„Irgendwann muss man auf demenzerisch kommunizieren“
In Deutschland leben laut Deutscher Alzheimer Gesellschaft aktuell mehr als 1,8 Millionen Menschen mit einer Demenzerkrankung. Infolge der demografischen Veränderungen wird deren Zahl bis 2050 geschätzt auf 2,8 bis 3 Millionen steigen. Früher oder später hat jeder Zahnarzt einen solchen Patienten auf dem Stuhl, sagt Dr. Claudia Ramm. Im Interview erklärt die Spezialistin für Seniorenzahnmedizin, was dann zu beachten ist.
Frau Dr. Ramm, wie viel sollte ein Zahnarzt / eine Zahnärztin, über das Thema Demenz wissen?
Eines vorweg: Menschen mit Demenz zu behandeln, ist eine Teamgeschichte. Da brauchen wir unsere ZFAs, das können wir alleine gar nicht wuppen. Bei uns in der Praxis haben alle eine entsprechende Zusatzausbildung. Das ist für den Behandelnden hilfreich, denn am besten sollte man einen Menschen mit Demenz schon erkennen können.
Und man muss sich auch darüber im Klaren sein, dass man mit einem Patienten im fortgeschrittenen Stadium nicht mehr auf Deutsch reden kann, sondern auf „demenzerisch“ kommunizieren muss. Ideal wäre, wenn wir das alle lernen würden.
Welche Möglichkeiten haben denn das Praxisteam und die Zahnärztin ohne Zusatzausbildung eine (Prä-)Demenz bei PatientInnen zu bemerken?
Die eigentliche Diagnose muss natürlich interdisziplinär erstellt werden, aber es gibt schon Anhaltspunkte, die Team und Ärztin erkennen können. Im frühen Stadium machen die PatientInnen häufig von einem Termin zum nächsten plötzlich einen leicht verwahrlosten Eindruck, erscheinen zu spät oder gar nicht zum Termin. Aber das kann natürlich alles auch mit Altersvergesslichkeit zu tun haben. Darum ist die Differenzialdiagnose so wichtig.
Wie kann man diese ersten Anhaltspunkte weiterverfolgen?
Im Gespräch mit den Angehörigen können Zahnmedizinische Fachangestellte oder Verwaltungsfachkräfte das am Telefon schon einmal vorsichtig eruieren. Wenn der Verdacht besteht, dass es sich um eine Demenz handeln könnte, kann man diesen Verdacht durch einen Fragenkatalog erhärten. Damit meine ich jetzt nicht den Mini-Mental-Status-Test – das ist ein etablierter Schnelltest für die Erfassung kognitiver Störungen bei älteren Menschen –, sondern ein paar einfache Fragen, die weitere Hinweise liefern.
An welche Fragen denken Sie da ganz konkret?
Wenn man mit dem Patienten ins Gespräch kommt, kann man zum Beispiel nach dem Weg zur Praxis oder nach der Uhrzeit fragen. Die einfache Frage „Sind Sie mit dem Bus oder mit dem Auto gekommen?“ reicht manchmal schon. Bei Betroffenen ist schnell zu beobachten, dass sie schwimmen, weil sie Orientierungsschwierigkeiten in Ort und Zeit haben. Das gilt für Menschen mit Altersvergesslichkeit zum Beispiel überhaupt nicht. Da gibt es deutliche Unterschiede; auch zur Altersdepression. Menschen mit Depression wissen häufig, dass sie depressiv sind oder zeigen es. Sie beklagen ihre gesundheitlichen Probleme oder Störungen – Menschen mit Demenz halten sich hingegen für kerngesund, obwohl die Symptome häufig dieselben sind. Prädemente sind außerdem oft ein bisschen fahrig, können sich augenscheinlich nicht gut konzentrieren.
Wie sollten ZahnärztInnen einen Verdacht auf Prädemenz kommunizieren?
Dann sollten die KollegInnen immer die Interdisziplinarität anstreben. Das ist bei Senioren, aber vor allem bei Patienten mit Demenz oder geriatrischen Patienten ganz wichtig. Ich würde immer versuchen, den Hausarzt zu konsultieren und Auffälligkeiten beschreiben oder den konkreten Verdacht äußern. Beim nächsten Termin kann man dann mit dem Patienten oder den Angehörigen sprechen und ihnen den Besuch eines Geriaters oder eines Neurologen nahelegen.
Angenommen, es kommt zu einer Bestätigung des Verdachts, also der Diagnose Demenz, was bedeutet das für die zahnmedizinische Behandlung?
Dann muss man ganz viel in der Prävention machen, um perspektivisch Notfälle und Narkosen zu vermeiden. Im letzten Stadium sind Narkosebehandlungen natürlich nicht mehr vermeidbar, aber auch heikel, weil sie oft mit einem Demenzschub einhergehen. Im Fokus sollte stehen, wie man die Mundhygiene und die Nachsorgekompetenz sicherstellt. Bei dieser Patientengruppe ist es aus meiner Erfahrung außerdem wenig sinnhaft, groß zu implantieren. Die 3-S-Regel sollte möglichst eingehalten werden, die Versorgung sollte also „simpel, stabil und sicher" sein.
