30 Jahre LKG-Operationen in Indien
Im Jahr 1994 fuhren wir zum ersten Mal nach Padhar in ein evangelisches Missionskrankenhaus in der Region Madhya Pradesh, Zentralindien. Ein Jahr zuvor hatten Thomas Lambrecht und ich in Indonesien Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten (LKG-Spalten) operiert, aber dann war das Interesse der Kollegen dort erloschen, so dass wir nach neuen Herausforderungen suchten. Ich war bereits 1976 als Student im Padhar-Krankenhaus (PH) gewesen, hatte dort im darauffolgenden Jahr eine Feldstudie zum Betelkauen durchgeführt und als Promotionsarbeit an der Universität Kiel eingereicht [Kreusch, 1983]. Nun kamen Lambrechts Kontakte zum Rotary Club Basel Riehen und meine zum PH zusammen und wir boten dem Chefarzt Dr. A.V. Choudhrie an, die Versorgung von Spaltpatienten zu organisieren und einheimische Ärzte darin auszubilden.
Im zentralindischen Hochland von Madhya Pradesh herrschte in vielen Dörfern noch die Ansicht, Gesichtsspalten seien eine Bestrafung durch eine Gottheit –für Sünden, die vielleicht schon vor Generationen begangen wurden, so dass man diese Fehlbildungen nicht korrigieren dürfe. Dennoch kamen 1994 nach einem Aufruf des Krankenhauses viele Spaltenträger nach Padhar, um sich beraten und meist auch operieren zu lassen (Abbildung 1).
Unser erstes Team bestand aus Prof. Thomas Lambrecht und mir – beide MKG-Chirurgen – sowie dem Oralchirurgen Dr. Alexander Runge (Kiel) und den Anästhesisten Prof. Jörg Busse und Jens Kleinefeld (Köln) (Abbildung 2). Der Operationssaal im PH war akzeptabel eingerichtet, wenngleich der Strom häufiger ausfiel. Nach einer Zwischenbeleuchtung mit einer Taschenlampe auf das Operationsfeld sprang das Licht aber immer wieder an (Abbildung 3). Das Narkosegerät wurde deswegen oft per Handbeatmung bedient. Die indischen Kollegen schauten interessiert zu und baten uns, bald wiederzukommen. Wir konnten während unseres ersten Aufenthalts im PH bei rund 50 Patienten Gaumen oder Lippe verschließen (Abbildung 2).
Oktober oder November boten sich als Reisemonate an, denn dann war der Monsun zu Ende und die Straßen und Bahngleise wieder nutzbar, so dass die Patienten anreisen konnten. In den kommenden Jahren waren wir immer im Herbst im PH, um Vertrauen und Kontinuität aufzubauen. Immer waren die indischen Kollegen bei den Operationen dabei, um zu lernen. Regelmäßig assistierten wir ihnen bei kleineren Eingriffen. Meistens waren die von uns unterrichteten Ärzte im darauffolgenden Jahr in die großen Städte verzogen, wo es ein interessanteres Umfeld, aber auch bessere englische Schulen für die Kinder gab.
Wir versuchten auch, das Dental Department des PH zu stärken und ersetzten die alte „Ritter D 59“-Einheit, die wir 1978 aus Kiel nach Padhar geliefert hatten, durch eine neue Einheit aus indischer Produktion. Bei jedem Einsatz brachten wir in vielen Bananenkisten Instrumente, Medikamente und Spielzeug für die Kinder mit. Am indischen Zoll gab es regelmäßig einen Auflauf, besonders als wir uns einmal mit sage und schreibe 32 Bananenkisten und 16 Personen vorbeischleichen wollten. Der Inhalt aller Kisten wurde genauestens untersucht. Wir mussten den Zollbeamten versichern, dass wir alle importierten Instrumente bei unserer Rückreise auch wieder ausführen würden.
Wir haben nie mehr Medikamente mit abgelaufenem Verbrauchsdatum mitgenommen, nachdem uns einmal ein Zollbeamter gefragt hatte, ob die abgelaufenen Medikamente für indische Patienten noch gut genug seien. Wir lernten, nur die Geräte und Materialien mitzubringen, die die Inder auch erbeten hatten, und oft waren diese Instrumente in Indien zu einem erheblich niedrigeren Preis erhältlich. Im Jahr 1996 gründeten wir den Verein „Friends of Padhar e.V.“, um Spenden annehmen und Spendenbescheinigungen ausstellen zu können.
