Fortbildung „Die Einzelzahnlücke – Optionen der Versorgung“

Der orthodontische Lückenschluss

Der orthodontische Lückenschluss erlaubt eine sehr gute Kontrolle der Versorgung. Der Beitrag skizziert Indikationen und Abwägungen für den Lückenschluss beim Kieferorthopäden.

Der orthodontische Lückenschluss ist seit Einführung der skelettalen Verankerung ohne unerwünschte kollaterale Zahnbewegungen wie Mittellinienverschiebungen möglich und erlaubt eine sehr gute Kontrolle der Verzahnung im Front- und im Seitenzahnbereich. Da man Multibracketapparaturen auf kleine dentale Segmente oder nur einzelne Zähne beschränken kann, ist die Lösung eine attraktive Alternative. Der Beitrag skizziert Indikationen und Abwägungen für den Lückenschluss beim Kieferorthopäden.

Der Verlust einzelner bleibender Zähne kann entweder durch Karies, Hypomineralisation, Pulpitis oder Parodontitis, Aplasie oder ein dentales Trauma bedingt sein. Dieser Beitrag fokussiert primär auf den orthodontischen Lückenschluss, und zwar entweder nach Extraktion nicht erhaltungswürdiger 6er oder bei Aplasie der am häufigsten betroffenen UK-5er oder OK-2er. Da insbesondere nach dem Verlust von Seitenzähnen das Vorhandensein der Weisheitszähne für die Therapieplanung eine entscheidende Rolle spielt, wird auch auf die Frage der Notwendigkeit der Extraktion beschwerdefreier impaktierter 8er eingegangen.

Ursachen für Einzelzahnlücken 

Extraktion der ersten permanenten Molaren

Entsprechend einer Erhebung der WHO zur oralen Gesundheit sind weltweit 60 bis 90 Prozent der Schulkinder von Karies betroffen [WHO-Bericht, 2016]. Zwar hat die Fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS V) von 2016 für Deutschland ergeben, dass nur noch 18,7 Prozent der Zwölfjährigen mindestens einen kariösen beziehungsweise versorgten Zahn aufweisen, jedoch kommen kariöse Läsionen „polarisiert“, das heißt individuell gehäuft, vor [DMS V, 2016]. Da der Sechsjahresmolar als erster bleibender Zahn relativ früh durchbricht, ist er am häufigsten von Kariesbefall und folglich einer Extraktion betroffen [Sabri, 2021]. Auch Hypomineralisationen beziehungsweise MIH kommen bei diesem Zahn mit Prävalenzen von 3 bis 25 Prozent häufig vor [Willmott et al., 2008]. Aufgrund der großen Bedeutung dieses Zahnes für die Kaufunktion und die Entwicklung muss das Behandlungskonzept für stark kariös zerstörte 6er besonders sorgfältig abgewogen werden [Ong/Bleakley, 2010].

Der Vorteil einer frühen Extraktion (vor intraoralem Durchbruch des zweiten Molaren) ist, dass die entstehende Lücke durch die Migration benachbarter Zähne zumindest partiell geschlossen werden kann. So ergab eine klinische Studie nach 6er-Extraktion bei Kindern zwischen 7 und 13 Jahren bei 94 Prozent (OK) beziehungsweise 66 Prozent (UK) einen kompletten Lückenschluss [Teo et al., 2013]. Ist ein Lückenschluss primär von distal beabsichtigt, spricht man vom „idealen Extraktionszeitpunkt“, wenn sich der zweite Molar im frühen Bifurkationsstadium befindet [Teo et al., 2015; Teo et al., 2013; Telli/Aytan, 1989]. Bei Platzmangel im frontalen Zahnbogen empfiehlt sich eine spätere Extraktion (etwa bei einem Drittel oder bei der Hälfte der Wurzelbildung), um im Zuge des nachfolgenden reziproken orthodontischen Restlückenschlusses Platz für die Ausformung der Frontzähne zu schaffen. Negative Aspekte des „natürlichen“ Lückenschlusses durch Mesialisation der Molaren sind die Gefahren einer Supraposition der Antagonisten sowie einer eher kippenden Lückeneinengung [Radukanu et al., 2009], die zu einer suboptimalen okklusalen Kontaktsituation sowie zu einer unphysiologischen Belastung während der Mastikation führen. Daraus ergibt sich sekundär häufig ein orthodontischer Behandlungsbedarf, um die nach mesial gekippten Molaren aufzurichten und gegebenenfalls die Restlücke zu schließen.

