Der weite Weg zum Label
Die Markierung sei nicht ausreichend, um die Gesundheit der Amerikaner zu schützen, urteilen einige Ernährungsexperten und Politiker, darunter auch Bernie Sanders, Vorsitzender des Gesundheitsausschusses des US-Senats. Er plädiert für ein strengeres System und forderte im Februar dieses Jahres die FDA auf, „eine starke Kennzeichnung auf der Vorderseite der Verpackungen einzuführen, damit alle Verbraucher, insbesondere Kinder, erkennen können, welche Produkte gesundheitsschädlich sind“.
Laut den Centers for Disease Control and Prevention (CDC) sind in den USA 19,7 Prozent der Kinder und Jugendlichen adipös, bei den Erwachsenen sogar 41,9 Prozent. Während die Zahl adipöser Menschen laut Erhebungen zwischen 1960 und 1980 nur leicht – von 13,4 Prozent auf 15 Prozent – gestiegen ist, lag der Wert 1994 schon bei 23,3 Prozent, 2000 bei 30,9 Prozent [Flegal et al., 2002] und 2020 bei den besagten 41,9 Prozent. Dann reißt die Datenerfassung ab – wegen der Pandemie wurden seit März 2020 keine Erhebungen zum Thema mehr durchgeführt.
Sind die hochverarbeiteten Lebensmittel schuld?
„Andere Länder verstehen, dass Fettleibigkeit bei Kindern eine große Gesundheitskrise ist. Wir müssen dasselbe tun", fordert Sanders. Auf Tabaketiketten in den USA stehe schließlich auch nicht „hoher Teergehalt, hoher Nikotingehalt, hoher Gehalt an Karzinogenen“, sondern „Zigaretten verursachen Krebs“.
In der Wissenschaft erhärtet sich die Erkenntnis, dass auch hochverarbeitete Lebensmittel (ultra-processed foods, kurz: UPF) mit Typ-2-Diabetes, Angina oder Herzinfarkt [Menichetti et al., 2023], Morbus Crohn [Chen et al., 2023], kognitiver Leistungsreduktion [Gomes Gonçalves et al., 2022] und Depression [Samuthpongtorn C. et al., 2023] in Verbindung gebracht werden müssen. Studien belegen ebenfalls, dass der Verzehr von hochverarbeiteten Lebensmitteln direkt mit einer gesteigerten Kalorienaufnahme und einem höheren Adipositas-Risiko [Pagliai et al., 2021; Temple, 2022] verbunden ist.
Mittlerweile hätten mehr als zehn Prozent der US-Bürger infolge von Adipositas eine diagnostizierte Typ-2-Diabetes, schreibt Sanders weiter. Gleichzeitig machten einer aktuellen Studie zufolge hochverarbeitete Lebensmittel in den USA inzwischen 73 Prozent der Nahrungsmittelversorgung aus [Manichetti et al., 2024]. Diese könnten „ebenso süchtig machen wie Alkohol und fast so süchtig wie Zigaretten“, argumentiert Sanders: „Schätzungen zufolge wird die Zahl der Kinder mit Typ-2-Diabetes in den nächsten 40 Jahren um 700 Prozent steigen, wenn die Vereinigten Staaten ihren Kurs nicht ändern.“
Die Industrie bestreitet den Nutzen
Auch die Lebensmittelkonzerne sind gegen die von der FDA geplanten Label. Mit entsprechenden Kampagnen und Studien versuchen sie – wie schon die Tabaklobby –, die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu verwässern. Dazu muss man wissen, dass es sich zum Teil um dieselben Akteure handelt (zm berichtete, siehe bit.ly/zm_UPF): In den 1980er- bis 2000er-Jahren kauften sich die US-amerikanischen Tabakkonzerne R.J. Reynolds Tobacco Holdings und Philip Morris in die Lebensmittelindustrie ein und wurden dadurch mit zu den größten Produzenten von UPF.
Jede Änderung dauert Jahre
Die 1990 eingeführte Nährwertkennzeichnung auf verpackten Lebensmitteln wurde zuletzt 2016 aktualisiert, „um den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung zu tragen“, wie es heißt. Seitdem weisen die meist an der Seite oder auf der Rückseite angebrachten Angaben auf die empfohlene Portionsgröße, auf die Kalorien pro Portionsgröße sowie auf die Mengen an ungesättigten Fettsäuren und zugesetzten Zuckern hin. Bis zur verbindlichen Einführung blieb den Herstellern –abhängig vom Jahresumsatz und vom Produktbereich – bis Juli 2021 Zeit.
