„Der zweite Bildungsweg war für mich der Jackpot!“
Die junge Mainzer Zahnärztin Dr. Sabrina Reitz wuchs unter schwierigen Bedingungen auf, hat sich aber dennoch nie entmutigen lassen. Nach ihrer ZFA-Ausbildung hat sie sich über den zweiten Bildungsweg ihren Berufswunsch Zahnärztin erfüllt. Jetzt träumt sie von der eigenen Praxis, um anderen eine Chance geben zu können.
Frau Dr. Reitz, Sie sind über den zweiten Bildungsweg zum Zahnmedizinstudium gekommen. Wie kam es dazu?
Dr. Sabrina Reitz: Ich bin in einer Großfamilie aufgewachsen – mit viel Liebe, aber auch vielen finanziellen Schwierigkeiten. Daher bin ich mit 13 Jahren in eine betreute Wohngruppe gezogen. Dies war der Wendepunkt für mich: Mir wurde klar, dass ich der Armut entfliehen und studieren wollte. Das Problem dabei: Ich hatte nur einen Realschulabschluss mit einem Schnitt von 2,9 – nicht gerade eine Glanzleistung. Also absolvierte ich zunächst eine Ausbildung zur ZFA. Dann hörte ich, dass man an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz auch ohne Abitur Zahnmedizin studieren kann. Jackpot! So konnte ich als „beruflich Qualifizierte“ über den zweiten Bildungsweg dort einsteigen.
Das Zahnmedizinstudium ist teuer. Wie konnten Sie es finanzieren?
Für mein Studium habe ich ein Aufstiegsstipendium von der Stiftung Begabtenförderung berufliche Bildung (SBB) des Bundesministeriums für Bildung und Forschung erhalten – das war mein Glück! Die Zusage für das Stipendium erleichterte mir die Entscheidung mich auf das Studium zu fokussieren und mich darauf einzulassen. Denn ohne diese Förderung hätte ich mir das Studium nie leisten können.
Trotzdem musste ich neben dem Studium immer noch arbeiten: unter der Woche sowohl als Mini-Jobberin in einer Kinderzahnarztpraxis – was sehr praktisch war, da ich meine Praxiserfahrung als ZFA weiter ausbauen konnte – als auch als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Corona-Testzentrum der Uni Mainz. Die Wochenenden bestanden aus unzähligen Promotions- und Model-Jobs.
Das Zahnmedizinstudium ist hart, mit mehreren Nebenjobs noch härter. In welchen Situationen im Studium haben Sie sich abgehängt gefühlt?
Vor allem beim Lernen für die Klausuren ist mir klar geworden, dass ich mehr leisten muss als Kommilitonen, die direkt nach dem Abitur das Studium begonnen hatten. Da ich zu diesem Zeitpunkt schon sehr lange aus der Schule raus war, fiel mir das Lernen nicht so leicht. Ich musste mir Vorlesungen mehrfach durchlesen, Karteikarten immer mehrfach schreiben, Zusammenfassungen und Bücher erarbeiten. Dies hat insgesamt sehr viel Zeit in Anspruch genommen.
Ihr Studium war hart, dennoch will Reitz das Lernen nicht drangeben: Jetzt steht für die 33-Jährige der Master in Parodontologie auf der Fortbildungs-Agenda.
Des Weiteren hatte ich aufgrund meines fehlenden Abiturs auch fachliche Lücken in Biologie, Chemie und Physik. Diese musste ich neben der Vorlesungszeit mithilfe von Nachhilfe auch noch aufarbeiten. Und ein Latinum? (lacht) Das hatte ich natürlich auch nicht, also kam noch der Terminologiekurs der Uni Mainz hinzu.
Ich saß also sehr oft – und immer öfter zum Ende des Studiums – von morgens bis abends am Schreibtisch, dann gab es eine kurze Pause und bis nachts ging es wieder an den Schreibtisch zurück. In der Examenszeit war dies extrem: Ich lernte morgens bis zum ersten Sonnenstrahl, legte mich dann kurz schlafen und fing nachmittags wieder mit dem Lernen an. Da neben meinem Studentenzimmer immer mal wieder eine kleine Party gefeiert wurde, musste ich meine Lernzeiten auch noch anpassen oder umstrukturieren (lacht). Dann flüchtete ich in die Bibliothek auf meinen Lieblingsplatz am Fenster mit dem Blick in Richtung „Freiheit“.
Stichwort zweiter Bildungsweg. Welche Erfahrungen haben Sie im Studium im Vergleich zu Ihren KommilitonInnen erlebt?
