Soft (Cendres & Métaux SA) ausgetauscht werden. In den nächsten drei Jahren lehnte die Patientin die Teilnahme an dem Nachsorgeprogramm ab, da es ihr nach Abgabe ihres eigenen Autos (!) nun zu beschwerlich sei, in die Klinik zu kommen und sie keine Probleme habe. Der Erstautor stattete der nunmehr 90-jährigen Patientin daher vor wenigen Wochen einen Hausbesuch ab und überzeugte sich nach der nun über dreijährigen Gebrauchsperiode von der Funktionsfähigkeit der Prothese und den periimplantären Verhältnissen, die klinisch unauffällig waren (Abbildungen 15 bis 20). Die Haltewirkung der Matrize war immer noch ausreichend, so dass auf eine Aktivierung der Matrize oder einen erneuten Austausch des Retentionseinsatzes verzichtet werden konnte.

Diskussion

Die gute Primärstabilität des Implantats erlaubte eine transgingivale offene Einheilung des Implantats. Der Patientin blieb so ein zweiter operativer Eingriff zur Freilegung erspart und der Prothesenhalt wurde schon am Tag der Implantation verbessert. Damit die Wundheilung ohne Druckbelastung durch die Prothese erfolgen konnte, wurde die Prothese im Bereich des Implantats großzügig ausgeschliffen und mit einem provisorischen Unterfütterungsmaterial unterfüttert, das den aufgeschraubten Gingivaformer umfasste und so direkt den Halt der Prothese und den Patientenkomfort verbesserte.

Zur Verankerung von vorhandenen Totalprothesen auf Implantaten kommen unterschiedliche Halteelemente in Frage [Boeckler et al., 2009]. Besonders geeignet erscheinen hierzu Druckknopfverankerungen, die in den unterschiedlichsten Ausführungen angeboten werden, da sich diese relativ einfach in eine vorhandene Prothese ein arbeiten lassen. In einer eigenen Laborstudie wurden hierzu die Abzugskräfte sowie das Verschleißverhalten von unterschiedlichen konfektionierten Druckknopfverankerungen unter Langzeitbeanspruchung untersucht [Wolf et al., 2009b]. Nach 50 000 Fügeund Lösezyklen zeigten die Verankerungselemente deutlich unterschiedliche Abnutzungserscheinungen. Das Dalbo-Plus-Matrizensystem erwies sich dabei verschleißfester als die übrigen getesteten Verankerungselemente, weswegen dieses im vorliegenden Fall zum Einsatz kam.

Um Kosten und Aufwand zu minimieren, wurde in Absprache mit der Patientin auf die Einarbeitung eines Verstärkungsgerüsts verzichtet, das die Autoren bei neu angefertigten Arbeiten schon aus forensischen Gründen immer anwenden. Der elliptische Matrizendeckel und das Matrizengehäuse wurden jedoch silikatisiert und silanisiert, um einen guten Verbund zum Prothesenkunststoff und damit eine größtmögliche Stabilität zu erzielen. Die Patientin war jedoch darüber informiert, dass ein möglicherweise auftretender Prothesenbruch im Bereich der Matrize nicht ausgeschlossen werden könne und daher kein Gewährleistungsfall sei, sondern dass dieser dann lediglich ein Indiz dafür sei, dass doch ein Gerüst benötigt würde, was dann – unter Berechnung der Kosten – nachträglich eingearbeitet werden würde. Wie der vorgestellte Fall zeigt, trat innerhalb der ersten 3,5 Jahre kein Prothesenbruch auf, so dass die Kosten für ein Gerüst bisher zu Recht gespart wurden.

