Wunscherfüllende (Zahn-)Medizin
Seit einiger Zeit kursiert in der Fach- und Laienliteratur zunehmend häufiger der Terminus „Wunscherfüllende Medizin“. Während die herkömmliche Medizin auf Gesunderhaltung, Heilung oder – sofern keine Heilung mehr möglich ist – auf ärztliche Fürsorge beziehungsweise auf palliative Maßnahmen ausgerichtet ist, steht die wunscherfüllende Medizin für Maßnahmen, für die keine derartige Zielsetzung besteht. Eben dieser Bereich der Wunscherfüllung und die hierbei verwendeten Begrifflichkeiten und Besonderheiten stehen in Mittelpunkt des folgenden Beitrags [Groß, 2012].
Was also sind die Charakteristika der „Wunscherfüllenden Medizin“ (engl. „Wish-fulfilling medicine“) und der „Wunscherfüllenden Zahnmedizin“ (engl. „Wish-fulfilling dentistry“)? Beide Termini bezeichnen von Heilpersonen durchgeführte Eingriffe und Maßnahmen, die nicht durch eine medizi-nische Indikation, sondern ausschließlich durch den Wunsch des Patienten motiviert sind. Ziele der wunscherfüllenden (Zahn-) Medizin sind die (ästhetische) Optimierung oder Veränderung von Form und Funktion bestimmter Körperteile oder der bestehenden kognitiven Fähigkeiten beziehungsweise emotionalen Befindlichkeiten von Patienten.
Derartige Maßnahmen werden auch zusammenfassend mit dem Begriff „Enhancement“ (engl. Enhancement = Steigerung, Verbesserung) bezeichnet.
Von „Medical Piercing“ bis „Dental Wellness“
Bekannte Beispiele aus dem Bereich der wunscherfüllenden Medizin sind die kosmetische oder „Schönheits-Chirurgie“ (zum Beispiel Lidoperationen, Fettabsaugung et cetera), aber auch wenig oder nicht invasive Anti-Aging-Maßnahmen wie zum Beispiel die Applikation von Botolinumtoxin, Hyaluronsäure oder „Cosmeceuticals“, das heißt pharmakologisch wirksamen Kosmetika.
Auch das sogenannte „Neuro-Enhancement“ („Hirn-Doping“), mit dem Hirnleistungen zum Beispiel in Prüfungssituationen medikamentös verbessert werden sollen, oder die Verabreichung von Medikamenten zur Senkung des natürlichen Schlafbedarfs oder zur Hebung der Stimmungslage zählen zum Bereich der Wunscherfüllung, sofern die Maßnahmen bei Gesunden erfolgen. Auch in der Zahnheilkunde werden derartige nichttherapeutische Maßnahmen angeboten: Sie firmieren unter den Begriffen „Kosmetische Zahnheilkunde“ beziehungsweise „Cosmetic dentistry“ sowie unter den Schlagwörtern „Dental wellness“ und „Dental SPA“.
Tatsächlich handelt es sich bei der wunscherfüllenden Medizin um einen Wachstumsmarkt. Dies lässt sich auch – und gerade – für den Bereich der Zahnmedizin nachweisen: Charakteristische Beispiele für den Bereich der Cosmetic dentistry sind das systematische Aufhellen der natürlichen Zahnkronen („Dental bleaching“), das Aufbringen von Zahnschmuck auf den Zahn oder das Befestigen von „Zahn-Tattoos“, aber auch das sogenannte „Medical Piercing“, das heißt Piercing-Maßnahmen, die nicht von gewerblich tätigen Piercern, sondern von medizinischen Fachpersonen wie zum Beispiel Zahnärzten vorgenommen werden [Groß, 2011].
Ästhetische Zahnheilkunde ist nicht gleich Kosmetik
Gelegentlich wird für kosmetische Maßnahmen allerdings auch der Begriff „Ästhetische Zahnheilkunde“ in Anspruch genommen, so dass es lohnend scheint, zunächst kurz auf das Verhältnis der Termini Kosmetik und Ästhetik einzugehen. Tatsächlich handelt es sich hierbei nämlich um Bezeichnungen mit durchaus verschiedenen Bedeutungsinhalten: „Ästhetik“ (gr. aisthetiké = Wissenschaft vom sinnlich Wahrnehmbaren, vom sinnfällig Schönen) ist die Lehre von der wahrnehmbaren Schönheit, von Gesetzmäßigkeiten und Harmonie in der Natur, und das Adjektiv „ästhetisch“ steht für sinnfällig schön, geschmackvoll oder ansprechend. Der Begriff „Kosmetik“ (gr. kosméo = schmücken, anordnen) wie auch das Adjektiv „kosmetisch“ (gr. kosmetikós = zum Schmücken gehörig) bezeichnen demgegenüber Maßnahmen, die dem Schmuck des menschlichen Körpers (hier: des Zahn-, Mund und Kieferbereichs) dienen.