Patientenbeispiel 1:

Initialer Befund nach Extraktion des Zahns 26

Abb. 1: Der dargestellte Patient stellte sich im Alter von 16:03 Jahren nach Überweisung durch die Klinik für MKG-Chirurgie zur Abklärung der Möglichkeit eines orthodontischen Lückenschlusses in regio 26 vor, da dieser Zahn nach erfolgloser endodontischer Therapie extrahiert werden musste. a und b: Frontal- und linke Seitenansicht auf die Zahnreihen mit frontalem Tiefbiss und Neutralverzahnung im Eckzahnbereich. c: Die Oberkiefer-Aufsicht zeigt, dass Zahn 27 bereits circa 1,5 mm spontan nach mesial migriert ist. d: Im Ausschnitt der Panoramaschichtaufnahme zeigt sich die Anlage von Zahn 28 mit erkennbarer physiologischer Kronenmorphologie. | Bernd G. Lapatki  

Häufig liegt die Notwendigkeit zur 6er-Extraktion zu einem späteren Zeitpunkt vor, zum Beispiel nach der Behandlung einer Sekundärkaries oder nach erfolgloser Wurzelfüllung (Patientenbeispiel 1). Bei Extraktionen der Sechsjahresmolaren im Erwachsenenalter bleibt eine Lückeneinengung von nennenswertem Ausmaß durch Migration der Nachbarzähne weitgehend aus [Radukanu et al., 2009], weshalb die entstandene Extraktionslücke durch andere therapeutische Maßnahmen geschlossen werden muss.

Aplasie einzelner Zähne

Nichtanlagen bleibender Zähne (ohne Berücksichtigung der Weisheitszähne) treten relativ häufig auf, wobei weltweit Prävalenzen zwischen 3,4 bis 10 Prozent und für Europa eine durchschnittliche Häufigkeit von 5,5 Prozent angegeben werden [Kim, 2011; Mattheeuws et al., 2004; Polder et al., 2004]. Bei den meisten Patienten liegt die Aplasie von nur einem Zahn (48 Prozent) beziehungsweise von zwei Zähnen (35 Prozent) vor. Oligodontie, das heißt die Aplasie von sechs oder mehr bleibenden Zähnen, kommt nur bei 2,6 Prozent der Patienten mit Aplasien vor [Polder et al., 2004]. Am häufigsten sind die unteren zweiten Prämolaren betroffen (Patientenbeispiel  3), gefolgt von den oberen seitlichen Inzisivi (Patientenbeispiel  2) und den oberen zweiten Prämolaren [Mattheeuws et al., 2004].

Patientenbeispiel 1:

Orthodentischer Lückenschluss regio 26

Abb. 2: Darstellung der Therapie im OK: a: Für den Lückenschluss wurden lediglich die beiden Zähne 16 und 27 bebändert und über einen Mesialslider [Wilmes/Drescher, 2010] im anterioren Gaumen skelettal verankert. Zahn 27 wurde am palatinalen Führungsbogen durch zwei palatinal und bukkal angreifende superelastische Zugfedern mesialisiert, wobei die Verankerung der bukkalen Feder an einem interradikulär in regio 23/24 inserierten Mini-Implantat erfolgte. Der Verlauf der Zugfedern etwa auf Höhe des Widerstandszentrums von 27 bewirkte eine effiziente, direkte körperliche Mesialisation ohne unerwünschte kollaterale Bewegungen. b: Nach zwölf Monaten war die Lücke regio 26 vollständig geschlossen. c: Während der viermonatigen Retentionszeit kam es zum Durchbruch von Zahn 28 direkt posterior des mesialisierten Zahnes 27 ohne orthodontische Kraftapplikation. Bemerkenswert ist die spontane Einstellung von 28 in korrekter Position in allen drei Dimensionen und mit annähernd physiologischer Angulation (siehe auch Abbildung 3a). Zahn 37 zeigt aufgrund der im Zuge der Mesialisation von 27 verloren gegangenen vertikalen Abstützung mesial eine Supraposition von circa 2 mm, die einer vollständigen vertikalen Einstellung des Zahnes 28 und somit einer satten Neutralverzahnung mit 37 hinderlich war. | Bernd G. Lapatki

Patientenbeispiel 1:

Einstellung von Zahn 37

Abb. 3: Zweite Therapiephase im Unterkiefer: a: Die Panoramaschichtaufnahme nach Entbänderung im OK zeigt den spontan achsengerecht durchgebrochenen Zahn 28 sowie den mesial suprapositionierten sowie leicht distoangulierten und distorotierten Zahn 37. b: Zur Optimierung der Okklusion erfolgte drei Monate nach Debracketing im OK die Intrusion und Mesioangulation von Zahn 37 mit lediglich einem Bracket sowie einem interradikulär in regio 33/34 inserierten Mini-Implantat. Die Aufnahmen zeigen den anterior nach kranial und lateral aktivierten passiven Hebel. c: Durch das drehmomentfreie Anligieren des Hebels am Implantatkopf entstand an Zahn 37 eine Intrusionskraft sowie ein mesioangulierendes Drehmoment (siehe weiße Pfeile). Genau diese Komponenten waren für die Korrektur von Zahn 37 erforderlich. | Bernd G. Lapatki

