Der besondere Fall

Dislokation von Wurzelresten

Die Luxation eines unteren Weisheitszahns oder eines seiner Wurzelreste während der operativen Entfernung in eine angrenzende anatomische Loge ist eine seltene, aber potenziell schwerwiegende Komplikation. Im Folgenden wird über einen Fall berichtet, bei dem es zu einer Luxation eines Zahnfragments in die kaudal der Pterygomandibularloge angrenzende Submandibularloge kam.

Die genaue Inzidenz dieser Komplikation ist unbekannt und die chirurgischen Behandlungsmöglichkeiten und deren Indikationen werden in der Literatur größtenteils nur anhand von Fallberichten dargestellt. Als Risikofaktoren für eine intraoperative Luxation eines unteren Weisheitszahns werden eine distolinguale Inklination [Huang I-Y et al., 2007], Fenestrationen des Alveolarknochens [Tumuluri V et al., 2002], eine ungenügende präoperative klinische Untersuchung und radiologische Diagnostik, ein unkontrollierter Krafteinsatz und mangelnde Ausrüstung und Technik des Operateurs diskutiert [Esen E et al., 2000]. Da die Kortikalisdicke im retromolaren Bereich des Unterkiefers lingual sehr dünn ist, können dort Fenestrationen vorliegen, die mit der Gefahr der Luxation von mobilisierten Zahnfragmenten in den posterioren Mundboden oder ins Spatium pterygomandibulare verbunden sind. Die Pterygomandibularloge ist ein Raum zwischen dem Musculus pterygoideus medialis und der Ramusinnenseite, der nach anterior eine Verbindung zum Mundboden und nach posterior eine Verbindung zur lateralen Pharynxwand hat [Barker BCW et al., 1972]. In der pterygomandibulären Loge verlaufen als wichtige Strukturen die Arteria, die Vena, der Nervus alveolaris inferior und der Nervus lingualis. Der folgende Fall zeigt eine außergewöhnliche Komplikation dieser Art.

Fallbericht

Ein 19-jähriger Patient stellte sich mit der Bitte um Weiterbehandlung bei einem in die rechte Submandibularloge luxierten Wurzelrest 48 vor. Bei einer alio loco in Lokalanästhesie begonnenen operativen Entfernung des Zahnes 48, die circa eine Stunde zurücklag, sei ein Wurzelrest in den rechten Mundboden luxiert worden. Klinisch zeigten sich extraoral eine Schwellung im Bereich der rechten Wange, intra-oral eine mit resorbierbarem Nahtmaterial versorgte Winkelschnittführung regio 48 und eine diskrete Schwellung im Bereich des posterioren Mundbodens rechts. Sensibilitätsstörungen im Bereich des Nervus alveolaris inferior und des Nervus lingualis konnten aufgrund der zeitlichen Nähe zur alio loco durchgeführten Lokalanästhesie nur eingeschränkt beurteilt werden. Die maximale Mundöffnung betrug circa 50 mm.

Zur bildgebenden Diagnostik erfolgten ein Orthopantomogramm und alio loco eine Zahnfilmaufnahme, bei der sich der dislozierte Wurzelrest des Zahnes 48 circa 3 mm kaudal der Alveole projizierte. In der durchgeführten digitalen Volumentomografie stellte sich der Wurzelrest kaudal der Linea mylohyoidea und medial der Tuberositas pterygoidea im Bereich der rechten Submandibularloge dar (Abbildungen 1 bis 4). Die operative Entfernung des Wurzelrests erfolgte durch einen transoralen Zugang in nasotrachealer Intubationsnarkose. Als operativen Zugang in den posterolateralen Mundboden beziehungsweise in die Submandibularloge rechts wurde der bestehende gingival geführte Winkelschnitt durch einen lingualen Zahnfleischrandschnitt aus regio 47 bis 43 sowie durch eine transversale Verbindung disto approximal 47 erweitert. Die daraus resultierende H-förmige Schnittführung erlaubte die subperiostale Darstellung des Ramusvorderrands und das retrograde (von der Koronoidkerbe ausgehende) Auslösen des lingualen Weichgewebes zur Bildung eines lingualen Mukoperiostlappens. Nach stumpfer Präparation einer Kavität entlang der lingualen Innenkortikalis und um die konvexe Kontur des retromolaren Knochenbalkons bis auf die Kranialfläche des M. mylohyoideus wurde der Muskel im Dorsalbereich seiner Insertionslinie mit der Schere scharf abgetrennt, um die Submandibularloge von kranial zu eröffnen. Die Retraktion des Mukoperiostlappens nach intermaxillär führte zur übersichtlichen Exposition der gesamten Retromolarregion und der Möglichkeit, unter Schonung des N. lingualis in die Submandibularloge einzugehen (Schnittführung siehe Abbildung 5). Im lingualen Kortex der Alveole regio 48 wurde eine Perforation in den Mundboden von etwa 6 bis 7 mm Durchmesser als Durchtrittsstelle für den Wurzelrest identifiziert (Abbildung 6).