Eine Besonderheit ist die Frontotemporale Demenz, die auch jüngere Patienten entwickeln können – und die immensen Einfluss auf den Behandlungsablauf haben kann. Denn diese Form der Demenz äußert sich häufig durch Distanzlosigkeit oder Agressionen. Das gilt für die anderen Formen der Demenz erst in den fortgeschrittenen Stadien. Darum muss man immer behutsam vorgehen.
Wie sieht so eine angepasste behutsame Kommunikation idealerweise aus?
Man muss Orientierung geben. Dabei aber möglichst wenig reden, kurze klare Sätze verwenden und, wo immer möglich, Fragen vermeiden. Sonst sind diese Patienten ganz schnell überfordert. Wir fördern die Orientierung durch das Auflegen der flachen Hand durch die Assistenz. Die Patienten spüren sich so selber, haben einen ganz wichtigen Orientierungspunkt. Das nimmt oft schon die Angst und gibt den Demenzpatienten das Gefühl, umsorgt zu werden. Diese Patienten brauchen eine möglichst große Vorhersehbarkeit durch uns. Wir benennen darum, was wir tun und spiegeln auch die Reaktionen oder Emotionen des Patienten.
Welche Rolle spielt der Blickkontakt zum Patienten?
Der ist immens wichtig. Und auch ein Lächeln kann ganz viel ausmachen. Vor allem in den Stadien, wenn die Patienten zwar nicht mehr das Gesagte verstehen, aber noch gut die Mimik deuten können.
Was gibt es noch zu bedenken?
Die Lagerung ist ein Thema, da Menschen mit Demenz früher oder später eine Dysphagie entwickeln. Wichtig ist eine relativ aufrechte Körperhaltung, dass der Kopf zur Seite geneigt ist und die Absaugung mit dem Speicherzieher in der Innenwange erfolgt. Damit sind wir wieder am Anfang. Die adäquate Behandlung von Demenzpatienten ist eine Aufgabe für das gesamte Team. Die ZFAs müssen auch fortgebildet sein, sonst stellt sich schnell das Gefühl von Überforderung ein. Auf der anderen Seite macht es einen Riesenspaß, wenn man es kann.
Demenz hat viele Ursachen
Demenz ist keine spezifische Erkrankung. Es handelt sich vielmehr um einen allgemeinen Begriff, der eine große Bandbreite an Symptomen beschreibt, die im Zusammenhang mit einem Nachlassen des Gedächtnisses oder anderer Denkfähigkeiten auftreten und schwerwiegend genug sind, die Fähigkeit einer Person bei der Ausführung alltäglicher Aktivitäten zu vermindern.
Rund 80 Prozent aller Demenzen werden durch neurodegenerative Erkrankungen des Gehirns hervorgerufen, deren Ursachen erst teilweise bekannt sind. Die Alzheimer-Krankheit ist mit 60 bis 70 Prozent aller Fälle die häufigste Erkrankung. Daneben sind vaskuläre Demenzen, die Lewy-Körperchen-Krankheit, die Demenz bei Morbus Parkinson sowie die Frontotemporale Demenz am häufigsten. Viele Demenzen sind fortschreitend mit einem langsamen Beginn und einer kontinuierlichen Verschlechterung.
Da Demenz-Symptome sehr unterschiedlich sein können, müssen mindestens zwei der folgenden geistigen Hauptfunktionen erheblich beeinträchtigt sein, damit eine Demenz in Betracht gezogen wird: Beeinträchtigungen des Gedächtnisses, der Kommunikation und der Sprache, der Fähigkeit zur Konzentration und Aufmerksamkeit, des logischen Denkens sowie des Urteilsvermögens und/oder der visuellen Wahrnehmung.
Sieben Stufen liefern Anhaltspunkte
Die nordamerikanische Alzheimer's Association empfiehlt zur Bestimmung des Demenz-Schweregrads die von Barry Reisberg entwickelte, siebenstufige GDS-Reisberg-Skala (GDS = Global Deterioration Scale). Die Stufen geben einen Überblick, wie sich verschiedene Fähigkeiten während des Krankheitsverlaufs verändern, können sich allerdings auch überlagern, so dass eine klare Abgrenzung schwierig sein kann.
Stufe 1: keine Beeinträchtigung
Die Person leidet nicht unter Gedächtnisproblemen. Ein Gespräch mit einem Mediziner zeigt keine Anzeichen von Symptomen einer Demenz.
Stufe 2: sehr leicht gemindertes Wahrnehmungsvermögen
Die Person zeigt Gedächtnislücken, vergisst bekannte Wörter oder verlegt Alltagsgegenstände, aber es können keine Demenz-Symptome während einer ärztlichen Untersuchung oder von Freunden oder Angehörigen erkannt werden.
