„Der krasseste Fall war die OP eines Mannes nach einem Bärenangriff“
Das Ziel war klar: Nepal sollte es werden und damit hinein in die Fußstapfen von Gwendolin's Vater und Großvater, die schon vor mehr als 25 Jahren beim Auf- und Ausbau des dortigen Krankenhauses medizinische und zahnmedizinische Hilfe geleistet haben. Die Kontaktaufnahme dorthin war einfach. Fünf Minuten nachdem wir die Bewerbung abgeschickt hatten, erreichte uns schon die Zusage von Dr. Dashrath Kafle, dem Leiter der Zahnmedizinischen Klinik. Kurz darauf buchten wir die Flüge und nahmen Impfungen, das Visum und alle anderen Vorbereitungen in Angriff.
Das erste Nahtoderlebnis hatten wir im Taxi zum Hotel
Bei der Ankunft in Kathmandu im Juli bekamen wir dann tatsächlich einen Kulturschock: Die Stadt ist riesig, sehr chaotisch, es gibt keine Verkehrsregeln, stattdessen wird nur gehupt. Das erste Nahtoderlebnis hatten wir bereits auf der Taxifahrt zum Hotel. Für die 30 Kilometer nach Dhulikhel am nächsten Tag brauchten wir zwei Stunden. Auf der Fahrt wurde uns schon erklärt, dass man in Nepal Wege nicht in Kilometern, sondern in Stunden berechnet. Das macht Sinn! Untergebracht wurden wir freundlicherweise in einem Guesthouse der Klinik mit Blick auf den Himalaya. Das war schon mal ein beeindruckender Auftakt. Dann folgte der erste Arbeitstag mit einer Rundführung durch den riesigen Klinikkomplex, dazu Erklärungen zur Geschichte des Krankenhauses und den aktuellen Projekten.
Das wichtigste Projekt des Krankenhauses sind die Outreach Center (OC), von denen es mittlerweile 16 gibt und die die Versorgung von Menschen in den ländlichen Regionen ermöglichen. Denn die Wege nach Dhulikhel dauern zum Teil drei bis vier Tage. Die OC sind immer von mindestens einem Allgemeinmediziner und zwei Krankenschwestern besetzt. Zehn von ihnen verfügen über kleine OP-Säle, acht haben eine zahnmedizinische Einheit, die aber auch für gynäkologische Untersuchungen und Geburten verwendet wird. Einmal im Monat besuchen Teams aller medizinischen Fachrichtungen die OC. Es gibt auch viele zahnmedizinische Projekte, betreut von dem Leiter der Abteilung „Community Dentistry“, Dr. Dilip Prajapati, den wir in unserer letzten Woche zu den OC begleitet haben.
Die ersten zehn Tage verbrachten wir in der Konservierung und Endodontologie unter der Betreuung von Dr. Anil Chakradhar. Mit gewöhnungsbedürftigen Gegebenheiten: 15 Behandlungsstühle befinden sich in einem großen Raum, die Wasserkühlung erfolgt durch Assistenz mittels Wasserspritze. Die Stühle und besonders das Licht funktionierten nur mäßig. Außer in der Chirurgie wird keine Anästhesie verwendet. Und dennoch waren alle Patienten sehr viel tapferer, dankbarer und freundlicher, als wir es je zuvor erlebt haben. Gearbeitet wird übrigens hauptsächlich mit Komposits. Sehr überrascht hat uns die überragende Mundhygiene der Patienten! Die Menschen essen schlicht erheblich viel weniger Zuckerzeug in Nepal.
Uns haben in den ersten paar Tagen zum einen die unglaubliche Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit aller überrascht. Zum anderen aber auch die Lebensweise der jungen Leute, die sich sehr von unserer unterscheidet. Religion und Hochzeit innerhalb der eigenen Kaste und zum Teil sogar innerhalb der gleichen Berufsgruppe stehen hier im Vordergrund – sowohl Männer als auch Frauen leben hier solange bei ihren Eltern, bis sie heiraten. Viele Leute waren sehr schockiert, als sie herausfanden, das wir beide nicht verheiratet sind und trotzdem zusammen auf Reisen gehen.
Gesichtsrekonstruktionen sind an der Tagesordnung
Am Ende der zweiten Woche ging es für uns in die Chirurgie. In Nepal sind Oralchirurgen gleichzusetzen mit MKGlern. Hier wurden vom selben Arzt Lappalien wie retinierte Weisheitszähne operiert, aber eben auch Gesichtsrekonstruktionen, Ameloblastom-Entfernungen und so weiter vorgenommen. Wir wurden dann gefragt, ob wir lieber im Out Patient Department arbeiten und selber Extraktionen vornehmen wollen oder im Operation Theater assistieren beziehungsweise hospitieren wollen. Die großen OPs, die dort vorgenommen wurden, wollten wir miterleben.
Während unserer Famulatur gab es bemerkenswerte Patientenfälle. Zum Beispiel wurde ein 20-Jähriger mit Ameloblastom in der rechten Seite der Mandibula vorstellig. Es erfolgte eine extensive Mandibularesektion und Rekonstruktion mittels Fibula-Transplantat und Anastomose. Die Operation hat ganze 15 Stunden gedauert. Den Patienten durften wir in den Tagen nach der OP mit betreuen. Außerdem waren Zygomaticus- und Orbita-Rekonstruktionen nach Verkehrsunfällen fast an der Tagesordnung, weil natürlich niemand mit Helm Moped und Motorrad fährt.
Ein wirklich krasser Fall war die Operation eines Mannes, der von einem Bären im Himalaya angegriffen wurde. Der Transport des schwer gezeichneten Patienten dauerte alleine über vier Tage bis ins Krankenhaus. In der ersten OP erfolgte die Rekonstruktion der kompletten rechten Gesichtshälfte und die Fixierung des echten Auges. Einen Monat danach die Weichgewebsrekonstruktion. An unserem letzten Tag in der Chirurgie durften wir bei einer weiteren Ameloblastom-OP hospitieren. Diesmal handelte es sich um ein Rezidiv, dass sich von der Region der rechten Schläfe bis zur Maxilla ausgebreitet hat.
In unserer letzten Woche waren wir in den Outreach Centers und haben dort mit wenigen Materialien grundlegende Behandlungen durchgeführt. War mal keine Einheit zur Verfügung, wurde halt auf Bürostühlen mit Stirnlampe behandelt. In den OC werden auch Kinder mittels Plaqueanfärbung und Zahnputzroutine zur Mundpflege aufgeklärt. Die Angebote für grundlegende Eingriffe sind sehr günstig: Eine einfache Füllung kostet mit GIZ umgerechnet 60 Cent und für Extraktionen zahlt man einen Euro. Und dann ist da noch das „Denture Project“, bei dem in jedem OC einmal im Jahr zwei Wochen durch ein Team von Zahnärzten und Zahntechnikern Prothesen hergestellt werden. Den letzten Tag verbrachten wir bei Dr. Kafle in der Kieferorthopädie. Wir waren überrascht, wie viele Patienten eine KFO Behandlung bekommen.
Unsere Erwartungen wurden in allen Bereichen bei Weitem übertroffen, weshalb wir dieses tolle Krankenhaus und insbesondere die zahnmedizinische Abteilung mit ihren großartigen und selbstlosen Ärzten immer wieder unterstützen würden.