Psychiatrie

Affektive Störungen sind „Normalität“ geworden

Depressionen und Angstzustände sind zur Volksseuche geworden. Eine repräsentative Umfrage des Münchner TNS-Emnid-Instituts an deutschsprachigen Normalpersonen älter als 14 Jahre erbrachte erschreckende Zahlen: Fast jeder vierte Bundesbürger fühlt sich deutlich durch Symptome von Angst und Depressivität beeinträchtigt. Damit sind solche affektiven Störungen zum mit Abstand häufigsten Gesundheitsproblem hier zu Lande avanciert. Durch die Verminderung der Vitalität strahlen affektive Störungen prognostisch ungünstig auch in den somatischen Bereich aus.

Obwohl wir Deutschen in einem geordneten und wohlhabenden Gemeinwesen leben, fühlen sich viele von uns niedergeschlagen, ausgeliefert, unfähig ihr Leben in den Griff zu bekommen. Bisherige Erhebungen in Arztpraxen gingen davon aus, dass affektive Störungen von Krankheitswert eine Punktprävalenz (Häufigkeit an einem bestimmten Stichtag) von sechs bis zwölf Prozent haben.

Nun dokumentiert die erste bevölkerungsweite Erhebung mit 24 Prozent wesentlich höhere Anteile belasteter Personen in der Bevölkerung. Diese Menschen fühlen sich ernsthaft durch die politische oder wirtschaftliche Entwicklung bedroht. Sie haben nicht die Kraft, ihre alltäglichen Verpflichtungen in Familie, Beruf oder Haushalt zu erfüllen und kommen mit der Fülle der auf sie einströmenden Eindrücke und Informationen nicht zurecht. Das erläuterte die Emnid-Mitarbeiterin Dr. Maike Bestenhorn aus München auf einer Fachpressekonferenz kürzlich in Hamburg.

Struktur der Erhebung

Die vom 11. bis 29 Januar diesen Jahres im Auftrag der Arzneimittelfirma Schwabe von EMNID durchgeführte Mehrthemenbefragung erfasste 2224 deutschsprachige Personen. Ihre Auswahl erfolgte zufallsgesteuert aus dem Melderegister.

Die Teilnehmer füllten in einem von Eins (=überhaupt nicht) bis Fünf (=sehr stark) skalierten Selbstbefragungsbogen zu folgenden 14 Items über ihre Symptome im Zeitraum der vergangenen 14 Tage aus:

• Gefühl der Mattigkeit oder Energielosigkeit,

• Gefühl der Niedergeschlagenheit und Bedrücktheit,

• Gefühl der inneren Unruhe,

• Erhöhte Reizbarkeit oder Nervosität,

• Gefühl der Beklemmung,

• Gefühl, zu nichts Lust zu haben,

• Gefühl der Hoffnungslosigkeit,

• Gefühl, sich nicht richtig konzentrieren zu können,

• Gefühl, dass vieles schwer von der Hand geht,

• Gefühl der Angst vor der Zukunft,

• Gefühl der Benommenheit,

• Schlafprobleme oder frühmorgendliches Erwachen,

• Gefühl der eigenen Hilflosigkeit oder des Ausgeliefertseins,

• Gefühl der Angst oder Bedrohung durch Terror, Krieg oder biologische Waffen.

Der Bogen umfasste also zehn Fragen zur Depressivität und vier Fragen zu Angststörungen. Lagen zwei oder mehr Nennungen vor, so erfolgte eine entsprechende Einstufung. Wurden fünf oder mehr Symptome in den vergangenen zwei Wochen als zumindest „mittelmäßig stark“ eingestuft, so wurde – in Anlehnung an den ICD- 10 – der Proband als „stark beeinträchtigt“ erfasst.

Die Studie wurde Laptop-gestützt durchgeführt. Insgesamt wurden drei Befragungsbereiche erfasst:

• subjektive Belastung im Umfeld von Wirtschaft und Politik, durch allgemeine Auswirkungen der technischen Umwelt, Sorgen und Befürchtungen;

• subjektive Einschätzung der Befragten über die Häufigkeit und Schwere von Symptomen der Depressivität und Angst (siehe oben);

• individuelle Lösungsstrategien.

Wichtigste Erkenntnisse

Die Studie hat mit einer Reihe verbreiteter Auffassungen aufgeräumt, so zum Beispiel, dass Bürger der Neuen Bundesländer von affektiven Störungen wesentlich stärker betroffen seien oder dass Frauen bei solchen Erkrankungen dominierten. Die wirklich ermittelten Unterschiede sind marginal.

Dafür zeigte sich, dass Befragte aus Ein- und Zwei-Personenhaushalten 1,5-fach stärker betroffen sind als Probanden aus größeren Haushalten. Ebenso sind besonders stark Probanden aus dem niedrigsten Bildungsniveau (Volksschule ohne Lehre) affektiv deformiert: Hier finden sich 30 Prozent stark belastete Patienten im Unterschied zu 20 Prozent im höchsten Bildungsbereich. Diese Personen sind auch ungleich häufiger in ärztlicher Behandlung und erhalten Medikamente zur Therapie ihrer Gefühlsstörung.