Während ästhetische Maßnahmen nicht zwingend der Kosmetik – dem Schmücken des Körpers – zuzurechnen sind, müssen kosmetische Maßnahmen nicht sinnfällig schöne – mithin ästhetische – Maßnahmen sein. So wird man etwa (peri)orale Piercings aus Gold oder Platin (mit und ohne Diamanten) oder bunte, auf Frontzähnen aufgeklebte Steine zweifelsfrei dem Bereich des Körperschmucks und damit dem Bereich der Kosmetik zurechnen können. Ob man sie zugleich als ästhetisch empfindet, liegt dabei im Auge des Betrachters.
Gleiches gilt im Übrigen für das Bleichen der Zähne. Anzumerken ist hierbei, dass es gerade nicht das Ziel von systematischem Dental Bleaching ist, das natürliche Vorbild oder die „Harmonie in der Natur“ nachzubilden:
Wenn das Behandlungsziel zum Beispiel der Wechsel von der natürlichen Zahnfarbe A3,5 auf die Zahnfarbe A1 darstellt, handelt es sich um ein gezieltes Abweichen vom natürlichen Vorbild, also um eine intendierte Normabweichung. Selbiges gilt für Zahn-Tattoos und Zahnschmuck: Ziel der Maßnahme ist auch hier – genau wie bei (peri)oralen Piercings – nicht das Angleichen an die Norm, sondern das Gegenteil: die Normabweichung, die Individualisierung des Aussehens.
Entspannung in der Praxis
Neben Cosmetic dentistry sind, wie erwähnt, auch die Bereiche Dental wellness und Dental SPA dem Markt der Wunscherfüllung zuzurechnen [Zahnärzte-Zentrum, 2011]. Unter Ersterem werden Anwendungen beziehungsweise Serviceleistungen verstanden, die explizit der Entspannung und dem Wohlbefinden des zahnärztlichen Patienten dienen. Kommt bei besagten Wellness-Maßnahmen Wasser zur Anwendung, spricht man von Dental SPA (SPA: lat. sanus per aquam = Gesundheit durch Wasser). Ein Beispiel ist das in manchen Praxen angebotene Aufbringen von aromatischen Feuchttüchern in den Nacken- und Halsbereich mit dem Ziel der Entspannung beziehungsweise der Steigerung des Wohlbefindens.
Allen beschriebenen Maßnahmen ist gemeinsam, dass für sie eindeutig keine medizinische Indikation besteht. Sie sind abzugrenzen gegenüber Behandlungen, die aus medizinischer Sicht zwar nicht unbedingt notwendig sind, für die sich jedoch mit Blick auf die Zahnästhetik zumindest eine (relative) Indikation stellen lässt: Beispiele hierfür bieten Veneers bei zahngesunden, aber fleckigen oder in der Oberflächenstruktur veränderten Frontzähnen, die beim Patienten einen Leidensdruck erzeugen, oder das Aufhellen eines einzelnen nachgedunkelten avitalen Zahns.
Der Zahnarzt zwischen Fremd- und Selbstbild
Kennzeichen dieses neuen Marktes ist neben dem erwähnten Übertreten der Grenzlinie zwischen kurativer und nichtkurativer Tätigkeit eine zunehmende Konkurrenz durch nichtapprobierte Personen. Zu den Anbietern zählen nicht nur Zahnarztpraxen, die auf den „Schönheitsmarkt“ spezialisiert sind [Prettin, 2005], Zahnkosmetik zu ihrem Angebot rechnen und teilweise sehr offensiv mit einer besonderen „Schönheitsphilo- sophie“ werben. Vielmehr findet sich auch eine wachsende Zahl von „Studios“ und „Lounges“, die von Personen ohne zahnärztliche Approbation betrieben werden, die sich häufig als Dentalkosmetiker bezeichnen.
