Rückenschmerzen bei Zahnärzten

Das Kreuz mit dem Kreuz

Rückenschmerzen gelten als Volksleiden. Mehr als 80 Prozent der Deutschen kennen die Beschwerden aus eigener Erfahrung. Und sie sind heute der zweithäufigste Grund für Arztbesuche. Auch viele Zahnärzte leiden unter Rückenbeschwerden. Grund ist eine falsche Haltung. Und eventuell eine ergonomisch nicht ganz korrekte Praxiseinrichtung.

Manche Biologen geben den entfernten Vorfahren die Schuld, die den aufrechten Gang angenommen haben und damit die statischen Trumpfkarten der Tetra- poden verspielten. Prof. Dr. Reinhard Putz vom Anatomischen Institut der Universität München ist anderer Meinung: „Die Wirbelsäule ist keinesfalls ungeeignet für den aufrechten Gang, sondern ein höchst angepasstes Gebilde, eine meisterhafte Entwicklung der Evolution zwischen den Anforderungen an höchstmögliche Stabilität einerseits und maximale Mobilität andererseits.“

Präzisionsarbeit in Fehlhaltung

Wie dem auch sei, der Zahnarzt profitiert eindeutig von der Entwicklungsgeschichte des Menschen, erlaubt ihm die Bipedie doch den Einsatz der Hände zur Werkzeug-benutzung. Aber auch das hat seinen Preis: Da die Mundhöhle des Patienten über Jahrmillionen klein geblieben ist und zugleich vom Therapeuten konzentrierte Präzisionsarbeit erwartet wird, zahlt er für diese Leistungen mit Fehlhaltungen, unphysio- logischen Belastungen und schließlich mit den Folgen: Die orthopädische Beanspruchung des Stütz- und Bewegungsapparats durch die Behandlungstätigkeit bereitet Schmerzen!

Die Erfahrungen als Sportwissenschaftler, Leiter der Rückenschule Hannover und somit Kenner des zahnärztlichen Standes besagen: Hauptursache der Schulter-, Nacken- und Lenden-Beschwerden ist der während der Arbeit am Patienten vor- wiegend nach vorn gebeugte und häufig statisch verdrehte Oberkörper. Darüber hinaus müssen über einen langen Zeitraum die Arme monoton nach vorn gehalten und der Kopf zur Seite geneigt werden. Die Schmerzsignale sind ein Hinweis, dass körperliche Funktionen beeinträchtigt sind, was auf Dauer zu einem Schaden führen kann. Ein Großteil der Schmerzen äußert

sich dabei im Bereich der Rückenmuskulatur.

Ursache der schmerz- haften Muskelverspannungen sind meistens Nervenirritationen in den Wirbelgelenken als Folge einer Fehlbelastung.

Prävalenz

44 Prozent der Zahnärztinnen und 35 Prozent ihrer männlichen Kollegen gaben bei einer Erhebung des Instituts der Deutschen Zahnärzte [IDZ, 2001] an, im Moment der Befragung unter Nacken- oder Rückenschmerzen zu leiden. Ältere Untersuchungen [Rohmert, 1986] sprechen davon, dass bald drei Viertel der Zahnmediziner unter mehr oder weniger starken Schmerzen arbeiten. Epidemiologisch betrachtet sind Frauen in diesem Berufsfeld also häufiger betroffen als Männer. Erwartungsgemäß nehmen die Rückenschmerzen mit der Dauer der Tätigkeit zu. Beträgt die Punktprävalenz bei einer Tätigkeit von maximal fünf Jahren in einer niedergelassenen Praxis etwa 30 Prozent, erhöht sie sich auf rund 43 Prozent nach 15 Berufsjahren [IDZ, 2001]. Haltungsschäden und der Gelenkverschleiß sind dann die Hauptursachen für dorsale Beschwerden.

Die richtige Haltung einnehmen

Was ist zu tun? Auch hier gilt Aktion vor Reaktion, also Präventivmaßnahmen vor Schadensregulierungen. Um die Wirbel- säule in Form zu halten, braucht man eine kräftige Rumpfmuskulatur als wesentlichen Faktor für ein Berufsleben weitestgehend ohne Rückenschmerzen. Experten empfehlen gesunden Sport und rückenfreundliche Bewegungsmuster im Alltag. Ohne ausgleichende körperliche Aktivität, also ohne Bewegungsreize, verkümmern die Bauteile der Wirbelsäule wie Wirbelkörper, stabilisierende Bänder, Muskeln, Bandscheiben und Gelenke.

Wichtig ist natürlich, der physiologischen Rolle der Wirbelsäule durch die Vermeidung von dauerhafter Zwangshaltung entgegenzukommen. So sollten Verdrehungen und Verneigungen im Oberkörper möglichst reduziert werden, ebenso wie ein Hochziehen der Schulter oder das Vorschieben des Kopfes. Nicht immer wird man dies verhindern können, desto wichtiger werden dann aber regelmäßige Ausgleichsübungen.

Die Einheit optimieren

Sind gesunde, körpergerechte Verhaltensweisen quasi die Software für ein rücken- gerechtes Programm, so stellen die richtigen Arbeitsmittel die ebenso wichtige Hardware dar. Ergonomie ist das Zauberwort! Es bedeutet schlicht, dass die Dinge uns entgegenkommen sollen und nicht wir ihnen. Die Strategie lautet, sich seinen Arbeits- bereich durch große und kleine Verände-rungen immer anwenderfreundlicher zu machen. Eine nach dem neuesten      Stand körpergerechte Behandlungseinheit für Arzt und Patienten kann oft eine signifikante Verbesserung bringen. Rückenfreundliche Vorteile bieten Systeme mit einem weiten Bereich der Horizontaleinstellung. Die Tiefstposition ermöglicht auch für kleine Zahnärzte noch eine korrekte Sitzhaltung am großen sitzenden Patienten bei der Unterkiefer- behandlung. Die Höchstposition gestattet auch Zahnärzten mit einer Körpergröße von mehr als 1,80 Meter die stehende Arbeit am liegenden Patienten.