2018 kündigte die FDA dann eine „Nutrition Innovation Strategy“ an, die eine Verringerung vermeidbarer Todesfälle und Krankheiten im Zusammenhang mit schlechter Ernährung zum Ziel hatte. Verbraucheraufklärung – etwa durch Lebensmittelkennzeichnungen – sei „ein Schlüsselelement der laufenden Bemühungen“, informierte die Behörde.
Die Industrie bestreitet außerdem, dass ein Label Einfluss auf die Lebensmittelauswahl und die Adipositasraten der Amerikaner hat. Lobbyvertreter warnen sogar, dass solche Anforderungen an die Hersteller die Lebensmittelpreise in die Höhe treiben würden. „Sie fragen sich, ob die FDA die Befugnis hat, solche weitreichenden Änderungen vorzunehmen“, schreibt die Washington Post, und sähen ausreichend Gründe, die Bundesregierung wegen der Begrenzung der „kommerziellen Meinungsfreiheit“ zu verklagen.
Verzögert sich die Einführung eines verpflichtenden Lebensmittel-Labels in den USA weiter, könnte das Land dauerhaft eine Sonderrolle auf dem amerikanischen Kontinent einnehmen. Heute gelten in Chile (Juni 2016), Peru (Juni 2019), Mexiko und Brasilien (beide Oktober 2020), Uruguay (März 2021), Kolumbien (Dezember 2022) und Argentinien (Februar 2023) entsprechende verpflichtende Regelungen. Bereits verabschiedet, aber noch in Kraft sind Regelungen in Venezuela (ab Dezember 2024) und Kanada (ab Januar 2026) – und auch in Bolivien und Ecuador gibt es verbindliche Regularien, auch wenn diese noch nicht komplett umgesetzt sind.
In Chile waren die Maßnahmen mit einer signifikanten Abnahme der Gesamtkalorien (-3,5 Prozent) wie auch mit einem reduzierten Konsum von Zucker (-10,2 Prozent), Salz (-4,7 Prozent) und gesättigten Fettsäuren (-3,9 Prozent) verbunden, zeigt eine Studie [Taillie et al., 2021]. Gleichzeitig hatten die Warnhinweise keine negativen Auswirkungen auf die Lebensmittelwirtschaft [Paraje et al., 2021], obwohl die Grenzwerte in Chile viel schärfer sind, als die USA sie plant. Laut Washington Post würde eine Vielzahl von Snacks, die in Chile zum Beispiel Warnhinweise wie „zu viel Salz“ tragen, beim FDA-Label gut wegkommen.
Sanders zufolge müsse der Kongress dem Druck der US-Industrie standhalten, ähnlich wie vor Jahrzehnten gegen die Tabakunternehmen, als er Warnhinweise auf Zigarettenschachteln vorschrieb. Der Senator wünscht sich plakative schwarze Hinweise in Stoppschild-Form wie in Südamerika, die aber noch über die dort geltenden Regeln hinaus vor UPF und Süßstoffen warnen.
Britische Kleinkinder nehmen zu fast 50 Prozent hochverarbeitete Lebensmittel zu sich
Britische Kleinkinder beziehen 47 Prozent ihrer Kalorien aus hochverarbeiteten Lebensmitteln (UPFs), bei den Siebenjährigen steigt der Anteil auf 59 Prozent. Forschende vom University College London untersuchten für ihre Studie die Daten von 2.591 Kindern im Alter von 21 Monaten, die in den Jahren 2007 und 2008 in Großbritannien geboren sind. Die Eltern zeichneten drei Tage lang auf, was ihre Töchter und Söhne aßen und tranken. Die häufigsten UPFs, die die Kids zu sich nahmen, waren aromatisierte Joghurts und Vollkorn-Frühstückscerealien, also Produkte, die als gesund gelten. Im Alter von sieben Jahren waren die häufigsten UPFs süße Cerealien, Weißbrot und Pudding. UPFs werden industriell hergestellt und enthalten Zutaten, die in der Hausmannskost nicht oder nur sehr selten verwendet werden, wie Emulgatoren, Farbstoffe und Süßstoffe. Bei allen Kleinkindern überstieg der Konsum von freiem Zucker das von der britischen Regierung empfohlene Maximum von 5 Prozent der täglichen Kalorienaufnahme.
Die Studie:
Conway, R.E., Heuchan, G.N., Heggie, L. et al. Ultra-processed food intake in toddlerhood and mid-childhood in the UK: cross sectional and longitudinal perspectives. Eur J Nutr (2024).