Die Qualifikation der Dental- oder Zahnkosmetiker ist keineswegs einheitlich, der Titel „Zahnkosmetiker/in“ nicht geschützt. So handelt es sich bisweilen um ausgebildete Zahnmedizinische Prophylaxehelfer/innen, aber auch um Personen ohne jede Vorbildung in einem zahnärztlichen Assistenz- beruf. Bezeichnenderweise wirbt der „Interessenverband der Zahnkosmetik e.V.“ auf seiner Homepage mit folgenden Zeilen: „Ein Team aus hoch qualifizierten Dozenten und Coaches ist für Sie bereit, Sie in Theorie und Praxis an verschiedenen Standorten Deutschlands für Ihr eigenes Zahnkosmetikstudio vorzubereiten und zu coachen“ [Zahnkosmetikschule, 2014].
Anbieter von Enhancement-Leistungen treten nicht als Behandler beziehungsweise Heiler auf, sondern als Dienstleister. Die wunscherfüllende Zahnmedizin richtet sich dementsprechend streng genommen auch nicht an einen Patienten (lat. homo patiens = der Leidende), sondern an einen Kunden (Klienten). Motiviert ist dieses neue Angebot offensichtlich durch die Verheißungen wirtschaftlicher Prosperität [Groß, 2009; Hahn, 2010], und im Blickpunkt steht dementsprechend nicht der Krankenversicherte, sondern der Selbstzahler, der unabhängig von (Erstattungs-)Leistungen einer Krankenversicherung agiert [Unschuld, 2009].
Bei der berufsrechtlichen Bewertung des Bereichs Cosmetic dentistry wird verschiedentlich ein weiterer, noch wenig geläufiger Terminus benutzt: der sogenannte „Zahnarztvorbehalt“. Dieser Begriff bezieht sich auf Leistungen, die vom Zahnarzt zu erbringen sind, beziehungsweise auf Hilfsleistungen des nichtzahnärztlichen Personals, die zwingend vom Zahnarzt angeordnet und letztlich auch verantwortet werden müssen. So wird zum Beispiel diskutiert, ob dental- kosmetische Maßnahmen einem derartigen Zahnarztvorbehalt unterliegen. Das Amtsgericht Nürtingen beurteilte diese Frage 2011 in einem spezifischen Fall mit einem deutlichen Ja: Es verurteilte eine 30-jährige Zahnkosmetikerin, die in einem von ihr betriebenen Zahnkosmetik-Studio professionelle Zahnreinigungen mit einem Airflow-Gerät durchgeführt hatte, zu einer Geldstrafe [Veit, 2011]. Der vorsitzende Richter sah es als erwiesen an, dass sich die Betreffende mit diesem Vorgehen strafbar gemacht hatte. Die Betreiberin, die den Beruf einer Zahnmedizinischen Fachangestellten erlernt hatte, sah in der Airflow-Behandlung eine kosmetische Maßnahme, während der zahnärztliche Gutachter zu dem Schluss kam, dass insbesondere die Entscheidung, ob mit dem Airflowgerät zu reinigen sei, jemandem obliege, der sich „mit Zahnheilkunde auskenne“. Nach dieser Interpretation unterliegt die betreffende Maßnahme einem Zahnarztvorbehalt.
Verbotene Werbung
So umstritten die Rechtslage mit Blick auf den Zahnarztvorbehalt bisher ist, so umstritten ist auch der adäquate Umgang mit dem Thema Werbung. Gemäß § 21 Abs. 1 der aktuellen Musterberufsordnung ist „Anpreisende Werbung“ untersagt [Bundeszahnärztekammer, 2010]. Auch dieser Begriff findet sich gehäuft in der zahnärztlichen Fachliteratur: Unter „Anpreisen“ wird gemeinhin „eine gesteigerte Form der Werbung“ verstanden, die zum Beispiel mit marktschreierischen oder reißerischen Mitteln arbeitet. Eine anpreisende Werbung kann auch dann vorliegen, wenn die Informationen für den Patienten inhaltlich nichts aussagen beziehungsweise keinen objektiv nachprüfbaren Inhalt haben. Andererseits können auch Informationen, deren Inhalt (partiell) objektivierbar ist, bei reklamehafter Übertreibung als anpreisend eingeordnet werden.
