Fortbildungsteil 2/2002

Früherkennung des Mundhöhlenkarzinoms und oraler Präkanzerosen

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Das Plattenepithelkarzinom der Mundhöhle gehört zu den zehn häufigsten malignen Tumoren des Körpers [Gupta et al. 1996]. Epidemiologische Daten aus Krebsregistern verschiedener geografischer Bereiche zeigen signifikante Unterschiede sowohl innerhalb Europas und weltweit [Franceschi 2000]. Innerhalb Europas finden sich sehr hohe Inzidenzen im Bas Rhin-Gebiet Nordfrankreichs, insbesondere für Männer (Inzidenz 49,4 pro 100 000 Männer), aber auch in Osteuropa und Lateinamerika. Seit langem schon sind hohe Inzidenzen aus Indien bekannt, wobei hier allerdings auch Frauen häufiger betroffen sind. In den Vereinigten Staaten wurde von 1973 bis 1996 eine Zunahme des Mundhöhlenkarzinoms bei männlichen Schwarzen im höheren Lebensalter, bei jungen weißen Männern im Alter von 30 bis 34 Jahren, wie auch bei Frauen im Alter von 25 bis 29 Jahren beobachtet [Mackenzie et al. 2000].   

Eine Zunahme der Inzidenz des Mundhöhlenkarzinoms bei Jüngeren wurde auch aus anderen geografischen Bereichen berichtet.

Als mögliche Vorstufe des Mundhöhlenkarzinoms spielt die orale Leukoplakie der Mundhöhle die wichtigste Rolle [Pindborg & Reichart et al. 1997]. Im Rahmen einer Mundgesundheitsstudie (DMS III) in Deutschland wurde die orale Leukoplakie bei Männern in 2,3 Prozent, bei Frauen in 0,9 Prozent diagnostiziert [Reichart 2000]. Orale Leukoplakien werden am häufigsten im fünften Lebensjahrzehnt entdeckt [van der Waal et al. 1997]. Die Geschlechtsverteilung der oralen Leukoplakie ist variabel und hängt weitgehend von den Rauch- undKaugewohnheiten von Tabak ab. In Europa sind bisher Männer weit häufiger betroffen. Von entscheidender Bedeutung sind die Transformationsraten oraler Leukoplakien, wobei diese von der klinischen Variante und dem entsprechenden Dysplasiegrad des Epithels abhängig sind. Während nur drei bis sechs Prozent aller Formen oraler Leukoplakien innerhalb von zehn Jahren transformieren [WHO 1978], steigt die Transformationsrate bei schweren dysplastischen Epithelveränderungen bis 40 Prozent [Lumermann et al. 1995].

Risikoidentifikation

Sowohl für die oralen Leukoplakien als auch das Mundhöhlenkarzinom ist die Risikoidentifikation von ausschlaggebender Bedeutung. Die Ursachen sind für das Mundhöhlenkarzinom und die oralen Präkanzerosen identisch. Die Hauptfaktoren sind Tabak und Alkohol. Tabakprodukte in gerauchter oder gekauter Form enthalten toxische, tumorigene und karzinogene Substanzen. Vor allem die tabakspezifischen N-Nitrosamine müssen als die wichtigsten Karzinogene betrachtet werden. Chronischer Alkoholabusus wird als zweitwichtigster Faktor der oralen Karzinogenese angesehen [Moreno- Lopez et al. 2000]. Tabak und Alkohol in Kombination führen zu einem sechs- bis 15- mal höheren Risiko ein Mundhöhlenkarzinom zu entwickeln im Vergleich zu Nichtrauchern und Nichttrinkern [van der Waal 1998]. Darüber hinaus besteht eine deutliche Dosisabhängigkeit (Zigarettenpackungen pro Jahr und Alkolholmenge). Aus diesem Grunde ist auch verständlich, dass die Inzidenz für das Mundhöhlenkarzinom im Niederrheingebiet Frankreichs weit über dem Durchschnitt des restlichen Europas liegt. Andere Risikofaktoren sind höheres Lebensalter sowie bereits bestehende präkanzeröse Veränderungen der Mundhöhle einschließlich der idiopathischen Leukoplakie. Darüber hinaus müssen genetische Faktoren sowie antioxidantienarme Ernährung als Begleitfaktoren angesehen werden. Infektion mit humanen Papillomviren und Candida albicans spielt eine mögliche weitere Rolle. Ebenso müssen immunologische Störungen, Eisenmangelanämien und schlechte Mundhygiene als Begleitfaktoren gewertet werden.   