Da von transoral keine direkte Sicht ins Spatium submandibulare möglich war, wurde das Wurzelfragment 48 mit dem Zeigefinger palpiert und mit einer stumpfen gebogenen Klemme und der Fingerbeere entfernt (Abbildung 7). Das kleinere Kortikalisfragment ließ sich digital identifizieren und in gleicher Weise entfernen. Nach Reposition der Weichteile erfolgte ein mehrschichtiger Wundverschluss mit Einzelknopfnähten, zirkumdentalen Nähten und einer Tabaksbeutelnaht regio 37 zur Refixierung des lingualen Mukoperiostlappens. Der postoperative Verlauf gestaltete sich unter perioperativer Antibiose komplikationslos. Die postoperativen radiologischen Kontrollaufnahmen (Orthopantomogramm, Zahnfilm) ergaben keinen Hinweis auf ein verbliebenes Zahnfragment.

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Diskussion

Grundsätzlich kann die Luxation eines Zahnes oder eines Zahnfragments während der operativen Entfernung in alle angrenzenden anatomischen Logen erfolgen. Bei unteren Weisheitszähnen sind am häufigsten Fälle von Luxationen in die Submandibularloge, in den Mundboden und in die Pterygo-mandibularloge in der Literatur beschrieben [Huang I-Y et al., 2007]. Dieser Fallbericht beschreibt eine akzidentielle Luxation eines Wurzelrests in die Submandibularloge. Die Submandibularloge wird kranial durch den kaudalen Unterkieferrand und anterior und posterior durch die jeweiligen Venter der Muskuli digastrici begrenzt. Die Loge be- inhaltet die Glandula submandibularis, die Arteria facialis mit ihrem Abgang der Arteria submentalis, den Nervus mylohyoideus, den Ramus marginalis mandibulae des Nervus facialis und den Nervus lingualis. Zur radiologischen Diagnostik luxierter Weisheitszähne oder Zahnfragmente werden in der Literatur diverse Techniken empfohlen. Wie in diesem Fall können als konventionelle Techniken ein Orthopantomogramm oder ein Zahnfilm erste Hinweise auf die Lokalisation geben. Im Rahmen der konventionellen Techniken kann als zweite Ebene eine Aufbissaufnahme hilfreich sein. Als Schnittbildtechniken werden in der Literatur die Computertomografie oder eine digitale Volumentomografie [Esen E et al., 2000; Pippi R et al., 2002; Tumuluri V et al., 2002; Ozyuvaci H et al., 2003; De Biase A et al., 2005] beschrieben, um die genaue Position des Fremdkörpers zu bestimmen. Dabei bietet die Computertomografie den Vorteil einer besseren Weichgewebsdarstellung im Vergleich zur digitalen Volumentomografie und sollte daher bei Luxationen von Zähnen in weichgewebig begrenzte anatomische Logen (sublinguale Loge, para-, retropharyngeale Loge) zum Einsatz kommen. Die digitale Volumentomografie bietet Vorteile durch eine geringere Strahlenbelastung und die Möglichkeit der Darstellung des Fragments in der Multiplanartechnik.

