Interview mit Dominik Groß und Sarah Wellens

„Es war schon eher die Suche nach der Nadel im Heuhaufen“

Zahnärzte als Widerstandskämpfer und „Staatsfeinde“ im „Dritten Reich“ – diese neue Artikelreihe widmet sich einer Gruppe von Personen, die im Untergrund gegen das NS-Regime opponiert haben. Prof. Dr. Dr. Dr. Dominik Groß und Sarah Wellens vom Uniklinikum der RWTH Aachen haben erstmals die Biografien von zehn „Widerständlern“ aufgespürt, für die zm aufgearbeitet und damit die Geschichte des Berufsstandes um eine neue Facette erweitert. Ein Interview mit dem Autorenteam.

Sie haben mit Porträts über Zahnärzte als Widerstandskämpfer im NS-Regime eine bislang kaum beachtete Personengruppe wissenschaftlich aufgearbeitet. Wie kam es dazu, und warum jetzt?“

Dominik Groß: Die Frage ist sehr berechtigt: Das Forschungsprojekt, das wir von 2017 bis 2020 für die Bundeszahnärztekammer, die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung und die Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde durchführten, war auf die Täter und auf die Verfolgten des Nationalsozialismus fokussiert. Das war, gemessen am finanziellen Volumen, schon ein sehr umfangreiches Forschungsprogramm.

Bestimmte Aspekte und Themen mussten wir bei diesem Projekt ausblenden: zum Beispiel Detailstudien zur Zwangsarbeit in zahnärztlichen Praxen, Untersuchungen zum Ausmaß an Zwangssterilisationen bei Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und eben auch die mögliche Rolle von Zahnärzten in der Widerstandsbewegung und in der politischen Opposition. Letzteres hatte ich aber stets im Hinterkopf, weil es mich persönlich besonders interessiert hat.

Diese Personen aufzuspüren und Fakten über sie zusammenzutragen, war bestimmt sehr aufwendig. Was waren die größten Herausforderungen?

Groß: Die größte Herausforderung war tatsächlich, überhaupt an alle Namen heranzukommen, also die Personen erst einmal zu identifizieren. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind die betreffenden Zahnärzte nicht oder nur oberflächlich bekannt gewesen. So schön es auch wäre: Es gibt leider bislang keine „fertigen“ Listen von Widerstandskämpfern oder politisch oppositionellen Personen, die man auf die Schnelle mit dem Suchbefehl „Zahnarzt“ screenen könnte. Es war also schon eher die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.

Die zweite Herausforderung betrifft die Ressourcen: Solche Recherchen sind sehr zeit- und personalintensiv. Auch für mich als Leiter eines Forschungsinstituts ist das ein Knackpunkt. Die Lehrverpflichtungen an der Fakultät und die fremdfinanzierten Forschungsprojekte müssen ja stets Vorrang haben vor solchen „Herzensprojekten“, die ohne finanzielle Förderung daherkommen.

Wie sind Sie bei Ihrer Recherche vorgegangen?

Groß: Ich habe versucht, das Thema von mehreren Seiten anzugehen und so handhabbar zu machen. Zum Ersten habe ich ja bereits vor über 30 Jahren begonnen, eine biografische Sammlung von Zahnärzten, MKG-Chirurgen und Dentisten anzulegen. Daraus ist mit der Zeit ein Fundus von mehr als 4.000 Personen geworden, die ich in unterschiedlicher Detailliertheit digital erfasst habe. Dort konnte ich erste oppositionelle Zahnärzte identifizieren.

Zum Zweiten liegen mir alle gedruckten Zahnärzte-Bücher der Zeiträume vor 1933, zwischen 1933 und 1945 sowie nach 1945 vor; hier findet man alle registrierten Zahnärzte mit ihren Geburtsjahren und Wohnorten. Auch wichtige standespolitische Funktionen sind dort verzeichnet. So kann man zum Beispiel immerhin feststellen, welche Fachvertreter im Verlaufe des „Dritten Reiches“ aus den Verzeichnissen verschwinden und/oder ihre Posten verlieren.

Zum Dritten gibt es ein am 1. Oktober 1934 erschienenes „Verzeichnis der nichtarischen und staatsfeindlichen Ärzte, Zahnärzte und Dentisten“ der Krankenkasse der Deutschen Angestellten. In dieses Verzeichnis setzte ich die größten Hoffnungen, wobei sich letztlich zeigte, dass es fast keine nichtjüdischen Heilpersonen auflistet.

Und zum Vierten habe ich die verfügbare Sekundärliteratur zur Widerstandsbewegung im „Dritten Reich“ systematisch auf Personen und deren Berufe überprüft. Der Zeitbedarf bei einem solchen „mehrteiligen“ Vorgehen ist schon sehr hoch – das funktioniert eigentlich nur, wenn man eine solche Spurensuche nicht als Arbeit empfindet, sondern als spannende Freizeitbeschäftigung.

Wie lange haben die Recherchen insgesamt gedauert?

Groß: Letztlich bin ich ja seit 1990 an diesem Themengebiet dran. Intensiviert habe ich diese Arbeit Ende 2019, als ich den ersten Teil meines Personenlexikons in eine druckreife Form brachte und dabei alle Zahnärzte meiner Sammlung nochmal intensiver durchforstet habe. Bis 2022 hatte ich insgesamt zwei Dutzend Personen identifiziert, die als „Widerstandskämpfer“ oder als „Staatsfeinde“ einzuordnen waren. Dann kam ich auf die Idee, zu diesem Thema eine Doktorarbeit zu vergeben und diese bis dahin noch bruchstückhaften Biografien weiter wissenschaftlich ausarbeiten zu lassen. So kam Sarah Wellens ins Spiel: Sie hat das Promotionsprojekt übernommen und von Anfang an sehr viel Engagement gezeigt.