Die initial vorhandene an sich suffiziente Prothese konnte weiter verwendet werden. Der Verzicht auf eine Neuanfertigung der Prothese hatte für die 86-jährige Patientin den zusätzlichen Vorteil, dass sich nicht an eine neue Prothese gewöhnen musste. Dieser Aspekt scheint insbesondere bei älteren Patienten wichtig, da eine Adaptation an einen neuen Zahnersatz häufig schwierig sein kann [Koper, 1967; Koper, 1988]. Weiterhin liegt ein wichtiger gesundheitsökonomischer Aspekt vor, da die Kosten für Neuanfertigungen von Prothesen eingespart werden könnten. Der neue therapeutische Ansatz könnte aufgrund der sich abzeichnenden soziodemografischen Entwicklung sehr vielen älteren Menschen von Nutzen sein.

Prospektive, aber nicht randomisierte Studien mit einem Implantat im zahnlosen Kiefer zeigen eine gute klinische Bewährung über bis zu fünf Jahre [Cordioli et al., 1997; Krennmair & Ulm, 2001; Liddelow & Henry, 2007; Wolf et al., 2009a]. Eine erste randomisierte kanadische Studie zum Vergleich von einem versus zwei Implantaten im zahnlosen Unterkiefer zeigte nach einem Jahr Tragezeit der Deckprothesen keine Unterschiede zwischen den beiden Patientengruppen [Walton et al., 2009]. Längerfristige Ergebnisse auf dem hohen Evidenzniveau randomisierter Studien stehen aber noch aus. Damit liegen zu dem vorgestellten Therapiekonzept leider nur relativ wenige wissenschaftliche Daten vor, so dass das vorgestellte Konzept noch nicht allgemein empfohlen werden kann [Alsabeeha et al., 2009]. Nach Ansicht der Autoren sollte es daher bislang auf die Patientenfälle beschränkt bleiben, in denen aus finanziellen Gründen nicht zwei oder mehr Implantate gesetzt werden können.

Wie schwierig es (in Deutschland) sein kann, zusätzliche wissenschaftliche Evidenz zu diesem Therapiekonzept zu schaffen, mussten die Autoren in den vergangenen Jahren erfahren, als sie versuchten, eine finanzielle Förderung hierfür zu erhalten. Ein entsprechender multizentrischer Studienantrag, der bei der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) im Jahre 2008 eingereicht wurde, wurde schon in der ersten Antragsphase von den Gutachtern rundweg abgelehnt, da das Konzept nach Gutachtermeinung zu kritisch sei beziehungsweise eine solche Studie zu industrienah sei und daher von der Industrie und nicht von der DFG gefördert werden sollte.

Die Implantathersteller hingegen haben in der Regel schon aus ökonomischen Gründen kein Interesse daran, derartige Studien zu finanzieren, die im Ergebnis dazu führen könnten, dass in Zukunft weniger Implantate pro zahnlosen Unterkiefer verwendet würden. Auch ein Teil der implantologisch aktiven Kollegenschaft in Praxis und Hochschule steht einem solchen minimalistischen Therapiekonzept für Senioren kritisch gegenüber. Aufgrund der bisher raren Datenlage ist diese Einstellung durchaus gerechtfertigt und nachvollziehbar. Diese Einstellung sollte aber nicht dazu führen, dass die Schaffung besserer Evidenz durch ablehnende Gutachten verhindert wird. Bis sich hier etwas ändert, müssen wir in Deutschland die längerfristigen Ergebnisse der kanadischen Studie [Walton et al., 2009] abwarten.

Schlussfolgerungen

Die Therapie mit einem zentralen Implantat im anterioren Unterkiefer älterer Patienten zur Verbesserung der Retention von Totalprothesen zeigt vielversprechende Ergebnisse und sollte dann erwogen werden, wenn aus finanziellen oder sonstigen Gründen zwei oder mehr Implantate nicht zur Anwendung kommen können.

Prof. Dr. Matthias KernOA Dr. Sönke HarderKlinik für Zahnärztliche Prothetik, Propädeutikund WerkstoffkundeChristian-Albrechts-Universität zu KielArnold-Heller-Str. 16, 24105 Kielmkern@proth.uni-kiel.de

Prof. Dr. Stefan WolfartUniversitätsklinikum AachenKlinik für Zahnärztliche ProthetikPauwelsstr. 30, 52074 Aachen

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