Interview mit DÄB-Präsidentin Dr. Christiane Groẞ

„An vielen Stellen fehlt immer noch der weibliche Blick!“

Die Mehrheit der Ärzte und Zahnärzte sind heute Frauen, aber in den Chefetagen sitzen immer noch die Männer. Wie weit ist die Gleichberechtigung in der Medizin und Zahnmedizin? Ein Gespräch mit der Verbandspräsidentin Dr. Christiane Groß über die Rolle von Ärztinnen und Zahnärztinnen damals und heute.

Frau Dr. Groß, Sie haben am 25. Oktober den 100. Gründungstag des Deutschen Ärztinnenbundes (DÄB) gefeiert. Wofür steht der Verband heute?

Dr. Christiane Groß: Wir unterstützen Ärztinnen und Zahnärztinnen durch politische und direkte Arbeit sowohl in ihrer Karriere als auch bei der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Frauen hatten es vor hundert Jahren und haben es auch heute noch schwerer, sich im ärztlichen und zahnärztlichen Beruf zu etablieren als Männer – insbesondere, wenn es darum geht, in Spitzenpositionen zu kommen. Frauen haben oft größere Probleme, um etwa die Finanzierung für die eigene Praxis aufzustellen und Kredite zu erhalten. Und sie trauen sich vielleicht auch nicht so wie die männlichen Kollegen. Viele Probleme von Frauen in der Medizin sind zwar im Laufe der Zeit gelöst worden, aber viele existieren heute noch. Frauengesundheit ist zum Beispiel ein Aspekt, der damals und heute noch relevant ist.

Welche Bedeutung haben Ärztinnen in der modernen Medizin?

An vielen Stellen fehlt der weibliche Blick. Wir Ärztinnen und Zahnärztinnen bringen diesen mit in die gesellschaftliche Debatte. Mit Fragen wie: Wie problematisch ist die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben? Wie problematisch ist es, in Spitzenpositionen zu kommen? Wie problematisch ist es, Eltern oder Angehörige zu pflegen? Diese Punkte haben Männer oft nicht im Fokus, weil sie sich damit nicht direkt angesprochen fühlen. Hinzu kommen Aspekte der geschlechtsspezifischen Medizin. Hier haben Ärztinnen und Zahnärztinnen als erste den Finger in die Wunde gelegt.

Mit welchen Zielen ist der Bund Deutscher Ärztinnen als Vorläufer des DÄB damals gegründet worden?

Es galt, Frauen im Beruf zu unterstützen. Es gab damals sehr wenige, die überhaupt studieren konnten. Noch weniger konnten sich niederlassen. Und in der Wissenschaft Spitzenpositionen zu erlangen, war ganz selten. Frauen in Führungspositionen und in die Wissenschaft zu bekommen, war auch schon damals unser Anliegen.

Und wo stehen wir bei der Gleichberechtigung heute?

Wir könnten weiter sein. In den Universitätskliniken zählten wir 2022 nur 13 Prozent Frauen auf den Lehrstühlen, und das bei 50 Prozent Ärztinnen im Beruf. Bei den Ärzte- und Zahnärztekammern gibt es nur wenige Präsidentinnen. Was sich zum Positiven geändert hat, sind die Zahlen bei den stellvertretenden Positionen. Im klinischen Bereich sind es die oberärztlichen Stellen, in den Kammern und KVen/KZVen sind es die Vizepräsidentinnen und stellvertretenden Positionen. Für die gesetzlichen Vorgaben im Zweiten Führungspositionengesetz, dass Frauen in den KVen und KZVen in den Führungspositionen zu berücksichtigen sind, hat auch der Deutsche Ärztinnenbund seinerzeit mitgekämpft.

Welchen Stellenwert hat für den DÄB die Verzahnung mit dem Weltärztinnenbund?