Früherkennung: Mundhöhlen- CA, Leukoplakien

In einer Vielzahl von Publikationen wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass die Prognose des Mundhöhlenkarzinoms trotz moderner Therapiemaßnahmen nach wie vor schlecht ist. Die Überlebensrate hat sich bis heute nicht grundlegend verbessert. Aus diesem Grunde wurde schon seit langem das Prinzip der Früherkennung oraler Manifestationen der Präkanzerosen und des Mundhöhlenkarzinoms gefordert [Reichart 2001, Reichart 2000]. Da die Prognose eines Mundhöhlenkarzinoms auch von der Größe des Tumors abhängt, ist die Entdeckung kleiner Tumoren von besonderer Bedeutung. Das immer wieder geforderte allgemeine Screening der Bevölkerung hat keine überzeugenden Ergebnisse erbracht [Rodriguez et al. 1998, Speight et al. 1993]. Lediglich ein gezieltes Screening (Targeting- Screening) der tatsächlichen Risikogruppen könnte Erfolg versprechend sein, wobei es allerdings besonders schwierig ist, diese Risikogruppen tatsächlich zu erreichen.

Klinik: Mundhöhlen-CA und orale Präkanzerosen

Die meisten Mundhöhlenkarzinome können durch Inspektion diagnostiziert werden [Reibel 2000]. Kleine, symptomarme Plattenepithelkarzinome sind leicht zu übersehen. Aspekte der Früherkennung beinhalten Faktoren, die mit dem Tumor, dessen Größe und Lokalisation, mit dem Patienten sowie mit dem Arzt zu tun haben [Kowalski et al. 1994]. Bekannt ist das Phänomen der verzögerten Diagnose sowohl durch den Patienten als auch durch den Arzt oder Zahnarzt. Es können bis zu sechs Monate vergehen, bis das Mundhöhlenkarzinom endlich zur Behandlung kommt. Die Anwendung der Anfärbung mit Toluidin-Blau (Abb. 1 und 2) bei Risikopatienten wird international immer wieder empfohlen, wird aber von einigen nach wie vor kritisch gesehen [Reibel 2000]. Seit kurzem wird die so genannte „brush biopsy“ (Bürstenbiopsie) intensiv diskutiert, bei der über ein spezielles Computerprogramm Epithelzellatypien festgestellt werden, um damit eine frühe Erkennung einer Malignisierung zu ermöglichen [Sciubba 2002]. Dieses Verfahren ist in Deutschland noch nicht eingeführt; darüber hinaus muss erst eine endgültige Beurteilung des Verfahrens erfolgen. Von besonderer Bedeutung ist, dass die meisten Mundhöhlenkarzinome aus klinisch gesunder Mundschleimhaut entstehen. Zwischen elf und 67 Prozent aller Mundhöhlenkarzinome entwickeln sich aus oralen Leukoplakien [Scheifele & Reichart 1998]. Das klinische Bild des Mundhöhlenkarzinoms ist variabel. Meist findet sich ein exulzerierter Tumor vor allem im Mundboden und am lateralen Zungenrand (Abb 3 und 4). Klinische Symptome sind Schmerzen, Blutungen, Lockerung von Zähnen, Funktionseinschränkungen sowie Parästhesien und Anästhesien und Foetor ex ore. Dazu kommt die typische Tabakund oft auch Alkoholanamnese. In seltenen Fällen entsteht das Plattenepithelkarzinom auf dem Boden eines Lichen planus (Abb. 4). Neben dem oralen Befund ist der Zustand der regionalen Lymphknoten palpatorisch beziehungsweise sonografisch zu ermitteln. Wesentlich seltener als das Plattenepithelkarzinom der Mundhöhle werden verruköse Karzinome diagnostiziert (Abb. 5). Hier finden sich verrukös- papilläre Strukturen, häufig im Bereich des Mundbodens oder der Wangenschleimhaut.  

