„So nachhaltig wie vernünftig möglich“
Herr Dr. Raju, was macht für Sie nachhaltige Zahnmedizin aus?
Dr. Davinder Raju: Für mich ist das ein ganzheitlicher Ansatz – die Verflechtung von Umweltbewusstsein mit einer maßgeschneiderten Patientenversorgung, einem motivierten Team und natürlich der Rentabilität der Zahnarztpraxis. Eine umfassend nachhaltige Ausrichtung ist zwar nicht möglich, aber mit kleinen Strategien kann jeder einiges positiv bewirken. Das Ganze sehe ich auch nicht als Trend, sondern als eine Bewegung, die das gesamte zahnmedizinische Ökosystem aus Zahnärzten, Herstellern, Lieferanten, Gemeinden und Patienten mitnimmt.
Wie setzen Sie Nachhaltigkeit in Ihrer Praxis konkret um?
Bei den Patienten setzen wir voll und ganz auf Prävention, Früherkennung und Therapien mit möglichst minimalen Eingriffen. Es ist logisch, dass fast alle Zahn- und Parodontalerkrankungen geringe Umweltkosten verursachen, wenn sie durch präventive Maßnahmen verhindert oder abgemildert werden können. Der ethisch und moralisch Imperativ heißt also: Verhindern, was vermeidbar ist! Prävention spart Ressourcen. Darüber hinaus betonen wir den Zusammenhang zwischen der Mundgesundheit und der systemischen Gesundheit.
Wir erzeugen Strom vor Ort mit Solarzellen auf dem Dach der Praxis. Jede zusätzliche Energie beziehen wir von Anbietern erneuerbarer Energien. Wir heizen effizient. Effektiv ist es auch, Patiententermine – wann immer möglich – zu bündeln, zum Beispiel die PZR mit der Kontrolle oder der Behandlung zu verbinden. Oder Familienangehörige gemeinsam in die Praxis zu bestellen, um Anfahrtswege zu sparen.
Irgendwo muss man anfangen. Raju stieg erst mal aufs Dach und ließ Solar-Panels installieren: „Der vor uns liegende Weg mag nicht immer einfach sein, aber er ist zweifellos notwendig und lohnend.“
Wie bringen Sie Ihre Mitarbeiter dazu, sich zu engagieren?
Wir versuchen, ein positives und unterstützendes Arbeitsumfeld zu schaffen. Damit wollen wir unsere Mitarbeiter binden und dazu motivieren, unsere Philosophie der Nachhaltigkeit intrinsisch mitzutragen. Dafür bieten wir zum Beispiel eine Menstruationspolitik und Coachings an. Vor allem nehmen wir uns regelmäßig Zeit, um Ideen auszutauschen und das Verantwortungsbewusstsein zu fördern. Wir schreiben Umweltbewusstsein auch direkt in die Stellenbeschreibungen, so dass von Anfang an klar ist, dass Nachhaltigkeit ein zentraler Bestandteil der Rolle und der täglichen Aufgaben eines jeden ist – und nicht nur ein schöner Gedanke bleibt.
Um dem Ganzen auch ein Gesicht zu geben, haben wir „Nachhaltigkeitsbeauftragte“ ernannt. Sie leiten die neuen Initiativen an und sind erste Ansprechpartner. Das alles folgt der Überzeugung, dass Unternehmen, die ein hohes Maß an ökologischer und sozialer Verantwortung zeigen, in der Regel auch engagiertere Mitarbeiter haben. Gerade Jüngeren ist das wichtig bei der Jobsuche. Ein hohes Engagement führt zu höherer Produktivität und niedrigeren Fluktuationsraten. Auch das ist letztendlich nachhaltig.
Was raten Sie Ihren Kollegen, wo fängt man am besten an?