Das Behandlungskonzept überdenken

Erheblich mehr Beweglichkeit und oft eine Befreiung aus der Zwangshaltung gestatten moderne Schwebestuhlkonzepte. So kann zum Beispiel der Fußanlasser unter der Einheit KaVo Estetica E80 platziert werden. Generell unterstützt eine größere Bein- freiheit die anatomisch-gesunde Körper- haltung für Zahnarzt und Assistenz. Dabei wird die Zugänglichkeit zum Patienten verbessert.

Neben den Schwebestuhlkonzepten, die eine ergonomische Arbeitshaltung erleichtern, sind es auch spezielle Behandlungskonzepte, die rückenschonendes Arbeiten ermöglichen sollen. Hier lässt sich beispielsweise das Behandlungskonzept nach Dr. Daryl Beach anführen. Der Zahnarzt arbeitet nicht in der Neun-Uhr-Position, sondern hinter dem Patienten sitzend in der Zwölf-Uhr-Position. Die Trays der Behandlungs-einheiten für Assistenz und Behandler müssen hierfür entsprechend angeordnet sein (wie bei den EMCIA-Einheiten, Morita). Andere Anbieter verbessern die Arbeits- ergonomie durch verstellbare Bauteile oder durch die Aufhängung der Instrumente (zum Beispiel Ultradent).

Kleinere Schritte zur Anpassung  des Arbeits-  umfelds an die  Bedürfnisse des  Praktikers, wie  die optimale  Verfügbarkeit   des Instrumentariums  oder sehr gute Lichtverhältnisse   für jede Position, obliegen der indi- viduellen Kreativität und Konsequenz. Ein Fahrlehrer achtet darauf, dass der Schüler den Außenspiegel einstellt und nicht etwa den Kopf zum Spiegel neigt. Oder wie ein Tai-Chi-Meister sagte, er habe alle Prinzipien dieser traditionellen Bewegungslehre bei einem Mann beobachtet, der als Einzelkämpfer in einer Imbissbude in New York einem erheblichen Kundenansturm trotzte.

Allein ist der Zahnarzt allerdings nicht mit seinem Kreuz. Es gibt in Deutschland zwei große Rückenschulverbände, den Bundesverband der deutschen Rückenschulen e. V. und das Forum Gesunder Rücken – besser leben e. V. Diese Expertengremien bieten entsprechende Kurse und Publikationen an. Das Gütesiegel „Geprüft empfohlen“, das die AGR (Aktion Gesunder Rücken e. V.) gemeinsam mit den beiden Rückenschulverbänden an rückengerechte Produkte vergibt, kann zur Orientierung beim Kauf einer neuen Behandlungseinheit dienen.

Die Seele reinigen

Längst ist der Wissenschaft allerdings bekannt, dass nicht allein mechanische Faktoren zu Rückenschmerzen führen. Während bei Alf Nachemson, einem der wichtigsten Forscher im Bereich der Wirbelsäule, 1975 noch die Bandscheibe als schmerzauslösende Struktur im Vordergrund stand, haben andere Rückenschmerzforscher in den 1990er-Jahren die bio-psycho-soziale Sichtweise in die Orthopädie eingeführt. Sie machten deutlich, dass die Entstehung von Rückenschmerzen viele Ursachen hat und zeigten, dass insbesondere bei langwierigen chronischen Verläufen psychische und soziale Faktoren den Verlauf der Erkrankung stärker be- stimmen und vorhersagen als körperliche Aspekte, wie etwa der Grad der Bandscheibenabnutzung.

Tatsächlich dokumentiert auch die IDZ- Studie, dass bei Zufriedenheit im Beruf der Wert der empfundenen Wirbelsäulen-belastung deutlich niedriger lag als bei Unzufriedenheit. Negativer Stress, Ängste und depressive Stimmungen, allgemein psychische und mentale Aspekte können auch zu den beschriebenen Beschwerden führen. Oft zitiert ist der Satz: „Der Rücken ist der Tummelplatz der Seele.“ Eine Therapie bedeutet hier also im doppelten Sinne, das Gleichgewicht zu finden.

Nun bleibt noch der Blick auf die Lebensweise, speziell auf die Ernährung. Die Empfehlung zum Abbau eines eventuellen Übergewichts überrascht nicht. Dabei gilt, eine Übersäuerung des Körpers zu ver- meiden. Da der Rücken mit seinen Mus-keln, Sehnen, Bändern und Wirbelknochen auf die ausreichende Zufuhr basischer Substanzen angewiesen ist, wirkt sich eine säureüberschüssige Ernährung negativ aus. Prinzipiell ist auf einen ausgewogenen Haushalt an Mikronährstoffen zu achten.

Fazit

Rückenbeschwerden sind multidisziplinär. Ratsam ist einmal mehr der Gang zum Spezialisten. Und das Motto lautet: „vorbeugen statt verbiegen“ – damit Goethe möglichst spät Recht bekommt: „Das Menschenleben ist seltsam eingerichtet: Nach den Jahren der Last hat man die Last der Jahre.“

Ulrich KuhntSportwissenschaftler und Leiter der Rückenschule HannoverForbacher Str. 1430559 Hannoverkuhnt@ulrich-kuhnt.de

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