Orale Leukoplakien treten als homogene oder inhomogene Varianten auf. Typische Lokalisationen sind die retroanguläre Mundschleimhaut, der Mundboden und der laterale Zungenrand. Am häufigsten ist die flache, homogene Leukoplakie (Abb. 6 und 7). Von besonderer Bedeutung ist die idiopathische Leukoplakie, die vor allem bei nicht rauchenden, älteren Frauen zu beobachten ist (Abb. 8). Diese Form ist zunächst auch homogen, kann aber im Laufe der Jahre inhomogen werden und hat eine besonders hohe Transformationsneigung. Darüber hinaus ist bedeutend, dass diese Leukoplakie sehr großflächig ist und multifokal auftreten kann. Inhomogene Leukoplakien (Abb. 9) zeigen unregelmäßige Oberflächen und häufig eine weiße und rote Komponente (Erythroleukoplakie). Inhomogene Leukoplakien unterliegen einer hohen Transformationsbereitschaft. Eine besondere Form der oralen Leukoplakie ist die proliferative verruköse Leukoplakie (Abb. 10 und 11). Diese, auch als floride orale Papillomatose bezeichnete Leukoplakie der Mundschleimhaut, hat eine starke Tendenz zur Ausbreitung und Erfassung großer Areale, einschließlich der Gingiva. Die Entwicklung eines verrukösen oder plattenepithelialen Karzinoms ist häufig nicht zu vermeiden. Dieses ist begründet durch das Phänomen der Feldkanzerisierung, wobei die gesamte Mundschleimhaut gleiche genetische und molekulare Epithelschäden aufweist. Eine seltene, aber ebenfalls hochgradig transformationsbereite Veränderung ist die Erythroplakie (Abb. 12). Sie ist gekennzeichnet als samtroter Fleck, meist im Bereich des Mundbodens oder der Wangenschleimhaut. Histologisch liegt meist ein Carcinoma in situ oder eine Frühinvasion vor. 

Differenzialdiagnosen oraler Leukoplakien

Das Spektrum weißer Veränderungen der Mundschleimhaut ist groß und beinhaltet Veränderungen, wie das Wangen- und Lippenkauen, die Friktionskeratose, die Candidiasis, den weißen Schwammnävus, den Lichen planus mit allen klinischen Varianten, die lichenoide Reaktion, die weiße Haarzunge, die Haarleukoplakie bei Immunsupprimierten, die oralen Veränderungen des diskoiden Lupus erythematodes sowie Verätzungen [Reichart & Philipsen 1999].

Präventionsstrategien

Da mit der Früherkennung nur ein geringer Teil von Patienten mit Mundhöhlenkarzinomen und oralen Leukoplakien effektiv erfasst wird, gibt es zunehmend Empfehlungen, die Zahnärzteschaft und das zahnärztliche Team in die Primär- und Sekundärprävention mit einzubeziehen. Da sowohl die meisten Leukoplakien als auch Mundhöhlenkarzinome Lebensstil bedingt sind und durch Tabak und Alkoholkonsum hervorgerufen werden, erscheinen Interventionsmaßnahmen und Antitabak- Aktionen als mögliche, wirksame Formen der Prävention. Interventionsstudien aus Indien haben eindeutig gezeigt, dass es nach Aufgabe des Tabakkonsums zu einer signifikant reduzierten Prävalenz oraler Präkanzerosen kam [Gupta et al. 1995]. Grundvoraussetzung zur Erkennung des Risikopatienten ist die Befragung nach Rauch- und Alkoholgewohnheiten. Eine Umfrage bei Zahnärzten der Europäischen Union allerdings zeigte, dass in Deutschland nur sieben Prozent regelmäßig nach Rauchgewohnheiten fragen [Allard 2000]. Die Erhebung des Raucheroder Nichtraucherstatus ist für die zahnärztliche Praxis von Bedeutung, da eine Reihe von pathologischen Veränderungen außer dem Mundhöhlenkarzinom und den oralen Präkanzerosen durch das Rauchen, und insbesondere das Nikotin, verursacht werden. Der negative Einfluss auf Parodontitiden und die Parodontaltherapie wie auch das Einheilverhalten von Implantaten ist hier vorrangig zu nennen [Reichart 2000]. Die Rolle der Zahnärzteschaft und des zahnärztlichen Teams ist in mehreren Publikationen der letzten Jahre ausführlich dargestellt worden [Tomar 2001, Reichart 2000]. Die Möglichkeiten der Intervention und Antitabak-Beratung in der zahnärztlichen Praxis sind in Deutschland bis heute weitgehend unentwickelt. Erst über eine Bewusstseinsmachung der Gesamtproblematik kann es gelingen, das zahnärztliche Team auch für die Primärprävention des Tabakabusus zu gewinnen. Aufklärung der Patienten und das Anbieten von Antiraucherprogrammen – zukünftig vielleicht sogar aus der zahnärztlichen Praxis – können das Spektrum der Prävention erweitern und die Entwicklung eines Mundhöhlenkarzinoms oder oraler Präkanzerosen möglicherweise weitgehend verhindern.  

Prof. Dr. Peter A. Reichart

Abteilung für Oralchirurgie und Zahnärztliche

Röntgenologie, Humboldt Universität Berlin

Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin

E-Mail:

peter-a.reichart@charite.de

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