Ich weiß, die Praxisleitung ist bereits ein Vollzeitjob. Deshalb macht das mit den „Nachhaltigkeitsbeauftragten“ Sinn. Suchen Sie nach jemandem, der sich für das Thema begeistert und im besten Fall das Team mitreißen kann. Mit seiner Hilfe können Maßnahmen und Projekte angegangen werden, ohne den Praxisinhaber oder andere Teammitglieder zu überfordern. Konkret kann diese Person dann die aktuelle Umweltbelastung der Praxis bewerten, umweltfreundliche Alternativen recherchieren und einen Plan zur schrittweisen Einführung nachhaltigerer Praktiken entwickeln. Ich rate dazu, erst einmal kleine Schritte zu gehen und lieber eine Dynamik aufzubauen, die dazu beiträgt, eine Kultur der Nachhaltigkeit am Arbeitsplatz zu fördern. Schauen Sie, was direkt machbar ist und was langfristiger geplant werden muss, dann aber einen spürbaren Effekt hat.
Für mehr Klarheit hilft das Konzept im Sinne „so nachhaltig wie vernünftig möglich“. Dieser Ansatz erkennt an, dass eine perfekte Nachhaltigkeit in der Zahnmedizin aufgrund der wesentlichen Sicherheitspraktiken derzeit nicht erreichbar ist, dass aber in vielen anderen Bereichen erhebliche Verbesserungen möglich sind. Er ermutigt Zahnärzte, Nachhaltigkeit als eine Reise und nicht als ein Ziel zu betrachten und Veränderungen schrittweise umzusetzen, wo dies sicher und machbar ist.
Was glauben Sie, warum haben Zahnärzte oft eine falsche Vorstellung von Nachhaltigkeit?
Das hat mehrere Gründe. Hartnäckig hält sich die wahrgenommene Kostenbarriere: Es ist ein weit verbreiteter Irrglaube, dass die Einführung nachhaltiger Praktiken teuer sei. Man konzentriert sich möglicherweise auf die Anfangsinvestition, ohne die langfristigen Kosteneinsparungen und das Potenzial für eine stärkere Patientenbindung zu berücksichtigen. Eine „Alles-oder-nichts-Denkweise“ hemmt viele damit gemeint ist der Glaube, dass die Bemühungen um Nachhaltigkeit vergeblich sind, wenn die Zahnmedizin nicht zu 100 Prozent nachhaltig sein kann – etwa, weil Einwegplastikgeräte und andere wichtige Praktiken notwendig sind.
Dann gibt es noch die inneren Widerstände gegen Veränderungen. In Zahnarztpraxen gibt es oft etablierte Routinen und Verfahren – diese zu ändern, um nachhaltige Praktiken zu integrieren, kann entmutigend sein. Besonders dann, wenn die Vorteile nicht sofort ersichtlich sind. Der oft stressige Arbeitsalltag macht das Vorhaben nicht gerade einfacher. Nachhaltigkeit wird als zusätzliche Belastung empfunden.
Außerdem ist der Bereich bis heute leider kein fester Bestandteil in der zahnärztlichen Ausbildung. Der Bereich gehört für mich als Teil des Kerncurriculums ins Grundstudium. Außerdem sind Zahnärzte in erster Linie darauf fixiert, sich auf unmittelbare klinische Ergebnisse zu konzentrieren. Die langfristigen, umfassenderen Auswirkungen nachhaltiger Praktiken auf die Gesundheit der Patienten und der Umwelt werden möglicherweise weniger beachtet oder in den Vordergrund gestellt. Zudem mangelt es an klaren Leitlinien von Zahnärzteverbänden oder Aufsichtsbehörden. Ohne diese fühlen sich Zahnärzte möglicherweise unsicher, wie sie nachhaltige Praktiken wirksam umsetzen können.
Wie können die Patienten einbezogen werden?
Ermutigen Sie Ihre Patienten, zu Hause nachhaltige Mundpflegepraktiken anzuwenden und bieten Sie in Ihrer Praxis umweltfreundliche Optionen an. Sie können als positives Vorbild auftreten. Betonen Sie die Verbindung zwischen guten Mundgesundheitsgewohnheiten und Nachhaltigkeit. Erklären Sie Ihren Patienten, wie präventive Maßnahmen den Bedarf an ressourcenintensiven Behandlungen reduzieren und damit die Umweltbelastung verringern. Mit Recycling-Angeboten in der Praxis können Patienten ihre Zahnpflegeartikel ordnungsgemäß recyclen.