Der Weltärztinnenbund ist 1919 gegründet worden, also fünf Jahre vor dem Bund Deutscher Ärztinnen. Dessen Gründung in Deutschland ist von der internationalen Organisation gefördert worden. Die internationalen Kolleginnen haben auch jüdische Ärztinnen und Zahnärztinnen in der NS-Zeit stark unterstützt. Auch bei der Neugründung des Deutschen Ärztinnenbundes ab 1950 haben sie mitgewirkt. Aktuell ist es so, dass jedes Mitglied im Ärztinnenbund auch im Weltärztinnenbund Mitglied ist. Außerdem gibt es besonders gute Kontakte zu den Verbänden in Österreich und in der Schweiz.

Wie hat sich rückschauend die Rolle der Ärztin in der Gesellschaft geändert und welche Themen sind geblieben?

Wir haben frühzeitig darauf hingewiesen, dass beispielsweise die Grundlagenforschung in der Wissenschaft hauptsächlich von Männern bestimmt wird und dass geschlechterspezifische Aspekte auch bei Forschungsprojekten kaum eine Rolle spielen. Wir haben als Ärztinnen zusätzlich die Menschen im Blick, die die Verantwortung in der Care-Arbeit tragen. Geändert hat sich im Vergleich zu damals, dass es für Frauen einfacher geworden ist, in den Beruf zu kommen. Inzwischen haben wir rund 70 Prozent Zahnärztinnen und rund 50 Prozent Ärztinnen. Im ärztlichen Bereich haben sich die Weiterbildungsordnungen dahingehend verändert, dass man auch in Teilzeit arbeiten kann.

Was sind Ihre Hauptanliegen und Hauptforderungen an Politik und Gesellschaft?

Die Mutterschutzregelungen für Ärztinnen und Zahnärztinnen müssen aus unserer Sicht endlich verbessert werden. Wir möchten, dass diejenigen Frauen, die in der Schwangerschaft weiterarbeiten wollen, auch weiterarbeiten können. Es kann nicht sein, dass Ärztinnen und Zahnärztinnen in dem Moment, in dem sie bekanntgeben, dass sie schwanger sind, oft aus dem Berufsleben herausfallen. Problematisch ist das auch in der Weiterbildungszeit, da es die betroffenen Frauen beruflich nach hinten katapultiert. Genauso wichtig ist aber, dass die Option besteht, bestimmte Tätigkeiten nicht machen zu müssen, wenn es die Schwangere für riskant hält. In diesem Bereich engagiert sich der DÄB sehr aktiv und hat entsprechende Initiativen auf den Weg gebracht.

Inwieweit hat der DÄB in der Gendermedizin Pionierarbeit geleistet?

Wir haben 1981 schon einen Kongress zu diesem Thema durchgeführt. Und 1999 haben wir mit dem Slogan „Schlagen Frauenherzen anders?“ die Herzgesundheit als Kongressthema in den Fokus gerückt. Ich als Präsidentin freue mich riesig, dass die Gesellschaft inzwischen für genderspezifische Medizin sensibilisiert ist. Es geht dabei ja nicht ausschließlich um Frauengesundheit, sondern um eine besser angepasste und darum insgesamt bessere Medizin für alle. Inzwischen kommen auch mehr Männer in die entsprechenden Vorträge. Hier hat der weibliche Blick die Grundlagen geschaffen.

Wie ist der DÄB in die Berufspolitik eingebunden und was kann er dort bewirken?

Wir sind Mitglied im Runden Tisch „Frauen im Gesundheitswesen“, dem zwölf Verbände, unter anderem auch „Dentista – Verband der ZahnÄrztinnen“, gleichberechtigt angehören. Das ist ein informelles Netzwerk, um Themen voranzutreiben. Ferner sind wir aktiv in der „Berliner Erklärung“, einer Initiative von 20 Frauenverbänden und -organisationen aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Politik. Sie ist mit dem Ziel angetreten, zentralen gleichstellungspolitischen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Bei der Verabschiedung wichtiger gleichstellungspolitischer Gesetze sowie der Einführung begleitender Strategien spiegelt sich das Wirken der Berliner Erklärung wider. Ganz wichtig: Das Ganze funktioniert in lockerer Struktur, als Teamwork und in Gleichberechtigung.

