Behandler und Patienten empfinden vieles anders
Neue Materialien und Techniken haben in den vergangenen beiden Jahrzehnten zu einer ästhetisch-kulturellen Revolution in der Zahnmedizin geführt. Zusätzlich hat eine digitale Idealisierung des menschlichen Aussehens in nahezu jeder Publikation und in den Medien einen Einfluss auf uns und unsere Patienten.
Ein besseres dentales Erscheinungsbild hat positive Auswirkungen auf das Selbstvertrauen und auf die Lebensqualität. Statistisch gesehen führt ein besseres Aussehen sogar zu einem wirtschaftlich erfolgreicheren Leben. Die Patienten erwarten von den Zahnärzten, ihnen Wege aufzuzeigen, wie sie ihre Wünsche auch hinsichtlich der ästhetischen Erscheinung erfüllen können.
Traditionell fokussierte sich die Zahnmedizin auf die Wiederherstellung der biomedizinischen und der mechanisch-technischen Aspekte des Gebisses. Um die divergierenden ästhetischen Vorstellungen der Patienten systematisch einzubinden, sind in den vergangenen Jahren bereits verschiedene Richtlinien vorgestellt worden.
Doch ein harmonisch ausgewogenes Lächeln ist mehr als die Folge des idealen Zusammenspiels von Zähnen, Lippen und Zahnfleisch, da das Erscheinungsbild und dessen Wahrnehmung auch von mehr abstrakten, psychologischen, geschlechtsbezogenen und kulturellen Faktoren abhängt. So erscheint es schwierig, vorhersagbare individuelle Erfolge nur mit der Anwendung genereller Richtlinien erreichen zu wollen.
Zielsetzungen
Um einen besseren Einblick in den Prozess der Entscheidungsfindung und mögliche Behandlungsabläufe zu erhalten, wurden vier Studien mit folgenden Fragestellungen durchgeführt, die kurz vorgestellt werden sollen:
1. Beurteilen Zahnärzte und Patienten das dentale Erscheinungsbild gleich [Mehl et al., 2011]?
2. Spielen Alter, Erfahrung oder Geschlecht der Zahnärzte eine Rolle bei der Beurteilung von Patienten?
3. Gibt es in der Beurteilung der dentalen Ästhetik durch Zahnärzte kulturelle Unterschiede [Mehl et al., 2014]?
4. Inwieweit beeinflussen Restaurationsart, Symmetrie und die Farbe der finalen Restaurationen die Beurteilung der dentalen Ästhetik [Mehl et al., 2015]?
5. Welchen Einfluss hat die Ausbildung der Studenten auf die Beurteilung der dentalen Ästhetik? [Mehl et al., 2015, in press]
Methodik
Das Vorgehen wurde im Einzelnen in den oben genannten vier Studien publiziert. Jeder Patient erhielt eine komplette orale Rehabilitation einschließlich der Restauration von mindestens einem zentralen Schneidezahn. Die Behandlung umfasste eine Mundhygienephase und die Beseitigung aller Zahnerkrankungen (Karies, periapikale oder parodontale Entzündungen, insuffizient positionierte Weisheitszähne) vor der ästhetischen Behandlung. Eine kieferorthopädische Behandlung wurde bei keinem der Patienten durchgeführt.
Nach Abschluss der Vorbehandlung wurde eine Abformung durchgeführt und die zu restaurierenden Zähne wurden in Wachs nach ästhetischen Richtlinien idealisiert (Wax-up). Das Wax-up wurde nach der Präparation als Provisorium über eine Tiefziehschiene intraoral integriert. Danach wurden die Patienten um ein Feedback gebeten, um die finale Arbeit so dicht wie möglich an ihren Wünschen auszurichten (wie Farbe, Textur, Länge, Breite, und mehr). In kompromittierten Situationen wurde ein Konsens angestrebt und die Vorgehensweise mit dem Patienten besprochen. Ergänzend sollten die Patienten zweimal einen Fragebogen ausfüllen. Zunächst nach der Entfernung aller Zahnerkrankungen und dann zwei Wochen nach Abschluss der ästhetischen Rehabilitation.