Ein erheblicher Anteil des ökologischen Fußabdrucks macht die Anfahrt des Patienten mit dem Verbrenner-Auto aus. Ermutigen Sie Ihre Patienten, – wenn möglich – öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, mit dem Fahrrad zu fahren oder zu Fuß zum Termin zu gehen. Erwägen Sie Anreize für Patienten, die sich für umweltfreundliche Transportmöglichkeiten entscheiden. Wo es möglich ist, sollten Fernkonsultationen und -kontrollen durchgeführt werden. Dies kann besonders nützlich sein für Nachkontrollen, Erstkonsultationen oder kleinere Anliegen, die keine persönlichen Besuche in der Praxis erfordern.
Die vier Gewinner des diesjährigen Sustainability Award der FDI, in der Mitte (3.v.l.) Raju gemeinsam mit seiner Frau und Mitgründerin Subpreet (4.v.r.)
Was war die Motivation für die Gründung von „Greener Dentistry Global“ (GDG) und was macht das Toolkit so besonders?
Uns fehlen spezifische, akkreditierte Programme für eine nachhaltige Zahnmedizin. Diese Erkenntnis und meine Liebe zur Natur haben mich dazu gebracht, GDG zu gründen. Das Ziel war es, ein webbasiertes Toolkit zu entwickeln, das anderen Zahnärzten dabei hilft, Nachhaltigkeit effektiv in ihre Praxis zu integrieren. Ich wollte aber auch eine Plattform schaffen, auf der wir als Berufsstand Fachwissen, Ideen und Produktmeinungen austauschen. Das Toolkit selbst gliedert die Nachhaltigkeit in überschaubare Schritte und Bereiche wie Wege, Energieverbrauch, klinische Maßnahmen und alltägliche Abläufe sowie biologische Vielfalt. Um die Glaubwürdigkeit zu gewährleisten und Greenwashing zu verhindern, haben wir ein Akkreditierungsprogramm eingeführt, das von den Praxen den Nachweis ihrer Nachhaltigkeitsinitiativen verlangt.
Der FDI-Sustainability-Award
Mit ihrem Nachhaltigkeitspreis würdigt die World Dental Federation (FDI) Zahnärzte, Praxen und ihre Teams, die sich um umweltschonende Maßnahmen bemühen. Die Auszeichnung ist mit einem (kleinen) Preisgeld verbunden und möchte gleichzeitig die weltweite Aufmerksamkeit für solch ein Engagement fördern. Jedes Jahr werden insgesamt vier Preise verliehen und die Gewinner im Rahmen der Preisverleihung auf dem FDI-Weltkongress bekanntgegeben.
Für den Wettbewerb können sich Zahnärzte und ihre Teams auf der Website (fdiworlddental.org) anmelden. Sie müssen allerdings im Mitgliedsverband der FDI sein. Die Bewerbungen werden jährlich im Juli vom FDI-Komitee geprüft – etwa, daraufhin wie wirkungsvoll und innovativ die umgesetzten Maßnahmen sind, ob die Patienten einbezogen wurden und ob die Initiative in Zukunft fortgesetzt und erweitert werden soll.
Was bedeutet der Preis der FDI für Sie?
Der Award ist eine große Ehre für das Dove Holistic Dental Centre. Und auch eine Genugtuung, da unsere Bemühungen von der FDI anerkannt wurden. Das bestätigt unseren ganzheitlichen Ansatz – und dass nachhaltige Praktiken langfristig auch die wirtschaftliche Effizienz erhöhen können. Die Auszeichnung gilt der kollektiven Leistung unseres engagierten Teams. Das Preisgeld haben wir für die Pflanzung von Obstbäumen in unterprivilegierten Gebieten im Rahmen des „Greener Dentistry Global's Reforestation Program“ gespendet. Diese Initiative trägt zur Wiederherstellung der Umwelt bei und unterstützt den nachhaltigen Lebensunterhalt, da die Gemeinden die Früchte ernten und verkaufen können. Das ist eine wunderbare Möglichkeit, einen dauerhaften positiven Einfluss zu schaffen, der weit über unsere Zahnarztpraxis hinausgeht.
Das Gespräch führte Laura Langer.