Ich denke, dass ich vor allem im klinischen Abschnitt durch meine ZFA-Ausbildung immense Vorteile in Bezug auf den Patientenumgang hatte. Die Behandlungsabläufe waren für mich klar, ich fühlte mich endlich dort angekommen, wo ich immer hin wollte, und freute mich darauf, dass ganze theoretische Wissen der Vorklinik endlich anwenden zu können.
Sie haben sich Ihren Berufswunsch erkämpft und viel dafür geleistet. Was müsste sich Ihrer Meinung nach ändern, damit „wirkliche“ Chancengleichheit besteht?
Chancengleichheit heißt für mich, dass jeder die gleichen Chancen auf Bildung und Beruf bekommt. Dies ist aber nicht automatisch der Fall. Kinder aus „schwachen Familien“ werden noch immer abgehängt und können sich nicht den Berufswunsch erfüllen, den sie sich wünschen. Nur mit hartem Ehrgeiz, Willen, unzähligen Nebenjobs und Einbußen in der Freizeitgestaltung ist dies möglich. Auch ich hatte während des Studiums kein „normales“ Leben, habe mich abgerackert. Und das würde ich gerne jedem ersparen. Denn: Es brauchte sehr viel Kraft, um dort zu sein, wo ich jetzt bin.
Die Jobs als Model ermöglichten Dr. Sabrina Reitz exklusive Einblicke in eine Welt, von der sie in jungen Jahren nur träumen konnte. Höhepunkt ihrer Laufsteg-Karriere: das Finale der Wahl zur Miss World Germany in London. Außerdem war Reitz Teilnehmerin bei Austria's Next Topmodel.
Es sollte daher vielmehr Angebote für Kinder und Jugendliche in den Schulen geben. Auch die Anlaufstellen in den Universitäten für Studieninteressierte sollten meiner Meinung nach ausgebaut werden. Ich weiß, wie wichtig niedrigschwellige Fördermöglichkeiten sind, und freue mich, dass es mittlerweile viele Wege gibt, sich für ein Stipendium zu bewerben und finanzielle Unterstützung zu erhalten. Doch gerade in der Zahnmedizin gibt es noch Optimierungsbedarf, da die meisten Stipendienangebote für Allgemeinmediziner sind. Den zweiten Bildungsweg einzuschlagen ist nicht leicht, für mich war es aber die beste Entscheidung meines Lebens!
Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft?
Ich wünsche mir, dass jedes Kind mit ein bisschen mehr Leichtigkeit in die Zukunft sehen kann. Ich bin Kinderzahnärztin geworden, um meine Ideen, meine Leidenschaft und meine Motivation den Kleinen schon früh mitzugeben. Ich sehe meinen Beruf als Berufung an – nicht nur für die Zahn- und Mundgesundheit, sondern auch für Familien, denen ich durch meine Empathie und mein Wissen eine Unterstützung sein kann. Mein Traum ist es, eine eigene Praxis zu gründen und dann anderen die Chance auf einen Praktikums- oder Ausbildungsplatz zu bieten.
Das Interview führte Navina Bengs.
Zum Zahnmedizinstudium ohne Abitur – wie geht das?
„Das Studium an einer deutschen Hochschule steht deutlich mehr Menschen offen, als die offiziellen Statistiken es bisher nahelegen.“ Zu diesem Fazit kommt das Centrum für Hochschulentwicklung in seinem Bericht aus dem Jahr 2020, der sich explizit mit dem Thema „Studieren ohne Abitur“ auseinandersetzt. Die CHE-Berechnungen kommen zu dem Ergebnis, dass faktisch bis zu 80 Prozent der deutschen Bevölkerung studienberechtigt sein könnten. Denn seit über einem Jahrzehnt sind in Deutschland nicht nur Personen mit schulischer Hochschul- und Fachhochschulreife studienberechtigt, auch Menschen mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung plus Berufserfahrung steht dieser Weg unter bestimmten Bedingungen offen.
Seit 2011 hat sich die Zahl der Studierenden ohne Abitur in Deutschland von 32.200 auf 70.338 mehr als verdoppelt. Der Anteil der Studierenden ohne Abitur im Studienfach Humanmedizin inklusive Zahnmedizin ist dem Trend folgend in den vergangenen Jahren ebenfalls gestiegen. Gab es im Jahr 2014 nur 534 Studierende ohne schulische Hochschulzugangsberechtigung im Fach Humanmedizin inklusive Zahnmedizin, waren es im Jahr 2020 insgesamt 1.071 Studierende. Damit hat sich deren Anzahl in sechs Jahren verdoppelt. Gestiegen ist auch die Zahl der AbsolventInnen ohne Abitur im Fach Humanmedizin inklusive Zahnmedizin. Gab es im Jahr 2014 lediglich 25, ist die Zahl im Berichtsjahr 2020 auf 85 gestiegen und hat sich somit mehr als verdreifacht. Insgesamt ist der Anteil der Personen, die ohne Abitur Human- oder Zahnmedizin studieren jedoch vergleichsweise gering.