Patientenversorgung
Im Laufe der Jahre konnten die indischen Ärzte mitbeurteilen, welche Patienten für eine OP geeignet und ausreichend gesund waren. In sogenannten Screening-Camps, deren Termine über die Kirchen verbreitet worden waren, trafen jedes Jahr mehr Kinder, aber auch Erwachsene im PH ein. Am Tag der Ankunft wurden alle Kinder vom Kinderarzt und dem Narkosearzt untersucht. Immer wieder gab es Diskussionen, wenn die Chirurgen eine OP planten, obwohl die Narkoseärzte ein erhöhtes Risiko sahen. Dann wurden weitere (notwendige) Untersuchungen durchgeführt oder die OP wurde auf das nächste Jahr verschoben. Wurmerkrankungen, ein niedriger HB, Anämien oder unerkannte Herzprobleme waren die häufigsten Hindernisse. Unsere sorgfältigen Voruntersuchungen und das Erkennen möglicher Komplikationen führten dazu, dass wir in den 30 Jahren im PH keinen Patienten verloren haben.
Von jedem Patienten wurde ein Stammblatt angelegt, in dem die korrekte Diagnose, der OP-Plan, die OP-Einwilligung sowie das Gewicht und der HB-Wert eingetragen wurden. Außerdem wurden alle Patienten fotografiert. Die Kinder waren mit den Eltern, Großeltern oder anderen Verwandten in farbig markierten Sälen mit bis zu 20 Betten untergebracht. Am OP-Tag bekamen sie einen Kittel mit der Farbe des Saales (Pink, Rot oder Grün). Die Begleitpersonen schliefen auf dem Boden neben dem Bett. Da es wegen des Kastensystems keine Krankenhausküche gab, hatten die Angehörigen ein Kochgebäude neben dem Krankenhaus, wo sie auf offenem Holzfeuer Essen kochten, das sie auf einem sich stetig vergrößernden Markt in der Nähe gekauft hatten.
Im OP herrschte immer eine kollegiale Atmosphäre und wir bemühten uns, durchmischte Teams mit den indischen Kollegen und dem Pflegepersonal zu bilden. Zuerst operierten wir an zwei Tischen gleichzeitig im großen OP-Saal (Abbildung 4). Später, gemeinsam mit den indischen Kollegen, zum Teil an vier Tischen gleichzeitig. Jedes Jahr stiegen die OP-Zahlen. Nach 28 Jahren haben wir insgesamt 1.717 Patienten operiert (Abbildung 5).
Zum Lippenverschluss wurden die Methoden MILLARD, TENNISON, VEAU-AXHAUSEN oder der Wellenschnitt angewendet. Für den weichen Gaumen verwendeten wir die intravelare Velumplastik nach KRIENS. Etwa 40 Prozent der Patienten waren schon voroperiert, teilweise mit guten, aber teilweise auch mit schwierigen Ergebnissen, die wir korrigieren konnten. Das Durchschnittsalter betrug in den ersten Jahren 18,5 Jahre. Später, als durch die Mundpropaganda auch jüngere Kinder kamen, sank das Durchschnittsalter auf 7,2 Jahre.
Bei erwachsenen Patientinnen kam es häufiger vor, dass nur ein Lippenverschluss gewünscht wurde. Eine Frau mit einem so offensichtlichen ästhetischen Makel wie einer offenen Lippenspalte ist nur schwer zu verheiraten – oder nur mit einem sehr hohen Dowry. So heißt in Indien das Brautgeld, das entweder bar oder in Form von Geschenken von den Brauteltern an die Familie des Bräutigams bezahlt werden muss.