Patientenbeispiel 1:

Situation bei Behandlungsabschluss

Abb. 4: Situation nach viermonatiger sekundärer Therapie im UK: a und b: Die Lateralansicht links zeigt, dass nach Intrusion und Mesioangulation von 37 eine annähernd neutrale Okklusion mit Zahn 28 erreicht werden konnte. Ein Rezidiv wurde durch einen festsitzenden Drahtretainer (36–37) verhindert. c und d: Die Aufsichten auf die Zahnbögen zeigen, dass der Lückenschluss regio 26 sowie die Derotation von 37 stabil blieben. Die Kaufunktion im linken Seitenzahnbereich ist vollständig mit einem natürlichen Zahn rehabilitiert. | Bernd G. Lapatki

Die Therapieoptionen von Zahnnichtanlagen können nur dann optimal ausgenutzt werden, wenn Aplasien rechtzeitig erkannt werden. Daher sollte bei allen Patienten in der Ruhe- beziehungsweise späten Phase des Wechselgebisses eine Panoramaschichtaufnahme angefertigt werden. Häufig ist das parallele Auftreten einer Aplasie auf der einen Seite sowie einer Spätanlage auf der gegenüberliegenden Seite (als Mikrosymptom einer Aplasie) vorzufinden. Ebenso ist die Kombination einer Aplasie mit einer kontralateralen Hypoplasie öfter anzutreffen (Abbildung 5).

Patientenbeispiel 2:

Initiale Situation mit 10:04 Jahren

Abb. 5: Bei der dargestellten Patientin lag eine Nichtanlage des Zahnes 22 vor. a und b: In den extra- und intraoralen frontalen Ansichten fällt der mesiale Durchbruch von Zahn 23 in regio des aplastischen Zahnes 22 auf. c: In der Panoramaschichtaufnahme ist die Aplasie von 22 eindeutig diagnostizierbar. d: Die dentale Ansicht von rechts zeigt den circa 3 mm zu schmalen Zahn 12 sowie die leichte Distalverzahnung. e und f: Aufsichten auf die beiden Zahnbögen: Aufgrund des Durchbruchs des breiteren Zahnes 23 mesial des persistierenden Zahnes 63 und der Hypoplasie von 22 hat sich die dentale OK-Mitte leicht nach rechts verschoben. Der Therapieplan beinhaltete einen bilateralen orthodontischen Lückenschluss nach Extraktion des hypoplastischen Zahnes 12 mit Einstellung der Eckzähne 13 und 23 in der 2er-Region. | Bernd G. Lapatki

Alternative Therapien bei Einzelzahnlücken

Grundsätzlich sind bei Einzelzahnlücken folgende therapeutische Optionen möglich: 

  • der orthodontische Lückenschluss (primär durch Mesialisation der Seitenzähne)

  • der prothetische Ersatz mittels Adhäsivbrücke, konventioneller Brücke oder Implantatkrone

  • der längerfristige Milchzahnerhalt (bei Aplasie der UK-5er)

  • die Zahntransplantation (eher in Ausnahmefällen)

Zugunsten der optimalen Patientenversorgung sollten bei der Therapieentscheidung je nach individueller Situation und Lokalisation der Einzelzahnlücke alle sinnvollen Optionen in Betracht gezogen und deren Vor- und Nachteile disziplinübergreifend gegeneinander abgewogen werden.

Ein genereller Vorteil des orthodontischen Lückenschlusses ist das Erreichen einer geschlossenen Zahnreihe mit natürlichen Zähnen. Trotz der sehr guten Langzeitprognose prothetischer Versorgungsalternativen [Howe et al., 2019; Kern et al., 2017] ist ein wichtiges – und auch wissenschaftlich fundiertes – Argument, dass gesunde natürliche Zähne künstlichem Zahnersatz grundsätzlich vorzuziehen sind [Pjetursson/Heimisdottir, 2018].