Und worum geht es Ihnen in der Standespolitik?

Es geht unter anderem darum, die Sensibilität dafür zu stärken, dass die Weiterbildungszeiten mehr in Richtung Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben angepasst werden – natürlich auch für Männer. Gesundheitsspezifische Frauenthemen sollten verstärkt in den Fokus rücken. Ein kleines Beispiel dafür wäre etwa der Umgang mit Endometriose. Und in der Gremienarbeit sollten noch mehr Frauen als bisher mitwirken. In Kammerversammlungen hat sich bereits viel verändert, der Blick auf Frauenthemen geöffnet. Über uns Frauen sind auch Themen bei Ärztetagen eingebracht worden, die sonst wenig Berücksichtigung gefunden hätten, etwa zu den Themen Sexismus, Eizellspende, Abtreibung oder Leihmutterschaft. Und wir befassen uns auch mit dem Thema Gewalt gegen ärztliches Personal.

Welche Schwerpunkte haben die diversen Gruppen und Ausschüsse im DÄB?

Eine der ältesten Gruppen im Bund ist das MentorinnenNetzwerk, das inzwischen auch (Zahn-)Ärztinnen unterstützt, die sich niederlassen oder in Gremien arbeiten wollen. Dann gibt es das Junge Forum für Mitglieder unter 40, sowie die Foren 40 plus und 60 plus mit Fortbildungen und Treffen. Der Ethikausschuss formuliert Stellungnahmen zu aktuellen Themen. Sehr aktiv sind auch die Ausschüsse „Klima und Gesundheit“ und „Parität“.

Welche Knackpunkte gibt es bei der Gewinnung ärztlichen Nachwuchses, auch mit Blick auf die Niederlassung?

Es gibt so viele Ärztinnen und Ärzte, Zahnärztinnen und Zahnärzte wie nie zuvor. Zu überdenken sind jedoch die gegenwärtigen Arbeitszeiten. Meine Forderung wäre: 40 Stunden Wochenarbeitszeit inklusive Wochenend- und Nachtdienste – statt 40 Stunden plus. Ein großes Thema ist die Entbürokratisierung. In der Öffentlichkeit hat auch die Wertschätzung für den Beruf abgenommen. Das hat mit der Gesundheitspolitik insgesamt zu tun. Hier muss – statt der Ökonomie – der Mensch wieder mehr in den Fokus rücken. Gleichzeitig möchte ich mich für die freie Niederlassung stark machen. Das Angestelltenverhältnis bietet zwar Sicherheit, aber in der eigenen Niederlassung gibt es ganz andere Freiheiten. Von Vorteil sind hier größere Praxisgemeinschaften, wo Beruf und Privatleben ganz anders vereinbar sein können. Und man ist seine eigene Vorgesetzte. Hier müssen wir die jungen Kolleginnen dazu motivieren, mutiger und risikobereiter zu sein, eine eigene Praxis zu führen.

Warum ist der DÄB noch nicht „überflüssig“ geworden? Was muss sich noch ändern, damit Ärztinnen gleichberechtigt sind?

Wir können bei all den genannten Themen anfangen und sagen: Es läuft noch nicht optimal. Optimal wäre beispielsweise die Parität in Führungspositionen oder bei der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Solange hier noch Luft nach oben ist, hat der Deutsche Ärztinnenbund nach wie vor seine Daseinsberechtigung.

Das Gespräch führte Gabriele Prchala.

Am 12. August 2021 trat das Zweite Führungspositionengesetz (FüPoG II) in Kraft. Es bestimmt, dass in Vorständen von börsennotierten und paritätisch mitbestimmten Unternehmen mit in der Regel mehr als 2.000 Beschäftigten, die mehr als drei Mitglieder haben, mindestens ein Mitglied eine Frau und ein Mitglied ein Mann sein müssen. Das gilt auch für einen Teil der Körperschaften des öffentlichen Rechts, also auch für die KVen, die KZVen, die KBV und die KZBV.

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