Doch im März 2024 forderte erst der Kongress die FDA auf, eine Erklärung ihrer rechtlichen Befugnis vorzulegen, um Etiketten auf der Vorderseite von Lebensmittelverpackungen zu verlangen. Bundesbeamte beriefen sich auf das Ernährungskennzeichnungs- und Bildungsgesetz von 1990, das der Behörde damals die verbindliche Einführung von Nährwertangaben erlaubte (siehe Kasten). Nur vier Monate später sorgte eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs für eine Quasi-Entmachtung vieler US-Bundesbehörden, auch der FDA. Das Urteil ist eine Abkehr von der seit 1984 geltenden, sogenannten Chevron-Doktrin. Damals ging es um die Auslegung eines Gesetzes über Schadstoffemissionen. Die Verfassungsrichter hatten entschieden, es liege im Ermessen der mit der Umsetzung betrauten Regierungsbehörden, und nicht von Gerichten, unklare, mehrdeutige oder lückenhafte Formulierungen in Gesetzen auszulegen – solange diese Interpretation „vernünftig“ und „zulässig“ ist.
Der Supreme Court entmachtete die Behörden
40 Jahre später ist es nun bedeutend leichter für Industrieunternehmen, jede behördliche Entscheidung anzufechten, berichten US-Medien. Im Fall der FDA könnten dies zukünftige – womöglich sogar auch zurückliegende – Regelungen sein, etwa wenn es um festgelegte Grenzwerte geht, um Medikamentenzulassungen, aber auch um Tabakverbote oder Lebensmittelkennzeichnungen.
Als „extrem besorgniserregend“ bewertet Dr. Neena Prasad, Leiterin des Food Policy Program der Hilfsorganisation Bloomberg Philanthropies die Situation. „Die Beweise sind so klar. Und es gibt Beispiele aus der ganzen Welt, die zeigen, was die Werkzeuge in unserer Toolbox sind und was effektiv ist“, sagte die Ärztin der Washington Post. „Man kann nur schlussfolgern, dass die Interessen der Hersteller dieser Produkte eine höhere Priorität haben als die öffentliche Gesundheit.“
Literaturliste
Chen J. et al., Intake of Ultra-processed Foods Is Associated with an Increased Risk of Crohn’s Disease: A Cross-sectional and Prospective Analysis of 187 154 Participants in the UK Biobank, Journal of Crohn's and Colitis, Volume 17, Issue 4, April 2023, Pages 535–552, doi.org/10.1093/ecco-jcc/jjac167
Flegal KM, Carroll MD, Ogden CL et al., Prevalence and Trends in Obesity Among US Adults, 1999-2000. JAMA. 2002;288(14):1723–1727. doi:10.1001/jama.288.14.1723
Gomes Gonçalves et al. Association Between Consumption of Ultraprocessed Foods and Cognitive Decline. JAMA Neurol. 2023;80(2):142–150. doi:10.1001/jamaneurol.2022.4397
Menichetti G. et al., Machine learning prediction of the degree of food processing. Nat Commun14, 2312 (2023). doi.org/10.1038/s41467-023-37457-1
Menichetti G, Barabási AL, Loscalzo J. Decoding the Foodome: Molecular Networks Connecting Diet and Health. Annual Review of Nutrition Volume 44, 2024, doi.org/10.1146/annurev-nutr-062322-030557
Pagliai, G. et al., Consumption of ultra-processed foods and health status: A systematic review and meta-analysis. British Journal of Nutrition,125(3), 308-318. doi:10.1017/S0007114520002688
Paraje G. et al., The effects of the Chilean food policy package on aggregate employment and real wages,Food Policy,Volume 100,2021,102016,ISSN 0306-9192, doi.org/10.1016/j.foodpol.2020.102016.
Samuthpongtorn C. et al. Consumption of Ultraprocessed Food and Risk of Depression. JAMA Netw Open. 2023;6(9):e2334770. doi:10.1001/jamanetworkopen.2023.34770
Taillie et al., Changes in food purchases after the Chilean policies on food labelling, marketing, and sales in schools: a before and after study. Lancet Planet Health. 2021 Aug;5(8):e526-e533. doi: 10.1016/S2542-5196(21)00172-8. PMID: 34390670; PMCID: PMC8364623.
Temple NJ. The Origins of the Obesity Epidemic in the USA-Lessons for Today. Nutrients. 2022 Oct 12;14(20):4253. doi: 10.3390/nu14204253. PMID: 36296935; PMCID: PMC9611578.