Patientenbeispiel 2:

Ästhetische Optimierung im OK-Frontzahnbereich und dynamische Okklusionskontrolle

Abb. 6: Lateralansichten unmittelbar vor, während und nach der Multibrackettherapie: a: Direkt vor dem Bracketing wurden die inzisalen Spitzen der OK-Eckzähne um circa 1 mm reduziert (grau gestrichelte Linie), was aufgrund der sehr guten Eignung dieser Zähne als 2er-Ersatz allein schon nach dieser Maßnahme eine schneidezahnähnliche Morphologie ergab. Zudem wurden die palatinalen Höcker der Zähne 14 und 24 leicht überkuppelt, um spätere Balancekontakte zu vermeiden. b: Situation gegen Ende der Multibrackettherapie nach vollständigem Lückenschluss in regio 22. c: Situation einen Monat nach Bracketentfernung: Die mögliche Gingivektomie an Zahn 24 zur weiteren Verbesserung der rot-weißen Ästhetik wurde von der Patientin nicht gewünscht. d: Bei Laterotrusion nach rechts führen die Zähne 14 sowie 43 ohne Balancekontakte auf der Gegenseite. Insofern haben die ersten oberen Prämolaren die „Eckzahnführungsfunktion“ übernommen. Eine Literaturrecherche ergab, dass im natürlichen Gebiss die Kontaktsituation in „zentrischer“ Okklusion keinem Ideal (wie zum Beispiel einer reinen Eckzahnführung) folgt und zudem keine wissenschaftliche Evidenz für Vorteile einer echten Eckzahnführung im natürlichen Gebiss vorliegt [Woda et al., 1979]. Demgegenüber konnten Studien zeigen, dass der Ersatz aplastischer OK-2er durch die Eckzähne langfristig zu ausgezeichneten funktionellen und parodontalen Ergebnissen führt [Rosa et al., 2016], was sich mit den eigenen klinischen Erfahrungen deckt. | Bernd G. Lapatki

Patientenbeispiel 2:

Posttherapeutische Situation mit 18:00 Jahren – 3:03 Jahre nach Debracketing

Abb. 7: Finale Situation: a und b: Das frontale extraorale Erscheinungsbild beim Lächeln und die intraorale Aufnahme zeigen die harmonischen mesio-distalen Breitenverhältnisse im OK-Frontzahnbereich, wobei bei gezielter Betrachtung lediglich der leicht niedrige Gingivaverlauf der an 3er-Position stehenden OK-4er auffällt. c: Die Panoramaschichtaufnahme zeigte eine physiologische Angulation der mesialisierten Eck- und Seitenzähne. d: Die rechte Lateralansicht auf die Zahnreihen demonstriert über drei Jahre nach Therapieabschluss eine stabile und satte Okklusion. e: Die Aufsichtsaufnahme demonstriert die Langzeitstabilität des Lückenschlusses im OK. | Bernd G. Lapatki

Patientenbeispiel 3:

Initialer Befund mit Aplasie des Zahns 35

Abb. 8: Befunde vor Beginn der Therapie im Alter von 14 Jahren: a und b: Frontal- und Lateralansicht mit Zahn 24 in bukkaler Non-Okklusion. c: Aufsicht auf den Unterkieferzahnbogen mit deutlicher Mesiorotation von Zahn 33 bei Persistenz des relativ breiten Zahnes 75. d: Auf der Panoramaschichtaufnahme ist die Aplasie 35 zu diesem Zeitpunkt eindeutig diagnostizierbar. Im 3. Quadranten ist (wie in allen Quadranten) der Weisheitszahn angelegt, weshalb ein orthodontischer Lückenschluss regio 35 mit Mesialisation von 36 und 37 geplant wurde, mit wahrscheinlicher späterer spontaner Einstellung von 38 zur Abstützung von 27. | Bernd G. Lapatki

Patientenbeispiel 3:

Orthodontischer Lückenschluss regio 35

Abb. 9: Behandlungsablauf: a: Die Mesialisation der Molaren im 3. Quadranten wurde nach distalem Slicen von Zahn 75 um circa 1,5 mm mittels leichter Gummikette zwischen 33 und 36 zur gleichzeitigen Derotation von 33 eingeleitet. Die schematische Abbildung zeigt das Vorgehen beim Slicen mit maximaler Platzschaffung unter Vermeidung einer Berührung der Nachbarzähne. b: Situation nach Hemisektion der distalen Hälfte von 75 und simultanem Zug bukkal und lingual mit Gummiketten zwischen 36 und 34, um eine Mesiorotation von Zahn 36 zu vermeiden und um Platz für Zahn 33 zu schaffen. c: Nachdem der Engstand regio 33 mittels reziprokem Lückenschluss eliminiert wurde, erfolgte die Insertion eines Mini-Implantats bukkal interradikulär in regio 33–34, um Zahn 36 verankert am Teilbogen mittels superelastischer Zugfeder auf Höhe des Widerstandszentrums körperlich zu mesialisieren. Durch die verzögerte Extraktion des mesialen Anteils von Zahn 75 erst nach Kontakt mit 36 blieb die Alveolarknochenbreite in regio 75 vollständig erhalten, was als weiterer wichtiger Faktor für einen effizienten Lückenschluss und die Vermeidung von Gingivaduplikaturen anzusehen ist. | Bernd G. Lapatki

Patientenbeispiel 3:

Situation nach Lückenschluss regio 35

Abb. 10: Situation 1:04 Jahre nach Debracketing: Die aktiv-mechanische Therapie dauerte insgesamt 1:09 Jahre. a und b: Frontal- und Seitenansicht links: Die ersten Molaren sind links aufgrund des Lückenschlusses um eine Prämolarenbreite mesial verzahnt. Mittels Ausgleichsbiegungen zur Elimination der bei Bracket 26 standardmäßig einprogrammierten Mesioangulation konnte eine satte Interkuspidation aller Seitenzähne erreicht werden. Zahn 27 wurde mit einem festsitzenden Kleberetainer an 26 fixiert, um dessen Supraokklusion bis zum vollständigen Durchbruch von Zahn 38 zu vermeiden. c: Aufsicht auf den UK-Zahnbogen. d: Der Ausschnitt der Panoramaschichtaufnahme direkt nach Bracketentfernung zeigt die rein körperliche Mesialisation der Molaren im 3. Quadranten. Die verbesserten Platzverhältnisse im Bereich des Zahnes 38 sprechen für eine hohe Wahrscheinlichkeit einer späteren spontanen Einstellung in den Zahnbogen. | Bernd G. Lapatki

Patientenbeispiel 4:

Spontane 8er-Einstellung nach Lückenschluss

Abb. 11: Die Ausschnitte der drei Panoramaschichtaufnahmen, die im Alter von a) 15:05 Jahren (Initialbefund), b) 17:03 Jahren (Endphase der Multibrackettherapie nach vollzogenem Lückenschluss) und c) 20:01 (2:03 Jahre nach Abschluss der aktiv-mechanischen Therapie) erstellt wurden, zeigen die spontane Einstellung des Keimes 38 ohne jegliche orthodontische Kraftapplikation im Verlauf seiner Wurzelentwicklung. Bemerkenswert ist die nahezu optimale Angulation von 38 in der letzten Aufnahme, die mit einer passiven Keimaufrichtung von annähernd 40° einherging. Die hier exemplarisch demonstrierte spontane Einstellung impaktierter UK-8er nach Lückenschluss von distal ist klinisch häufig zu beobachten und auch in der Literatur dokumentiert [Ay et al., 2006]. Aufgrund des Ersatzes eines nicht angelegten bleibenden Zahnes durch einen ursprünglich aufgrund einer Impaktion funktionell nicht integrierten Zahn ist das Ergebnis als komplette Rehabilitation zu werten. | Abb. 11: Die Ausschnitte der drei Panoramaschichtaufnahmen, die im Alter von a) 15:05 Jahren (Initialbefund), b) 17:03 Jahren (Endphase der Multibrackettherapie nach vollzogenem Lückenschluss) und c) 20:01 (2:03 Jahre nach Abschluss der aktiv-mechanischen Therapie) erstellt wurden, zeigen die spontane Einstellung des Keimes 38 ohne jegliche orthodontische Kraftapplikation im Verlauf seiner Wurzelentwicklung. Bemerkenswert ist die nahezu optimale Angulation von 38 in der letzten Aufnahme, die mit einer passiven Keimaufrichtung von annähernd 40° einherging. Die hier exemplarisch demonstrierte spontane Einstellung impaktierter UK-8er nach Lückenschluss von distal ist klinisch häufig zu beobachten und auch in der Literatur dokumentiert [Ay et al., 2006]. Aufgrund des Ersatzes eines nicht angelegten bleibenden Zahnes durch einen ursprünglich aufgrund einer Impaktion funktionell nicht integrierten Zahn ist das Ergebnis als komplette Rehabilitation zu werten.

Vollkeramische Adhäsivbrücken eignen sich grundsätzlich sehr gut für den Ersatz nicht angelegter OK-2er [Kern, 2018], wobei ein gewisser Nachteil in der (minimalen) Präparation eines häufig vollständig gesunden Nachbarzahnes zur Verankerung besteht. Da die Präparation für eine konventionelle Brücke zwei Nachbarzähne erfassen würde und sich die Häufigkeit von Restaurationen generell verringert, würden konventionelle Brücken vermehrt auch gesunde Nachbarzähne einbeziehen, weshalb diese relativ invasive Lösung immer mehr durch implantatgestützte Einzelzahnkronen zurückgedrängt wird. Die Lückenversorgung mit einer Implantatkrone tangiert zwar keine Nachbarzähne, sie hat jedoch den generellen Nachteil, dass die definitive Therapie erst nach Abschluss des vertikalen Alveolarfortsatzwachstums, also frühestens im Alter von 18 bis 20 Jahren, erfolgen kann, was insbesondere bei Lückenversorgungen im OK-Frontzahnbereich ästhetisch und funktionell problematisch sein kann [Op Heij et al., 2006; Saffar et al., 2000].