Ausbildung
Für uns war ernüchternd, dass viele der Ärzte, die wir ausbildeten, nach ein oder zwei Jahren nicht mehr im Krankenhaus arbeiteten, sondern sich in besser bezahlte Arbeitsstellen begeben hatten. Unser Glück war dann, dass sich der Sohn des ehemaligen Chefarztes, Dr. Rajiv Choudhrie, für die LKG-Chirurgie interessierte. Er hatte in Indien Medizin studiert und später eine Ausbildung zum plastischen Chirurgen in England absolviert. Auch sein jüngerer Bruder, Dr. Ashish Choudhrie, fand –obwohl ein begabter Urologe – Gefallen an der Spaltchirurgie. Und die Tatsache, dass diese beiden Chirurgen, die in Padhar groß geworden waren, nun ihren Lebensmittelpunkt mit ihren Familien nach Padhar verlegten, war der Schlüssel für das nachhaltige Projekt am PH. Später gesellte sich noch der in Indien ausgebildete MKG-Chirurg Dr. Modrul dazu, so dass wir auch in unserer Abwesenheit auf eine Fortführung der Spalt-OPs vertrauen konnten.
Nachdem die Lippen- und Gaumen-OPs Routine geworden waren (Abbildung 6), wurden wir gebeten, Nasenkorrekturen zu demonstrieren. Da in den kommenden Jahren die Zahl kieferorthopädischer Behandlungen immer weiter stieg, kamen die Knochenentnahme am Becken und die Kieferspaltosteoplastik hinzu. Quasi als Begleitprogramm haben wir im Jahr 1997 die erste Fibulatransplantation operiert. Am Vorabend führten wir eine mikrochirurgische Vor-OP an einem Kaninchen durch, am nächsten Morgen wurde eine Fibula-pro-Tibia-Plastik operiert und damit dem Patienten die Unterschenkelamputation erspart. Als wir im nächsten Jahr wiederkamen, hatten die indischen Kollegen neunmal eine Fibula als Unterkieferersatz transplantiert. Inzwischen sind mikrochirurgische Eingriffe mit insgesamt circa 120 freien Lappen Routine im PH.
Der Lernwille und das Interesse der indischen Kollegen waren immens. Unser Behandlungsplan aus Hamburg musste jedoch modifiziert werden: erstens weil die Patienten manchmal nur die ästhetische Korrektur der Lippe haben wollten, zweitens weil die Patienten oft von weit her kamen und sich nur die eine OP leisten konnten. Und drittens weil wir oft primäre LKG-Spalten bei über zehn Jahre alten Patienten sahen, bei denen das Wachstumspotenzial, das uns oft ein Stufenkonzept mit mehreren Operationen vorgibt, nicht mehr so entscheidend war.
Finanzierung
An vielen Abenden gab es Diskussionen mit den lokalen Ärzten, wie wir mit unserem Verein aus Deutschland das PH unterstützen können. Jedes Mal wurde ein Finanzplan erstellt – in den 30 Jahren Tätigkeit haben wir es geschafft, viele große und kleine Projekte zu finanzieren.
Es galt die Absprache, dass wir unsere jährlichen Reisekosten selbst tragen, dafür aber das PH für das gesamte Team Übernachtungsmöglichkeiten und Essen bereitstellt. Wir haben niemals auch nur einen Euro dafür bezahlt, dass wir einen Patienten operieren durften. Einmal standen wir aber vor einem finanziellen Problem: An einem Abend sagte uns der Chefarzt Dr. R. Choudhrie, dass das Krankenhaus jedes Mal einen finanziellen Verlust macht, wenn wir vor Ort sind. Indische Missionskrankenhäuser finanzieren sich nämlich zu einem großen Teil von dem Geld, das die Patienten bezahlen. Da unser Projekt aber kostenfreie Operationen versprach und somit kein Patient zahlte, während wir vor Ort waren und den gesamten OP belegten, hatte das PH keine Einnahmen.
Dr. Choudhrie wandte sich daraufhin an die Organisation „Smile Train“, die sich bereit erklärte, für jeden operierten Spaltpatienten nach dem Einhalten von Standards (Dokumentation, Facharzt für Anästhesie, Bericht) eine feste Summe an das Krankenhaus zu bezahlen. Diese Summe überstieg die Kosten für die Behandlung, so dass seit jenem Jahr die LKG-Operationen zusätzliche Einnahmen in das Krankenhausbudget bringen und die OP-Camps ein Gewinn für das PH sind. Damit konnten andere Therapien und Operationen querfinanziert werden.
