Aus der Wissenschaft

Führt SARS-CoV-2 zu Implantatverlusten?

Florian Beuer
Nach einer kleinen Umfrage unter Kollegen auf einem implantologischen Kongress im Herbst berichteten nahezu alle Teilnehmer von vermehrten, nicht erklärbaren Implantatverlusten während der Osseointegrationsphase in diesem Jahr. Einen Zusammenhang zwischen der Knochenheilung und COVID stellte allerdings kaum jemand her. Ein chinesisches Team hat nun eine Studie im Tiermodell zur Auswirkung der Infektion auf den Knochenstoffwechsel publiziert. Die Ergebnisse lassen aufhorchen.

Die Diskussion um „Long COVID“ und die Folgen außerhalb des Respirationstrakts wird wahrscheinlich noch lange andauern, da man erst langsam versteht, welche Konsequenzen eine Infektion mit SARS-CoV-2 nach sich ziehen kann. Das Fatigue-Syndrom, Kopfschmerzen, Anosmie (Verlust des Riechvermögens), Muskelschwäche, leicht erhöhte Temperatur und kognitive Dysfunktion werden hier genannt. Eine kürzlich durchgeführte Multicenter-Studie hat bei COVID-19-Patienten, die intensivmedizinischer Betreuung bedurften, eine signifikant reduzierte Knochendichte festgestellt. Fraglich ist, ob dieser Befund sich generell auf COVID-19-Patienten übertragen lässt und wie die Mechanismen beschaffen sind, die dazu führen.

Material und Methode

Die Arbeitsgruppe um Wei Qiao aus Hongkong in China versuchte, diese Fragestellung im Rahmen einer Tierversuchsstudie am wissenschaftlich etablierten und weit verbreiteten Modell des syrischen Hamsters zu beantworten. Dazu wurden sechs bis zehn Wochen alte syrische Goldhamster (weiblich und männlich) mit SARS-CoV-2 infiziert, während der Kontrollgruppe eine isotonische Kochsalzlösung injiziert wurde.

Blut, Lungen- und Knochengewebe wurden gewonnen bei der Opferung der Tiere vier Tage, 30 Tage und 60 Tage nach Infektion, um mikrotomografische, virologische und histopathologische Untersuchungen durchzuführen.

Ergebnisse

Die Infektion führt zu einem signifikanten Verlust von Knochentrabekeln, und zwar zu allen drei untersuchten Zeitpunkten. Die stärksten akuten Krankheitssymptome hatten die Hamster vier Tage nach der Infektion. Sie erholten sich generell nach etwa sieben bis zehn Tagen.

An der distalen Metaphyse des Femurs zeigten die Tiere bereits nach vier Tagen (akute Phase), nach 30 Tagen (Erholungsphase) und nach 60 Tagen (chronische Phase) einen fortschreitenden Verlust an Knochentrabekeln im Mikro-Computertomogramm (CT). Auch 60 Tage nach der Infektion war die Knochendichte nicht wieder auf dem Niveau wie vor der Infektion. Diese Ergebnisse zeigten sich auch in der Tibia und den Wirbelkörpern, sowohl im Mikro-CT als auch in den histologischen Untersuchungen. Das trabekuläre Knochenvolumen von mit SARS-CoV-2 infizierten Hamstern betrug nach 60 Tagen weniger als 50 Prozent, verglichen mit der Kontrollgruppe.

Dies führten die Forscher auf vier Hauptursachen zurück:

1. SARS-CoV-2 aktiviert die Osteoklasten und damit die knochenabbauenden Prozesse. So wurde in den infizierten Hamstern eine doppelt so hohe Anzahl an Osteoklasten gefunden wie in der Kontrollgruppe.

2. SARS-CoV-2 stört die inflammatorische Mikroumgebung im Skelett ohne direkte Infektion. Das heißt, der entzündliche Knochenverlust war nicht durch unmittelbare, direkte Beteiligung des Virus im Knochengewebe verursacht.

3. Durch SARS-CoV-2 bedingte Zytokine regeln die Osteoklastengenese hoch. So fanden die Forscher einen sechsfachen Anstieg des Markers IL-1b, einen siebenfachen Anstieg von TNF-a und einen dreifachen Anstieg von IL-1RA in den Knochengeweben nach vier Tagen bei der infizierten Gruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe.