Bei Aplasie der zweiten UK-Prämolaren kann – im Fall einer Nichtanlage des 8ers im entsprechenden Quadranten und bei gutem Zustand der Krone und der Wurzeln des zweiten Milchmolaren – ein langfristiger Milchzahnerhalt durchaus eine sinnvolle mittel- bis langfristige Lösung sein [Terheyden/Wüsthoff, 2015; Ith-Hansen/Kjaer, 2000]. Zumindest kann dadurch die Zeit bis zum Wachstumsabschluss und der permanenten Versorgung mit einer implantatgestützten Krone überbrückt werden.

Zahntransplantationen kommen vor allem bei einem dentalen Trauma oder bei asymmetrischen multiplen dentalen Aplasien infrage [Hoss et al., 2021; Michl et al., 2017; Schütz et al., 2013].

Der orthodontische Lückenschluss

Die kieferorthopädische Therapie bei Einzelzahnlücken sowohl nach der Extraktion eines Sechsjahresmolaren (Patientenbeispiel 1) als auch bei Zahnnichtanlagen (Patientenbeispiele 2 und 3) stellt relativ häufig eine sinnvolle Therapieoption dar. Im Fall einer frühen therapeutischen Intervention kann bei dieser Alternative die Lücke schon im späten Wechselgebiss durch einen spontanen beziehungsweise apparativ gesteuerten Durchbruch der Nachbarzähne in den Lückenbereich hinein zumindest partiell geschlossen werden, was den Aufwand für die abschließende kieferorthopädische Therapie im frühen bleibenden Gebiss deutlich verringert.

Lange Zeit war der orthodontische Lückenschluss mit gewissen Kompromissen behaftet, die insbesondere bei unilateralem beziehungsweise unimaxillärem Lückenschluss zum Tragen kamen. Ein biomechanisches Gesetz ist, dass der Lückenschluss bei einer Multibrackettherapie ohne zusätzliche externe Kraftapplikation reziprok erfolgt. Dies bedeutet, dass sich zum Beispiel bei einer beabsichtigten reinen Mesialisation der Molaren in eine Lücke im Seitenzahnbereich die Zähne anterior der Lücke nach distal bewegen, was sich zusätzlich in einer frontalen dentalen Mittenabweichung äußern kann. Diverse konventionelle Maßnahmen zielten darauf ab, diese – zumeist unerwünschten – Kollateralbewegungen zu minimieren: Zu diesen zählen das distale Beschleifen der benachbarten Milchzähne (Abbildung 9a) und/ oder die Hemisektion der zweiten Milchmolaren [Glockengießer, 2019; Northway, 2004], bei der nach hoher Pulpotomie zuerst die distale Hälfte und nach Aufwanderung des ersten Molaren auch die mesiale Hälfte extrahiert wird (Abbildungen 9b und 9c). Auch „verankerungsverstärkende Maßnahmen“, wie die Bildung eines möglichst großen anterioren dentalen Segments, sollten zu einer Minimierung der Effekte auf die Frontzähne beitragen. Trotzdem waren gewisse Kompromisse wie eine Mittelllinienverschiebung nach unilateralem Lückenschluss oder eine Verschlechterung der Verzahnung nach bilateralem Lückenschluss oft unvermeidbar. Durch diese Effekte wurde das Indikationsspektrum einer orthodontischen Lösung deutlich eingeengt; so war beispielsweise ein Lückenschluss bei Aplasie der OK-2er und progener Tendenz kontraindiziert, weil die Gefahr eines frontalen Kopf- beziehungsweise Kreuzbisses bestand.

Derartige Limitationen und Kompromisse sind in der modernen Orthodontie durch die Anwendung skelettal verankerter Apparaturen sowohl im Ober- [Wilmes/Drescher, 2010] als auch im Unterkiefer [Nagaraj et al., 2008] vermeidbar (siehe Patientenbeispiele 1 und 3). Die mittlerweile gut etablierten Möglichkeiten der skelettalen Verankerung vereinfachen den orthodontischen Lückenschluss durch die Mesialisation der Seitenzähne beträchtlich, denn sie ermöglichen in beiden Kiefern eine Kontrolle oder sogar die Korrektur der dentalen Mitte und erleichtern die Einstellung einer guten Interkuspidation und interinzisalen Abstützung. Ein weiterer großer Vorteil von Mini-Implantaten zur skelettalen Verankerung liegt in der Möglichkeit zur Beschränkung der Apparatur auf kleinere dentale Segmente beziehungsweise sogar auf einzelne Zähne (Abbildung 3), was die Belastung und die Kosten für die Patienten signifikant reduziert. Insbesondere wenn mit Teilapparaturen im Seitenzahnbereich die Applikation von Brackets im ästhetisch sensiblen Frontzahnbereich vermieden werden kann, erhöht sich die Bereitschaft von Erwachsenen zur kieferorthopädischen Therapie deutlich. Grundsätzlich weisen orthodontische Mini-Implantate relativ hohe Erfolgsraten von durchschnittlich 80 bis 90 Prozent auf, wobei für die bukkale interradikuläre Insertion im Unterkiefer mit circa 71 Prozent die niedrigsten Werte ermittelt wurden [Hourfar et al., 2017; Tsai et al., 2016]. Jedoch zeigen langjährige eigene Erfahrungen, dass bei sorgfältiger Insertion und Handhabung auch im Unterkiefer deutlich höhere Erfolgsraten erzielt werden können. Zudem ist die klinische Applikation von Mini-Implantaten nahezu non-invasiv und sehr komplikationsarm, so dass bei Verlust eine erneute Insertion an anderer Stelle vorgenommen werden kann.