Je zwei standardisierte Fotos vor und nach der ästhetischen Rehabilitation (Abbildungen 1 bis 4) dienten Studenten aus Deutschland und Zahnärzten aus der Schweiz, Großbritannien, Deutschland und China dazu, das ästhetische Erscheinungsbild mithilfe einer digitalen Präsentation zu beurteilen. Alle Daten wurden anschließend statistisch ausgewertet.
Studienergebnisse
In allen Studien konnte eine signifikante Verbesserung des dentalen Erscheinungsbildes sowohl von den Patienten selbst als auch von den Zahnärzten empfunden werden, aber:
1. Die Beurteilung der Zahnärzte unterschied sich signifikant von der Eigenbeurteilung der Patienten.
2. Das Alter, die Berufserfahrung oder das Geschlecht der Zahnärzte spielten keine Rolle bei der Beurteilung.
3. Es konnten signifikante Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern bezüglich der Beurteilung des dentalen Erscheinungsbildes gefunden werden.
4. Chinesische Zahnärzte hätten ästhetische Fragestellungen meistens invasiver gelöst als ihre europäischen Kollegen, obwohl die Behandlungsvorschläge sich sehr ähnelten. Die Schweizer Zahnärzte hätten am konservativsten therapiert, gefolgt von den deutschen Zahnärzten und den Zahnärzten aus Großbritannien.
5. Während Kronen und keramische Verblendschalen (Veneers) in der Bewertung etwa gleich abschnitten, wurden Brücken als signifikant unästhetischer bewertet.
6. Die Vitapan-Farben A1 und A2 wurden von den Zahnärzten signifikant besser bewertet als A3 oder Bleachingfarben.
7. Beim Vergleich symmetrischer mit nicht symmetrischen Restaurationen bewerteten die chinesischen Zahnärzte das ästhetische Ergebnis als gleich, während die Zahnärzte der anderen Länder den symmetrischen Versorgungen den Vorzug gaben.
8. Große Unterschiede gab es zwischen der Bewertung durch Studenten des ersten Semesters und durch bereits approbierte Zahnärzte. Die Studenten beurteilten das ästhetische Erscheinungsbild der Patienten signifikant strenger.
Mit zunehmendem Studienverlauf jedoch (5., 8. und 10. Semester) glich sich die Bewertung der Studenten mehr und mehr der Bewertung der Zahnärzte an.
Diskussion und Schlussfolgerung
Aus den obigen Studien kann folgernd festgestellt werden, dass die Beurteilung des dentalen ästhetischen Erscheinungsbildes durch die Zahnärzte sich signifikant von der Eigenbeurteilung der Patienten unterscheidet. Erklärend hierfür könnte sein, dass es nur äußerst schwierig ist, die zahnärztlich objektivierbaren Faktoren mit den sehr individuellen Vorstellungen der Patienten deckungsgleich zu bekommen. Denn diese zeigen eine andere ästhetische Wahrnehmung, Körper- und Selbstbild, und mehr. Diese entwickelt sich auch erst während des Lebens, was dann zu einem sehr unterschiedlichen, individuellen Schönheitsempfinden führen kann.
Um nur ein Beispiel aufzuführen: Eine Studie berichtet, dass Mädchen kritischer mit ihrer Zahnfarbe umgingen als Jungen, Eltern und Zahnärzte jedoch kritischer bei der Zahnfarbe von Jungen waren. Jüngere Patienten sind kritischer als ältere Patienten, die Eltern jüngerer Probanden aber waren weniger kritisch als diejenigen von älteren Probanden.
Um dieser Komplexität gerecht zu werden und Behandlungsmisserfolge zu vermeiden, ist es wichtig, den Patienten sowohl in die Behandlungsplanung als auch in den Restaurationsprozess bei ästhetischen Entscheidungen einzubeziehen.
Dr. Christian J. Mehl
Abteilung für Prothetik, Propädeutik und Werkstoffkunde
Christian-Albrechts
Universität zu Kiel
Arnold-Heller-Str. 16
24105 Kiel
Dres. Harder und Mehl
Praxisklinik für Zahnmedizin und Implantologie
Volkartstr. 5
80634 München