Ausweg oder Irrweg
Die Idee, jenen Versicherten den Fluchtweg in die PKV zu verbauen oder zumindest zu erschweren, die über der aktuell gültigen Grenze zur Pflichtversicherung liegen, ist alles andere als neu. Sie wurde jedoch stets wieder verworfen, aus politischen, systematischen und auch verfassungsrechtlichen Gründen. Nun hat die amtierende Bundesministerin für Gesundheit ihre feste Absicht bekundet, diese „Friedensgrenze“ nach gewonnener Wahl von derzeit 3 375 Euro auf dann 4 500 Euro anzuheben. Davon betroffen wären nach jetzigem Stand etwa 2,8 Millionen Personen. Diese sind heute noch freiwilliges Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse.
Ein derart rigider Schritt hätte erhebliche Konsequenzen. Zum einen würde jenen Arbeitnehmern und Selbstständigen, deren Bruttoeinkommen unter 4 500 Euro im Monat liegt, die Möglichkeit eines Wechsels in eine private Krankenversicherung genommen. Da ferner anzunehmen ist, dass als zwingende Konsequenz in einem weiteren Schritt auch die Beitragsbemessungsgrenze auf dieses Niveau angehoben wird, droht eine erhebliche Mehrbelastung. Das könnte auf Beitragserhöhungen von bis zu 33 Prozent gegenüber dem jetzigen Recht hinauslaufen. Bei einem Beitragssatz in der GKV von derzeit durchschnittlich etwa 14 Prozent – mit steigende Tendenz – würde der monatliche Zwangsbeitrag von 530 Euro auf rund 710 Euro einschließlich Pflegeversicherung hochschnellen.
Wenig bedacht wird dabei auch, dass die mit einem derartigen Schritt einhergehende massive Schwächung der PKV dem Gesundheitssystem jene Mittel entziehen würde, die nur der private Sektor aufzubringen vermag. Dabei handelt es sich um etwa fünf Milliarden Euro pro Jahr, die als betriebswirtschaftliches Rückgrat sowohl der niedergelassenen Ärzte wie auch der Krankenhäuser fungieren. Diese Mittel dienen nicht zuletzt einer Art Quersubventionierung, stabilisieren folglich auch die GKV.
Ein derartiger Kurs zwangsweiser Rekrutierung weiterer Personenkreise in einem abgewirtschafteten reinen Umlagesystem läuft zudem aller Vernunft zuwider. Im Unterschied zur PKV betreibt die GKV keine Zukunftsvorsorge; die eingehenden Mittel werden unmittelbar für die Ausgaben verwendet. Die wachsenden Kosten, verursacht durch den medizinischen Fortschritt, die pharmakologischen Innovationen sowie den Alterungsprozess der Gesellschaft vermag ein derartiges System nicht mehr hinreichend zu berücksichtigen. Zumal die klassische Anbindung der Beitragserhebung an den Faktor der Erwerbsarbeit alles andere als zeitgemäß ist. Eine so strukturierte GKV wird folglich immer anfälliger für konjunkturelle Schwankungen, vermag innovative wie demographische Entwicklungen nicht mehr aufzufangen.
Mit einer Stärkung des Wettbewerbs, mit mehr Patientensouveränität hat ein derartiger Kurs nichts zu tun. Er reflektiert vielmehr eine ausgeprägte politische Hilflosigkeit angesichts der immensen Herausforderungen. Anstatt diese Herausforderungen als Chance zu begreifen, das GKV-System einer gründlichen Entrümpelung zu unterziehen, es europatauglich zu machen und zu einer klaren Definition dessen zu gelangen, was solidarisch abzusichern ist und was in die Eigenverantwortung fällt, spiegelt sich eine derartige Politik im Zerrbild wohlfahrtsstaatlicher Versorgung.
Kritiker aus den eigenen Reihen, die die Zeichen der Zeit erkannt haben und zunehmend lästig wurden, werden entsorgt. So zum Beispiel Florian Gerster nach Nürnberg. Zu einer Anstalt, die, vergleichbar so mancher GKV-Kasse, ihr Eigenleben zunehmend wichtiger nimmt als die eigentliche, ihr gestellte Aufgabe.
Klaus HeinemannRessortchef Sozialpolitik „Rheinische Post“ Düsseldorf
Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.