Funktionslehre – State of the Art
Dabei übernahm Dr. Diether Reusch, Westerburg, die Schilderung aus praktischer Sicht. Der wesentliche Leitgedanke seines Vortrages bestand darin, der „klinischen Funktionsanalyse“ im Vergleich zu früheren Einschätzungen eine deutlich höhere Bedeutung einzuräumen. Mit dieser Einschätzung folgt er einer aktuellen Tendenz, die sich auch in der aktuellen Stellungnahme der AGF/DGZMK widerspiegelt. Während in den 80er Jahren primär das Zusammentragen einzelner Funktionsbefunde im Rahmen eines dafür von Engelhardt 1985 im Namen der AGF angegebenen „Klinischen Funktionsstatus“ im Vordergrund standen, haben sich inzwischen die Anforderungen an diesen Untersuchungsschritt erheblich ausgeweitet. Der Hintergrund hierfür besteht in der mittlerweile als gesichert geltenden Erkenntnis, dass nachhaltige Einflüsse aus anderen Bereichen des Körpers, zum Beispiel der Haltung, der feingeweblichen Beschaffenheit des Kiefergelenks und des unterstützenden Bandapparates, wie aber auch der Psyche, in die Funktion des Kauorgans eingehen.
Funktionsanalyse erweitern
Nicht ohne Grund sind in den letzten Jahren daher verschiedene Konzepte vorgestellt worden, den Inhalt und die Durchführung der klinischen Funktionsanalyse zu überarbeiten, beziehungsweise zu ergänzen.
Der Referent stellte hierfür ein in Abstimmung mit dem Physiotherapeuten Geert Groot-Landeweer, Malkendorf, strukturiertes Konzept vor, das eine Untersuchung vergleichbar dem Umfang der herkömmlichen klinischen Funktionsanalyse an den Anfang stellt.
Reusch nennt diesen Schritt „manuelle Funktionsanalyse“. Sollten sich hierbei Anhaltspunkte für das Vorliegen von Funktionsstörungen bestätigen, ergänzt er diese Untersuchung durch eine erweiterte, aus der manuellen Medizin entlehnte Untersuchungstechnik, die verschiedene Formen der Funktionsstörung weiter ausdifferenziert und demzufolge den Begriff „manuelle Strukturanalyse“ tragen soll. Nur bei entsprechenden positiven Befunden in diesen Untersuchungen ist die weiter differenzierende „instrumentelle Funktionsanalyse“ individuell begründet.
Anamnese erhöht diagnostische Qualität
Prof. Dr. Sandro Palla, Zürich, betonte die Notwendigkeit einer vollständigen und bewusst strukturierenden speziellen Anamnese. Er ging dabei soweit, dass er forderte, dass der untersuchende Zahnarzt nach der speziellen Anamnese im Rahmen der klinischen Funktionsanalyse bereits in der Lage sein müsste, die Grundzüge der Diagnose zu stellen.
Darüber hinaus berichtete der Referent von den komplexen Interaktionen zwischen der Funktion des Kauorgans einerseits und Einflüssen aus dem psychosozialen Bereich, die die (Dys-)Funktion des Kauorgans wesentlich beeinflussen.
Aus Praxis und Universität
Abgesehen von den beiden Hauptvorträgen stand darüber hinaus wieder eine große Anzahl von Kurzvorträgen und Posterpräsentationen auf dem Programm.
Daraus besonders hervorzuheben ist der Vortrag von Dr. Gerd Christiansen, Ingolstadt, über das „Bewegungsverhalten transversal verlagerter Kondylen“. Die vom Referenten vorgetragenen Ergebnisse belegen, dass bei instrumentellen Aufzeichnungen geführter wie ungeführter Bewegungen die Betrachtung der frontalen Ebene einen hohen Stellenwert in der Analyse der Dysfunktion einnimmt. Daraus schließt Christiansen auf eine co-faktorielle Bedeutung transversal asymmetrischer Kondylenverlagerungen bei der Entstehung von Dysfunktionen.
Hinsichtlich der Bedeutung der Okklusion für die Ätiologie von funktionellen Erkrankungen des stomatognathen Systems konnte die interdisziplinäre Forschungsgruppe aus Greifswald Interessantes berichten. Dr. Thorsten Mundt et al. griffen dafür auf die Daten der seit Jahren mit großem Aufwand betriebenen Study of Health in Pomerania (SHIP) zurück, eine bevölkerungsrepräsentative randomisierte Querschnittsstudie (siehe auch zm 24/2000). Bezüglich der Zusammenhänge zwischen okklusaler Abstützung und Dysfunktionssymptomen ermittelten die Untersucher mit Hilfe eines logistischen Regressionsmodells den Einfluss der Zahnanzahl, der posterioren Abstützung und der prothetischen Versorgung auf das Vorhandensein von Dysfunktionsanzeichen bei 3748 Probanden im Alter von 20 bis 79 Jahren. Dabei stellte sich heraus, dass Probanden mit Stützzonenverlust unter Berücksichtigung von Alter und Geschlecht hochsignifikant häufiger Anzeichen funktioneller Erkrankungen aufweisen als vollbezahnte Probanden. Dieser gut abgesicherte Befund widerspricht der derzeit von bestimmten Autoren vertretenen These, Funktionsstörungen und Okklusion stünden in keinem Zusammenhang.
Neues Diagnoseschema
Zur Diagnostik der von Reusch im Hauptreferat vorgestellt klinischen Funktionsbefunde gehört neben der Erhebung der eigentlichen Befunde allerdings auch zwingend die Formulierung der Diagnose. In dieser Hinsicht besteht noch erheblicher Regelungs- und Nachholbedarf. Dr. M. Oliver Ahlers, Hamburg, stellte diesbezüglich einen „Vorschlag zur Einführung eines strukturierten therapieorientierten Diagnoseschemas“ vor. Dessen Ziel besteht darin, eine Grundlage für die therapieorientierte Zuordnung von Diagnosen zu den zuvor gestellten Anamnesen und Befunden zu er-möglichen.