Stufe 3: leicht gemindertes Wahrnehmungsvermögen
Freunde oder Angehörige bemerken erste Schwierigkeiten. Während eines ausführlichen ärztlichen Gesprächs können Ärzte möglicherweise Probleme mit dem Gedächtnis oder der Konzentration feststellen. Die normalen Schwierigkeiten der dritten Stufe beinhalten:
merkliche Probleme bei der Wahl eines richtigen Wortes oder Namens
Schwierigkeiten, sich an Namen von Menschen zu erinnern, die einem kürzlich vorgestellt wurden
erkennbare größere Schwierigkeiten bei der Ausführung von Aufgaben im sozialen Umfeld
das Vergessen von Inhalten, die gerade gelesen wurden
Verlust oder Verlegen von wertvollen Gegenständen
zunehmende Schwierigkeiten bei Planung oder Organisation
Stufe 4: mäßig gemindertes Wahrnehmungsvermögen
An diesem Punkt sollten in einem sorgfältigen Arztgespräch eindeutige Symptome in mehreren Bereichen feststellbar sein.
Vergessen von kurz zurückliegenden Ereignissen
beeinträchtigte Fähigkeit, herausfordernde Rechenaufgaben im Kopf durchzuführen, etwa rückwärts zählen von 100 in 7er-Schritten
größere Schwierigkeiten bei der Durchführung komplexer Aufgaben, etwa bei der Planung eines Essens für Gäste, beim Bezahlen von Rechnungen oder beim Verwalten der Finanzen
Vergesslichkeit bei der persönlichen Vergangenheit
schlechte Stimmung oder Zurückgezogenheit, besonders in sozial oder mental herausfordernden Situationen
Stufe 5: mittelschwer gemindertes Wahrnehmungsvermögen
Es zeigen sich auffällige Gedächtnis- und Denklücken und manche Betroffene fangen an, Hilfestellung bei alltäglichen Aktivitäten zu benötigen. Bei dieser Stufe können Personen mit Alzheimer ...
nicht in der Lage sein, sich an die eigene Adresse oder Telefonnummer zu erinnern.
verwirrt sein darüber, an welchem Ort sie sich befinden oder welcher Tag gerade ist.
Schwierigkeiten mit weniger anspruchsvollem Kopfrechnen haben, wie etwa dem Rückwärtszählen von 40 in 4er-Schritten oder von 20 in 2er-Schritten.
Hilfe benötigen bei der Auswahl von Kleidung, die der jeweiligen Jahreszeit oder dem Anlass angemessen ist.
Die Betroffenen können sich aber immer noch an wichtige Details über sich selbst und die Familie erinnern und benötigen noch keine Unterstützung beim Essen oder beim Gang zur Toilette.
Stufe 6: schwerwiegend gemindertes Wahrnehmungsvermögen
Das Gedächtnis verschlechtert sich weiter, Persönlichkeitsveränderungen können auftreten und Personen benötigen umfangreiche Hilfe bei täglichen Aktivitäten. Bei dieser Stufe können manche Betroffene ...
Schwierigkeiten haben, kurz zurückliegende Ereignisse und ihre Umgebung bewusst wahrzunehmen.
sich an den eigenen Namen erinnern, aber Schwierigkeiten haben, sich an ihre persönliche Vergangenheit zu erinnern.
vertraute von nicht vertrauten Gesichtern unterscheiden, aber Schwierigkeiten haben, sich an den Namen des Ehepartners oder Betreuers zu erinnern.
Hilfe beim Ankleiden benötigen und möglicherweise ohne Aufsicht Fehler machen, wie den Schlafanzug über die Kleider oder Schuhe an den falschen Fuß anziehen.
erhebliche Veränderungen beim Schlafverhalten zeigen.
Hilfe benötigen bei den verschiedenen Schritten des Toilettengangs.
zunehmend häufige Schwierigkeiten mit der Blasen- oder der Darmkontrolle haben.
eine wesentliche Veränderung des Charakters und des Benehmens erfahren, einschließlich Misstrauen und Wahnvorstellungen (wie etwa zu glauben, dass der Betreuer ein Betrüger ist) oder zwanghafte, wiederholte Verhaltensweisen (wie Hände ringen) zeigen.
den Orientierungssinn komplett verlieren.
Stufe 7: sehr schwerwiegend gemindertes Wahrnehmungsvermögen
In der Endstufe der Krankheit verliert eine Person die Fähigkeit, sich seiner Umgebung mitzuteilen, eine Unterhaltung zu führen und Bewegungen zu kontrollieren. In diesem Stadium wird umfangreiche Hilfe bei der täglichen Betreuung benötigt, einschließlich dem Essen oder dem Gang zur Toilette. Die Fähigkeiten zum Lächeln, ohne Unterstützung zu sitzen oder den Kopf aufrecht zu halten kann verloren gehen. Reflexe werden abnormal. Muskeln werden starr. Das Schlucken wird beeinträchtigt.