Eine Indikation zur Entfernung eines luxierten Weisheitszahns oder eines Zahnfragments besteht aufgrund des Infektionsrisikos. Einige Autoren empfehlen bezüglich des Zeitpunkts der operativen Entfernung eines luxierten Zahnfragments ein abwartendes Verhalten, da nach einigen Wochen die einsetzende Fremdkörperreaktion das Fragment stabilisiert und so die chirurgische Entfernung erleichtert sein soll. Andererseits wird durch ein abwartendes Verhalten möglicherweise das Infektionsrisiko und das Risiko von sekundären Wanderungen des Fragments erhöht [Gay-Escoda C et al., 1993; Dormer BJ et al., 1973; Peterson LJ, 1988]. Zur Entfernung luxierter Zähne oder Zahnfragmente stehen grundsätzlich trans-orale und extra-orale oder kombinierte trans-oral-transfaziale Zugänge zur Verfügung. Ein extra-oraler Zugang kann beispielsweise von submandibulär erfolgen. Bei einem submandibulären Zugang wird eine Inzision im Verlauf einer natürlichen Hautfalte im Bereich des Unterkieferschattens circa zwei Querfinger unterhalb des kaudalen Unterkieferrands platziert und sollte dabei, aufgrund der später sichtbaren Narbe, in der Länge relativ kurz (circa 5 cm) gehalten werden. Gefährdete Strukturen bei diesem Zugang sind der Ramus marginalis des Nervus facialis sowie die Arteria und die Vena facialis. Dieser Zugang kann bei in die Submandibularloge luxierten Zähnen, die nicht über einen trans-oralen Zugang erreichbar sind, zum Einsatz kommen [Gay-Escoda C et al., 1993]. Der Vorteil dieses Zugangs liegt in der guten Übersicht des Operationsgebiets, der Nachteil ist die später sichtbare zervikale Narbe. In der Literatur wird ein kombinierter trans-oral-transfazialer Zugang bei Zähnen, die in eine zervikale Loge luxiert wurden, beschrieben [Yeh CJ, 2002].

In den Mundboden und in die pterygo-mandibulare Loge luxierte Weisheitszähne können in der Regel über einen trans-oralen Zugang entfernt werden [Laskin DM, 1985; Peterson LJ et al., 1998]. Sinnvoll ist – wie beschrieben – eine H-förmige Inzision im retromolaren Bereich. Bei diesem Zugang ist die Gefahr einer Verletzung des Nervus lingualis zu beachten, die durch verschiedene Techniken minimiert werden kann. In einer Arbeit [Huang I-Y et al., 2002] wird dafür eine Technik empfohlen, bei der durch eine U-förmige Osteotomie der lingualen Alveolenwand mit dem Meißel und dem anschließenden vorsichtigen Herausbrechen und Mobilisieren der Alveolenwand nach lingual der Nervus lingualis schonend abgehalten werden kann. Bei Zähnen, die in die parapharyngeale Loge luxiert wurden, erfolgt eine transorale Entfernung über einen Tonsillektomiezugang [Laskin DM, 1985]. Vorteil der trans-oralen Zugänge ist die später nicht sichtbare Narbe. Ein Problem der trans-oralen Zugänge ist eine mögliche sekundäre Dislokation des Zahnfragments bei der operativen Entfernung, die aufgrund der schlechten Übersicht des Zugangs entstehen und dann ein kombiniert trans-oral-transfaziales Vorgehen bedingen kann. In neueren Arbeiten wird auch die Lokalisa-tion von dislozierten Weisheitszähnen unter Zuhilfenahme von intraoperativer Navigation beschrieben [Campell A et al., 2010]. Dieses Verfahren stellt aber eher eine Ausnahme für komplizierte Fälle dar, denn die meisten akzidentiellen Dislokationen von unteren Weisheitszähnen erfolgen in die Submandibularloge oder in den posterioren Anteil des Mundbodens und können über einen trans-oralen Zugang ohne intraoperative Bildgebung entfernt werden (siehe Tabelle).

Dr. Dr. Sebastian BaumannDr. Florian Andreas ProbstProf. Dr. Dr. Carl-Peter Cornelius

Klinikum der Universität MünchenLindwurmstr. 2a80337 Münchenbaumannsebastian@hotmail.com

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