Die Vertreter liberaler Positionen sehen sich allerdings durch eine 2005 erfolgte Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm bestärkt [Oberlandesgericht Hamm, 2005]. Ausgangspunkt war eine Klage gegen einen Zahnarzt, dem die zuständige Kammer berufswidrige Werbung vorwarf. Der betroffene Zahnarzt hatte vielfach und regelmäßig in verschiedenen Zeitungen und Anzeigenblättern sowie in einem Kinoprogrammheft Anzeigen für seine Praxis geschaltet, in denen er mit dem Schwerpunkt „ästhetische und ganzheitliche Zahnmedizin“ warb. In allen Anzeigen war unter anderem ein leicht geöffneter Frauenmund mit makellosen Zähnen und kräftig roten Lippen zu sehen. Die zuständige Zahnärztekammer sah den Tatbestand der berufswidrigen Werbung erfüllt: Mit der Verwendung eines leicht geöffneten, mit strahlend weißen Zähnen lachenden Mundes als Eyecatcher würden die angebotenen zahnärztlichen Behandlungen ebenso wie gewerbliche Leistungen mit reklamehaften Zügen angepriesen. Es handele sich um ein typisches Reklamemittel aus der Kosmetikwerbung, das dazu eingesetzt werde, die Aufmerksamkeit des Publikums zu erregen und den Blick auf die Werbeanzeige zu lenken. Das OLG Hamm stellte demgegenüber die Zulässigkeit der Werbung fest [Oberlandesgericht Hamm, 2005]. Wie sich das Urteil langfristig auf die Rechtsprechung in ähnlich gelagerten Fällen auswirken wird und welches Werbeverhalten sich unter Zahnärzten künftig durchsetzen wird, muss die Zukunft zeigen.
Eine zusätzliche Problematik ergibt sich aus dem Vorwurf einer „angebotsinduzierten Nachfrage“. Auch dieser Begriff ist vergleichsweise neu. Gemeint ist eine Konstellation, in der Anbieter nicht (vorrangig) auf eine bestehende Nachfrage reagieren, sondern eine solche Nachfrage selbst erst wecken beziehungsweise gezielt durch Werbung induzieren – ein Sachverhalt, der auch als „proaktive Werbung“ bezeichnet wird. Die Werbemaßnahmen sind in der Regel an bestimmten Zielgruppen ausgerichtet und verbunden mit dem Ziel der Erschließung neuer Märkte und der Einwerbung neuer beziehungsweise der Bindung vorhandener Kunden: Hierbei spricht man auch von „Zielgruppen-Marketing“.
Derartige Werbemaßnahmen scheinen finanziell lohnend, können aber auch das Berufsbild verändern. Eine 2010 von Micheelis et al. veröffentlichte repräsentative Zahnärzte-Befragung führte zu ebendieser Einschätzung.
Die Autoren sahen in dem „Bestreben, neue Märkte der Berufsausübung zu erschließen und dadurch nolens volens auch Tendenzen einer ‚Vergewerblichung‘ freizusetzen“, eine „Quelle möglicher Professionsgefährdung“. Die Entwicklung könne „von ‚Innen‘ den Wertekern des professionellen Berufsmodells bedrohen“ und „in der Klientenbeziehung langfristig die Vertrauensbasis“ unterlaufen [Micheelis et al., 2010]. Tatsächlich besteht die Gefahr, dass sich das Berufsbild des Zahnarztes durch den Bereich der Wunscherfüllung nachhaltig verändert. Insofern besteht diesbezüglich innerhalb der Zahnärzteschaft – ganz ähnlich wie in der Ärzteschaft – ein grundsätzlicher Diskussionsbedarf. Klärungsbedürftig ist, wofür ein Zahnarzt in der Öffentlichkeit steht beziehungsweise wofür er künftig stehen möchte, was ihn ausmacht und was gerade nicht („zahnärztliches Fremdbild“). Ein weiteres Augenmerk gilt der Frage, welche Auswirkungen die wunscherfüllende Zahnmedizin mit ihrem heterogenen Anbieterspektrum auf das zahnärztliche Selbstverständnis und die Selbstwahrnehmung haben wird („zahnärztliches Selbstbild“).
Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik GroßInstitut für Geschichte, Theorie und Ethik der MedizinMedizinische Fakultät undUniversitätsklinik der RWTH AachenWendlingweg 252074 Aachen