Quellen der Belastung

Rund 35 Prozent der Befragten gaben an, sich durch die wirtschaftliche oder politische Entwicklung mäßig stark, stark oder sehr stark belastet zu fühlen.

Ein Viertel der erfassten Bürger gab zu Protokoll, es sei in der letzten Zeit schwerer geworden, die wichtigsten Lebensbereiche wie Beruf, Haushalt oder Familie im Griff zu haben. Hier dominierten die Neuen Bundesländer (30 Prozent), insbesondere Sachsen und Thüringen (35 Prozent). Personen, die durch die wirtschaftliche Entwicklung stark oder sehr stark belastet werden, geben zu 50 Prozent auch in dieser Frage eine besondere Belastung an.

30 Prozent der Befragten haben bereits bemerkt, dass ihnen die Informationsflut über den Kopf wächst. Sechs Prozent fühlen sich eindeutig überfordert, hier insbesondere Personen mit einer geringen Bildung. Ab einem Alter von 40 Jahren nehmen die Schwierigkeiten mit dem IT-Bereich deutlich zu. Die Abbildungen 1 und 2 zeigen die Ergebnisse aus diesem Bereich in grafischer Auftragung.

Große Bürde von Depressivität und Angst

24 Prozent der Befragten sind stark beeinträchtigt durch Depressions- und Angstsymptome (Abbildung 3). 21 Prozent leiden an mittelstarken bis sehr starken Angstgefühlen. 36 Prozent der Befragten hatten in den zwei Wochen vor der Befragung eine depressive Phase durchgemacht. Etwas häufiger als der Durchschnitt sind hier Frauen, alte Menschen und Personen mit geringem Einkommen betroffen.

Auffällig und auch von den Experten bislang unterschätzt ist die Abneigung der meisten Betroffenen, einen Arzt aufzusuchen. Mehr als drei Viertel aller Betroffenen, die mindestens an einem Symptom leiden, gehen nicht zum Arzt und legen auch keinen Wert auf eine Behandlung. Neun Prozent der Befragten sind aktuell bei einem Arzt in Behandlung. In der Gruppe der stark Beeinträchtigten (mit mehr als fünf Symptomen) verdoppelt sich dieser Anteil immerhin. Am häufigsten finden wir beim Arzt und in (medikamentöser) Behandlung auch hier ältere Menschen und Patienten mit geringem Einkommen.

Präferenz der natürlichen Therapiemöglichkeiten

Bei den eingesetzten Medikamenten dominieren in der Selbstmedikation (44 Prozent der Betroffenen) beziehungsweise im Bereich der ärztlichen Verordnung (59 Prozent der Patienten) pflanzliche Arzneimittel. Chemisch definierten Antidepressiva werden mit fünf Prozent beziehungsweise 39 Prozent deutlich seltener eingesetzt.

Die wenigsten Patienten, die eine Behandlung überhaupt für möglich halten, wollen mit einem chemisch definierten Antidepressivum versorgt werden (sieben Prozent). Dagegen sind pflanzliche Arzneimittel, wie Johanniskrautextrakt (Depressivität) oder Baldrianextrakt (Angstsyndrom), besonders beliebt (50 Prozent), gefolgt von Entspannungstechniken, wie Autogenes Training (15 Prozent).

Kommentar

Depressivität und Angststörungen beeinträchtigen nach mehreren internationalen Studien die Prognose der Betroffenen drastisch. Die in Deutschland weitgehend somatisch ausgerichtete Medizin läuft mehr und mehr ins Leere, wenn die affektiv belasteten Patienten nicht erfasst und behandelt werden.

Dafür eignen sich insbesondere pflanzliche Arzneimittel, wie eine Praxis-Kohortenstudie an 2 462 Patienten zeigte, über die Prof. Michael Habs von der Firma Schwabe auf der gleichen Fachpressekonferenz berichtete. Durch die Zugabe eines hoch dosierten Baldrianextraktes zur antidepressiven Grundmedikation mit Johanniskrautextrakt war eine sehr gut verträgliche, schnell einsetzende und ökonomisch günstige Therapie gegeben.

Doch wird auch eine derartige Behandlung nur die symptomatische Ebene treffen, ohne die Wurzeln der verbreiteten Depressivität und Angsterkrankung an den Wurzeln packen zu können.

Es fällt aber auch dem Autor dieses Berichtes schwer zu begreifen, warum sich so viele Menschen, die sich doch die meisten Wünsche ohne Schwierigkeiten erfüllen können, derart hoffnungslos und ausgeliefert fühlen.

Dr. Till U. Keil

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