4. Eine pro-inflammatorische Kaskade sorgt für pathologische Knochenresorption.

Diskussion

Die Osseointegration dentaler Implantate mit einer nahezu 100-Prozent-Erfolgsquote wird heute absolut vorausgesetzt. Als eine der Auswirkungen des SARS-CoV-2 werden inzwischen auch muskulo-skelettale Konsequenzen diskutiert. Die im Hamstermodell beschriebenen Folgen auf multiple Knochen auch lange nach der akuten Infektion lassen nachdenklich werden und vielleicht jüngste eigene Misserfolge in einem anderen Licht erscheinen. Fraglich ist, ob sich die hier präsentierten Ergebnisse 1:1 auf den Menschen übertragen lassen. Allerdings ist das gewählte Modell ein wissenschaftlich etablierter Versuchsaufbau, da die Kinetik in etwa dem menschlichen Körper entspricht.

Unerklärliche Implantatverluste?

Haben Sie 2022 in Ihrer Praxis vermehrt Einheilungsstörungen oder Implantatverluste während der Osseointegrationsphase festgestellt? Oder gab es keine Probleme? Schreiben Sie uns Ihre Erfahrungen unter „Implantatverluste durch SARS-CoV-2?“ an kontakt@zm-online.de.

Wie gehen wir mit dieser Information um? Als mögliche Konsequenz wäre die COVID-Anamnese sinnvoll, und zwar nicht nur die Frage, ob jemand akut erkrankt ist, sondern auch ob und wann er erkrankt war. Wir wissen heute jedoch noch nicht, ob sich der Knochen nach einer gewissen Zeit wieder regeneriert und remineralisiert. Eine Knochendichtemessung vor Implantation ist wahrscheinlich zu aufwendig, um sie flächendeckend zu empfehlen, aber für kritische Situationen in Einzelfällen vielleicht sinnvoll. Eine Verlängerung der Einheilzeit dentaler Implantate wäre in kritischen Fällen ebenfalls zu überlegen.

Generell haben wir derzeit noch wenig klinische Daten und konkrete Informationen, allerdings sollten wir uns der möglichen Auswirkung von SARS-CoV-2 auf unser tägliches Tun bewusst werden.

Bedeutung für die Praxis

Für die klinische Praxis lassen sich folgende Schlussfolgerungen treffen:

  • SARS-CoV-2 hat negative Auswirkungen auf die Knochendichte, vor allem auf die Trabekelstruktur der Spongiosa.

  • Auch in der Postinfektionsphase waren progrediente negative Auswirkungen auf den Knochen nachweisbar.

  • Bei Patienten nach einer COVID-Infektion kann es zu negativen Folgen im Rahmen der Knochenheilung nach dentaler Implantatinsertion kommen.

Nachtrag vom 16. Dezember 2022

Vor Erscheinen dieses Beitrages waren mögliche Zusammenhänge zwischen SARS-CoV-2-Infektionen und Implantatverlusten bereits Thema auf dem 31. Internationalen Expertensymposium für regenerative Verfahren in der Zahnmedizin (Veranstalter und wissenschaftliche Leitung: Univ.-Prof. Dr. Dr. Joachim E. Zöller, Köln, www.experten-symposium.de), das vom 28. Oktober bis 4. November 2022 auf Fuerteventura stattfand.

Der Münchner MKG-Chirurg Dr. med. dent. Sigurd Hafner berichtete dort in seinem Vortrag „Hat COVID-19 einen Einfluss auf die Implantattherapie?“ von aus seiner Sicht vermehrt auftretenden unerklärlichen Implantatverlusten und möglichen Zusammenhängen mit COVID-19. Im Vortrag von Herrn Dr. Hafner war eine Besprechung der im Beitrag aufgeführten Studie enthalten. Der Vortrag wurde am Ende der Tagung aufgrund seines Neuigkeitswertes als beste Präsentation in der Kategorie „Erstlingswerk“ ausgezeichnet.

Originalpublikation: Qiao W, Lau HE, Xie H, Poon VK, Chan CC, Chu H, Yuan S, Yuen TT, Chik KK, Tsang JO, Chan CC, Cai JP, Luo C, Yuen KY, Cheung KM, Chan JF, Yeung KW: SARS-CoV-2 infection induces inflammatory bone loss in golden Syrian hamsters Nat Commun. 2022 May 9;13(1):2539. doi: 10.1038/s41467–022–30195-w.

Florian Beuer

Univ.-Prof. Florian Beuer

Abteilung für Zahnärztliche Prothetik, Funktionslehre und Alterszahnmedizin, Centrum für Zahn-, Mund- und
Kieferheilkunde, Charité –
Universitätsmedizin Berlin
Aßmannshauser Str. 4–6, 14197 Berlin

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