Relevanz der Weisheitszähne 

Eine entscheidende Voraussetzung für den orthodontischen Lückenschluss nach Extraktion eines nicht erhaltungswürdigen Sechsjahresmolaren im OK oder im UK beziehungsweise bei Aplasie eines zweiten Prämolaren im UK ist die Anlage des Weisheitszahns im entsprechenden Quadranten. Denn die Mesialisation der gesamten Seitenzahnreihe ist in diesen Fällen nur dann zielführend, wenn die 7er-Position durch den 8er besetzt werden kann. Andernfalls wäre ein Verlust an Okklusionsfläche im posterioren Bereich beziehungsweise die Extrusion posttherapeutisch nicht mehr abgestützter zweiter Molaren im Gegenkiefer die Folge.

Bei circa 25 Prozent der Patienten weisen die Weisheitszähne vor allem aufgrund von Platzmangel im Zahnbogen eine komplette oder eine partielle Impaktion auf [Carter/Worthington, 2016]. Der orthodontische Lückenschluss durch Mesialisation der Seitenzähne führt zu einer Verbesserung der Platzverhältnisse für die 8er und folglich sehr häufig zu deren Durchbruch und Integration in den Zahnbogen [Baik et al., 2020; Ay et al., 2006]. Bemerkenswert ist, dass sich (nach Platzschaffung) ursprünglich stark mesioangulierte Weisheitszähne im Lauf ihrer Entwicklung oft passiv, annähernd achsengerecht und ohne Lückenbildung in den Zahnbogen einreihen (Abbildung 11).

Die relativ gute Prognose für die erfolgreiche Einstellung impaktierter Weisheitszähne nach Mesialisation der Seitenzähne wirft die Frage auf, ob die Extraktion beschwerdefreier, asymptomatischer 8er grundsätzlich vorgenommen werden soll [Kandasamy/Rinchuse, 2009]. Ein häufiges Argument für eine prophylaktische Entfernung ist, dass zukünftig mögliche, mit ganz oder partiell impaktierten 8ern assoziierte, Pathologien möglicherweise vermeidbar sind [Huang et al., 2014; Nunn et al., 2013; Fisher et al., 2012]. Die in entsprechenden Studien gefundenen Zusammenhänge sind jedoch teilweise kontrovers, und deren Evidenz sowie die klinische Relevanz dieser Faktoren werden in einem entsprechenden Cochrane-Review als relativ gering und unsicher eingestuft [Ghaeminia et al., 2020].

Zwar spricht für eine möglichst frühe 8er-Extraktion, dass eine Durchführung (nach Problemen) im höheren Alter häufiger mit schwereren Komplikationen, wie zum Beispiel der Schädigung des N. alveolaris, verbunden sein kann [Renton et al., 2012; Chuang et al., 2007], jedoch muss dieses Argument auch mit den grundsätzlichen Risiken und postoperativen Begleiterscheinungen einer operativen Entfernung impaktierter 8er, wie zum Beispiel temporären oder sogar längerfristigen Sensibilitätsstörungen, Infektionen und sekundären Blutungen, abgewogen werden. Das Argument, dass durch die Entfernung impaktierter Weisheitszähne tertiäre Engstände vermieden oder reduziert werden können, ist nicht haltbar; sowohl der frontale Engstand als auch die Zahnbogenbreite und -länge zeigten keinen signifikanten Unterschied zwischen Patienten, bei denen die 8er prophylaktisch extrahiert oder belassen wurden [Harradine et al., 1998].

Aus kieferorthopädischer Sicht ist der mögliche Ersatz von (später) nicht-erhaltungswürdigen Seitenzähnen durch einen sich primär nicht in Funktion befindlichen natürlichen Zahn ein gewichtiges Argument gegen eine prophylaktische Extraktion beschwerdefreier, (teil-)impaktierter Weisheitszähne (siehe Patientenbeispiele 1, 2 und 4). Auch bei moderaten bis starken Engständen und einer Entscheidung des Patienten für eine Zahnfehlstellungskorrektur im späteren Alter fällt die Entscheidung für eine Prämolarenextraktionstherapie leichter, wenn infolge der Platzschaffung distal im Zahnbogen realistische Chancen für eine 8er-Einstellung und somit für einen Ersatz der extrahierten Prämolaren durch einen natürlichen Zahn bestehen.