Frau Wellens, welche Aufgaben haben Sie übernommen?

Sarah Wellens: Herr Groß hat mir letztes Jahr seine Rechercheergebnisse ausgehändigt und ich versuche seitdem, mehr über die Personen herauszufinden. Ich führe Internet-Recherchen durch, screene die umfangreiche Fachbibliothek des Instituts nach diesen Personen, suche in Ahnenportalen von Ancestry®, Geni® und MyHeritage® nach den Zahnärzten und deren Familien und kontaktiere Archive in Städten und Landgemeinden, in denen diese gelebt oder gewirkt haben. Mittlerweile habe ich zu einigen Personen so viel ergänzendes Material gefunden, dass Herr Groß die Idee hatte, der zm-Redaktion eine Serie zu diesem Thema vorzuschlagen. Zu meiner Freude hat die Redaktion Ja gesagt!

Wir wollen vor allem nichtjüdische Zahnärzte vorstellen – ungeachtet der Tatsache, dass es gerade in der Weimarer Republik – naheliegenderweise – auch jüdische Mediziner gab, die sich politisch gegen den Nationalsozialismus und seine antisemitische Ideologie zur Wehr setzten, vor allem im „Verein sozialistischer Ärzte“. Für mich ist diese Reihe eine große Motivation, dranzubleiben und noch möglichst viele Mosaiksteine zusammenzutragen. Am Ende meines Promotionsprojektes möchte ich nicht nur zu allen identifizierten Personen vollständige Lebensläufe vorlegen, sondern diese Gruppe auch vergleichend analysieren, das heißt, ich möchte schauen, was diese Zahnärzte gemeinsam haben, was sie unterscheidet und wie ihre Lebenswege nach 1945 weitergingen – soweit sie die NS-Diktatur überlebt haben. Das Ganze wird dann vermutlich als Buch erscheinen, oder alternativ als größerer englischsprachiger Aufsatz.

Sie unterscheiden zwischen Widerstandskämpfern und „Staatsfeinden“? Wo ziehen Sie da die Grenze? Sind nicht alle „Widerständler“ auch Staatsfeinde?

Wellens: Ja und nein. Es gibt in der Tat fließende Übergänge – das ist auch der Grund, warum wir beide Gruppierungen im Promotionsprojekt zusammen betrachten. Dennoch gehen wir von unterschiedlichen „Arbeitsdefinitionen“ aus: Unter einem Widerstandskämpfer verstehen wir eine Person, die im Untergrund gegen die Ideologie und die Politik des Nationalsozialismus und damit gegen das NS-Regime agiert. Sie handelt also aus einer Tarnung heraus, subversiv und in dem Bemühen, nicht entdeckt und entlarvt zu werden.

Der Begriff „Staatsfeind“ ist dagegen ein Stempel, den das NS-Regime vergab: So wurden meist Personen bezeichnet, die vor Hitlers „Machtergreifung“ einer politischen Partei oder Organisation angehörten, die von den Nationalsozialisten als „feindlich“ angesehen wurde. Zahnärzte mit einer solchen politischen Vergangenheit wurden also 1933 zu unliebsamen Personen erklärt und lebten deshalb besonders gefährlich. Sie sind zahlenmäßig häufiger als Widerstandskämpfer.

Aber, wie gesagt, die Grenzen sind fließend: Auch „Widerständler“ konnten enttarnt und in der Folge zu „Staatsfeinden“ erklärt oder gar hingerichtet werden. „Staatsfeinde“ wiederum flohen zum Teil ins Ausland, um sich dort antinationalsozialistischen Gruppierungen anzuschließen und so Widerstand zu leisten. Allen hier vorgestellten Personen ist gemeinsam, dass sie in einer politisch-ideologischen Gegnerschaft zum NS-Regime standen.

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Welchen Beitrag kann Ihre Forschungsarbeit für die Aufarbeitung der Geschichte des zahnärztlichen Berufsstandes leisten?

Groß: Sie soll vor allem das Bild vervollständigen. Natürlich war es das wichtigste Anliegen des eingangs erwähnten Forschungsprojektes, die politische Verstrickung der zahnärztlichen Berufsgruppe im „Dritten Reich“ herauszuarbeiten und so eine Aufarbeitung dieser Vergangenheit zu ermöglichen – und dazu braucht es vor allem den Blick auf zahnärztliche Täter und ihre Motive.

Doch unser wissenschaftlicher Anspruch geht weiter: Wir wollen ein möglichst differenziertes und vollständiges Bild der Zahnärzteschaft im „Dritten Reich“ entwerfen. Und dazu gehört eben auch die Untersuchung der zahnärztlichen Widerstandskämpfer und politischen Gegner des NS-Regimes.

Wellens: Hinzu kommt: Die von uns porträtierten Zahnärzte haben eine beeindruckende Zivilcourage gezeigt und dabei ihr Leben riskiert – und diese außergewöhnlichen Leistungen wollen wir mit der neuen Reihe würdigen. Sie verdienen es einfach, bekannt gemacht zu werden!

Die Fragen stellte Gabriele Prchala.

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