Im Anschluss daran zeigte Prof. Dr. Holger A. Jakstat ein Expertensystem zur Unterstützung der Festlegung einer Initialdiagnose nach der klinischen Funktionsanalyse auf, das in naher Zukunft den Zahnarzt bei der Auswahl der Initialdiagnosen unterstützen kann. Die Grundlage bildet eine Erfassung der speziellen Anamnese und Funktionsbefunde mittels geeigneter Software (CMDfact) in Kombination mit dem vorgestellten praxisorientierten Diagnoseschema.
Die Reliabilität bestimmter Einzelbefunde eines anderen Diagnoseschemas untersuchte eine Arbeitsgruppe aus München und Heidelberg. Diese Research Diagnostic Criteria (RDC-TMD) sind in der angloamerikanischen Literatur für wissenschaftliche Untersuchungen gut eingeführt. Dr. Anna Leher konnte darstellen, dass für eine gute Kalibrierung verschiedener Untersucher das richtige Training wichtiger als die individuelle Erfahrung ist.
Bildgebende Diagnostik
Im Bereich der bildgebenden Verfahren steht mittlerweile eine neue Generation von Magnetresonanztomographiegeräten zur Verfügung, die filmartige Sequenzen liefern. Deren relative Eignung im Vergleich zu anderen, schon bekannten Verfahren, untersuchten Dr. Andreas Kolk et al., TU München, in einer prospektiven Studie zum „Stellenwert des konventionellen MRT im Vergleich mit CINE-MRT, Achsiographie und Arthrosonographie“. Die Autoren präsentierten dabei eine neue Methode zur Bestimmung der sagittalen Kondylenbahnneigung im MRT. Sie berichteten über die sehr hohe Reproduzierbarkeit zwischen konventionellem MRT, dem neuen Realtime CINE-MRT und entsprechenden achsiographischen Werten (r=0,98). Auf Grund des morphologischen Informationsgehaltes stellt dabei das konventionelle MRT für die Chirurgie weiterhin das Verfahren der ersten Wahl dar.
Einen weiteren Beitrag zur Aussagekraft und Indikation der bildgebenden Diagnostik gab Dr. Corinna Karlè aus der Arbeitsgruppe Prof. Dr. Thomas Kerschbaum, Köln, und Dr. Roman Fischbach, Münster. Aus den Ergebnissen kamen die Autoren zu dem Schluss, dass die herkömmliche MRT-Diagnostik der Kiefergelenke weiterhin nicht Bestandteil der Routinediagnostik bei CMD sein sollte. Indikationsbereiche sind unter anderem die Überprüfung bei langwierigen Schmerzen trotz Therapie, sowie Fälle, in denen sich anhand der klinischen Untersuchung die Beschwerdesymptomatik nicht eindeutig einordnen lässt. In Kombination mit dem Einsatz von Kontrastmittel kann die MRT-Untersuchung zudem bei Patienten mit entzündlichen Erkrankungen der Kiefergelenke (Psoriasisarthritis, rheumatoide Arthritis) zum Einsatz kommen.
Therapeutische Verfahren
Auch wenn die Ursprünge der AGF in Vorstellung und Bewertungsverfahren zur Funktionsdiagnostik bestehen, so verlangt die erfolgreiche Diagnostik eines die Lebensqualität beeinträchtigenden Krankheitsbildes auch nach Ansetzen zu einer Therapie.
Hinsichtlich der Bedeutung MKG-chirurgischer Eingriffe am Kiefergelenk und deren Perspektive war ein Beitrag aus der Arbeitsgruppe Dr. Dr. Horst E. Umstadt et al., Marburg, von Interesse. Im Rahmen eines Projektes zur validierten Beurteilung der Lebensqualität von Patienten mit Osteoarthritis des Kiefergelenks berichtete dieser, nach konservativer Therapie verblieben etwa drei bis fünf Prozent Patienten, die unter chronischer Kiefergelenkarthritis leiden, von denen wiederum etwa 40 Prozent durch arthroskopische Maßnahmen dauerhaft von artikulären Schmerzen befreit werden könnten.
Nicht selten werden mit der Behandlung von CMD befasste Zahnärzte aufgefordert, Stellung zu nehmen zu den individuellen Folgen, inbesondere schwerer Fälle. Hierzu berichtete OÄ Dr. Ingrid Peroz, HU Berlin, Untersuchungsdaten zur Kaueffektivität bei Patienten mit anteriorer Diskusverlagerung ohne Reposition. So zeigten die von ihr untersuchten Patienten eine hochsignifikant reduzierte Kauleistung (p<0,001), die zudem signifikant mit der Dauer der Erkrankung korrelierte (p<0,043). Den oder die Einzelne mag tröstlich stimmen, dass nach mehr als dreijähriger Erkrankung die Kaueffektivität signifikant höher als bei kurzfristigerem Bestehen war. Für den Wert von Mobilisationsübungen spricht, dass mit zunehmender Mundöffnungsweite und nach Abschluss der konservativen Therapie die Kaueffektivität zunahm. Die Kaueffektivität korrelierte allerdings nicht mit Schmerzempfindung und der subjektiven Intensität der Beeinträchtigung.
Dr. M. Oliver Ahlers
Abteilung für Zahnerhaltungskunde und
Präventive Zahnheilkunde
Klinik und Poliklinik für Zahn-, Mund- und
Kieferheilkunde
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Martinistraße 52
20251 Hamburg