Bei den StudienanfängerInnen ohne Abitur stehen laut einer aktuellen Auswertung des CHE (auf Basis der jüngsten verfügbaren Daten aus dem Jahr 2021) die Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften auf der Beliebtheitsskala ganz oben. Mehr als die Hälfte der beruflich qualifizierten Erstsemester (54 Prozent) haben sich im Jahr 2021 für ein Fach aus diesen Bereichen entschieden. An zweiter Stelle stehen die Ingenieurwissenschaften mit einem Anteil von rund 19 Prozent. An dritter Stelle folgt der Bereich „Humanmedizin und Gesundheitswissenschaften“ mit rund 14 Prozent. Dabei verdeutlicht eine detaillierte Aufschlüsselung der Daten, dass sich hier 94 Prozent der StudienanfängerInnen ohne Abitur im Bereich der Gesundheitswissenschaften eingeschrieben haben. Darunter fallen Bachelor- und Masterstudiengänge unter anderem aus den Bereichen „Pflegewissenschaften“, „Gesundheitsmanagement“, „Physiotherapie“ oder „Public Health“. Nur 105 Personen haben einen Studienplatz im Bereich Humanmedizin inklusive Zahnmedizin erhalten, was sechs Prozent ausmacht. An vierter Stelle des Rankings liegt die Fächergruppe Kunst und Kunstwissenschaften mit rund fünf Prozent, gefolgt von den Geisteswissenschaften mit knapp drei Prozent.
„Zwischen den Bundesländern gibt es zum Teil erhebliche Unterschiede bei den Zugangsbedingungen“, heißt es im CHE-Bericht. Demnach schreiben sich die meisten beruflich qualifizierten Erstsemester in Thüringen, Hamburg und Bremen ein. Die Spitzengruppe wird angeführt von Thüringen mit einem Erstsemesteranteil von 13,5 Prozent, dahinter Hamburg mit 5,1 und Bremen mit 4,9 Prozent. Hauptverantwortlich für den hohen Wert in Thüringen ist die IU Internationale Hochschule. Rund ein Viertel aller StudienanfängerInnen ohne Abitur in Deutschland ist momentan an der IU mit Hauptsitz in Erfurt eingeschrieben. Neben der IU gehören die staatliche FernUniversität in Hagen und die private Diploma Hochschule zu den drei am stärksten nachgefragten Hochschulen bei Erstsemestern, die über den beruflichen Weg ins Studium gelangen.
Die nachschulische Bildung in Deutschland mache es Menschen schwer, „einen einmal eingeschlagenen Bildungsweg an veränderte Zielvorstellungen anzupassen“, lautet das Fazit des CHE. Besonders deutlich werde die Problematik, wenn Bildungsinteressierte zwischen beruflicher und akademischer Bildung „umsteigen“ wollen. Denn viele gute Ansätze zur Verschränkung beruflicher und akademischer Bildung existierten derzeit nur lokal oder regional. Systematisierungsansätze seien noch nicht sehr ausgeprägt. „Damit ist es vom Zufall abhängig, ob der benötigte Bildungsweg oder Übergang in erreichbarer Nähe existiert oder nicht – oder ob man von einem eigentlich perfekt passenden Bildungsweg überhaupt erfährt. Es fehlt an übergreifender Transparenz und Erwartungssicherheit“, heißt es im CHE-Bericht. Entsprechend seien vielen Bildungsinteressierten die ihnen offenstehenden Handlungs- und Anschlussmöglichkeiten nicht ausreichend bewusst.
Nickel, Sigrun; Thiele, Anna-Lena: Update 2022: Studieren ohne Abitur in Deutschland - Überblick über aktuelle Entwicklungen, CHE Impulse Nr. 9, Gütersloh, 2022, 57 Seiten, ISSN: 2702-5268, ISBN: 978-3-947793-65-5
Wie das Zulassungsverfahren für ein Medizinstudium ohne Abitur funktioniert oder welche Studienmöglichkeiten mit einer beruflichen Qualifikation bestehen, erfährt man auf dem Informationsportal www.studieren-ohne-abitur.de des CHE.