Jubiläum
Mit den Jahren merkten wir, dass die Operationsbedingungen in dem kleinen Missionskrankenhaus nicht mehr den internationalen Standards, die auch in Indien Einzug gehalten hatten, entsprachen. So kam Thomas Lambrecht und mir die Idee, einen neuen OP-Komplex zu planen. Es dauerte mehrere Jahre, die Wünsche der Inder und unsere finanziellen Möglichkeiten zu einem machbaren Projekt zusammenzubringen. Erst wurde ein Neubau auf dem Gelände erwogen, dann ein Umbau eines über 50 Jahre alten Gebäudes. Es wurde diskutiert, wie viele Säle finanzierbar sind. Am Ende stand der Plan eines OP-Komplexes mit vier Sälen, einer Zentralsterilisation, Sozialräumen, einem Aufwachraum, einer Zentralklimaanlage, einem Einleitungsraum und Nebenräumen. Nach kleineren Änderungen durch die indischen Behörden wurde das Projekt genehmigt.
Mit großer Unterstützung von der Botnar-Stiftung in der Schweiz, der Hilfe von Friends of Padhar e.V. und deutschen Spendern konnte der Bau mit einem Budget von 250.000 Euro begonnen werden. Im Frühjahr 2019 fuhren wir ins PH, um den OP-Komplex zu eröffnen. Das „Dr. Clement Moss Operations Theatre“ wurde nach dem Gründer des PH benannt. Der neue OP-Komplex wird nun seit über vier Jahren genutzt und alle sind sehr zufrieden mit dem Ergebnis (Abbildungen 7 und 8).
Auszeichnungen
Für unsere Arbeit im Padhar, insbesondere die jahrelange Kontinuität und die damit erreichte Nachhaltigkeit, erhielten wir 2017 das Bundesverdienstkreuz am Band vom Bundespräsidenten und 2019 den Humanitarian Award der International Cleft Lip and Palate Association. Beide Preise habe ich im Namen aller Mithelfenden gern entgegengenommen.
Ausblick
Im Jahr 2021 wurde das PH als dasSpaltzentrum in Zentralindien von der indischen Regierung ausgezeichnet – vor allem, weil neben den Operationen durch indische Ärzte in bester Qualität auch die dauerhafte Betreuung von Kindern und Erwachsenen mit LKG-Fehlbildungen gesichert ist (Abbildung 9). In den vergangenen Jahren sind uns immer wieder Kinder mit einer Oberkieferrücklage aufgefallen, teils iatrogen als OP-Folge mit narbiger Wachstumshemmung, teils aber auch idiopathisch. Mit zunehmenden kieferorthopädischen Möglichkeiten begannen wir auch mit der Planung von Umstellungsosteotomien. Bei schweren Fehlpositionen sind diese am besten mit Distraktionsosteotomien zu korrigieren, um nicht eine vorhandene Nasalität der Sprache zu verschlechtern oder diese erst zu bewirken.
So haben wir in den vergangenen drei Jahren die nötigen Vorarbeiten mit einem Gipslabor, Modelloperationen und dem Anfertigen von einfachen kieferorthopädischen Geräten und OP-Splints begonnen. Dazu wurden auch die digitale Abdrucknahme und das Drucken von Modellen eingeführt. Die erste OK-Distraktion wurde 2023 von Phillip Schwaab, Dr. Modrul und mir durchgeführt. Und wieder waren die indischen Kollegen begeistert bei der OP dabei und übernahmen fachkundig die postoperative Betreuung.
Hilfe zur Selbsthilfe war unser Credo – mit großem Erfolg: Nach 30 Jahren vor Ort können wir schließlich die primäre Versorgung von LKG-Spalten vollständig in die Hände der lokalen Ärzte legen. Dies gelang durch die kontinuierliche und engagierte Tätigkeit nach dem Motto: Lieber bei fünf Operationen assistieren und damit die lokalen Ärzte in ihren Kompetenzen stärken, als 20 Patienten selbst zu operieren! Dass durch die Kollegen Drs. Rajiv, Ashish Choudhrie sowie Dr. Modrul ärztliche Kontinuität gewährleistet wird, ist ein glücklicher Umstand, der dieses Projekt erst möglich gemacht hat – zusammen mit der Finanzierung durch Smile Train und alle anderen Unterstützerinnen und Unterstützer.