Zwar kann die Extraktion impaktierter 8er im Fall von Beschwerden und auf Basis einer auf den einzelnen Patienten zugeschnittenen Risiko- und Gesamtbetrachtung durchaus sinnvoll und gerechtfertigt sein [Finnish Medical and Dental Societies, 2020; KIMO Kennisinstituut Mondzorg, 2020]. Im Gegensatz dazu ist bei beschwerdefreien, asymptomatischen (komplett oder partiell impaktierten) Weisheitszähnen eine prophylaktische Extraktion ohne besonderen Grund nur schwierig durch wissenschaftliche Evidenz zu rechtfertigen. Bei dieser Gesamtbetrachtung sollte bestenfalls durch die Konsultation eines Kieferorthopäden mit abgeklärt werden, ob eine Zahn- und/oder Kieferfehlstellungskorrektur mit Extraktionen bleibender Zähne eine fachlich sinnvolle Option darstellt, und ob der Patient hierfür Bereitschaft zeigt oder diese – auch für die Zukunft – definitiv ausschließen kann.

Fazit

Für die Therapie von Einzelzahnlücken aufgrund von Verlust oder Aplasie bleibender Zähne kommen primär der orthodontische Lückenschluss oder eine prothetische Lösung – je nach Lokalisation entweder mit einer implantatgestützten Krone oder einer einflügeligen Adhäsivbrücke – infrage. Die kieferorthopädischen und prothetischen Alternativen zeichnen sich durch eine hervorragende Langzeitstabilität und eine sehr gute Ästhetik aus. Die Tatsache, dass gesunde natürliche Zähne künstlichem Zahnersatz grundsätzlich überlegen sind, spricht – bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen – für einen orthodontischen Lückenschluss.

Die Zeiten, in denen der orthodontische Lückenschluss mit Kompromissergebnissen verbunden war, gehören seit der Einführung skelettal verankerter Multibracketapparaturen der Vergangenheit an. Diese ermöglichen den Lückenschluss im Seitenzahnbereich rein von distal ohne unerwünschte Kollateralbewegungen der Frontzähne und erlauben auch eine Beschränkung der Apparatur auf kleinere dentale Segmente oder sogar einzelne Zähne, was die Akzeptanz für eine orthodontische Lösung deutlich erhöhen kann.

Das Vorhandensein von Weisheitszähnen spielt bei der Entscheidung zugunsten einer kieferorthopädischen Lösung eine wichtige Rolle, da impaktierte 8er nach Mesialisation der Seitenzahnreihe (üblicherweise zwischen dem 20. und dem 30. Lebensjahr) durchbrechen und somit die Kau- und Abstützungsfunktion der mesialisierten 7er übernehmen können. Auch aus diesem Grund sollte die Entscheidung zur Extraktion beschwerdefreier asymptomatischer Weisheitszähne nur auf Basis einer gründlichen individuellen Abwägung der Vorteile, Risiken und Perspektiven erfolgen. 

Literaturliste

1. World Health Organization (WHO). Oral Health. World Health Organization. 2012 [Available from: www.who.int/mediacentre/factsheets/fs318/en/ [Accessed 15-2-2016 2016]

2. Fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS V). Institut der Deutschen Zahnärzte im Auftrag von Bundeszahnärztekammer und Kassenzahnärztlicher Bundesvereinigung. 2014

3. Sabri R. Multidisciplinary management of permanent first molar extractions, Am J Orthod Dentofacial Orthop. 2021 May;159(5):682-692. doi: 10.1016/j.ajodo.2020.09.024.Epub 2021 Jan 22.

4. Willmott NS, Bryan RAE,  Duggal MS.  Molar-incisor-hypomineralisation: a literature review, Eur Arch Paediatr Dent. 2008 Dec;9(4):172-9. doi: 10.1007/BF03262633

5. Ong DC-V, Bleakley JE. Compromised first permanent molars: an orthodontic perspective. Australian Dental Journal 2010; 55: 2–14

6. Teo TK, Ashley PF, Parekh S, Noar J. The evaluation of spontaneous space closure after the extraction of first permanent molars. Eur Arch Paediatr Dent. 2013;14(4):207–12

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Prof. Dr. Dr. Bernd G. Lapatki

Ärztlicher Direktor der Klinik für Kieferorthopädie und Orthodontie
Universitätsklinikum Ulm,
Albert-Einstein-Allee 11,
89081 Ulm

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