Zahnbehandlungsangst und Zahnbehandlungsphobie bei Erwachsenen
Trotz der heute weitgehend schmerzfreien Behandlung unter Lokalanästhesie wird die Zahnbehandlung von vielen Patienten als unangenehme und bedrohliche Situation wahrgenommen. Je nach Autor geben 60 bis 80 Prozent der Allgemeinbevölkerung ein Angstgefühl vor dem Zahnarztbesuch an. Bis zu 20 Prozent gelten als hoch ängstlich und fünf Prozent vermeiden den Besuch beim Zahnarzt völlig. Diese fünf Prozent leiden nach der ICD 10, 40.2 unter einer Angsterkrankung, der Zahnbehandlungsphobie.
Definition der Zahnbehandlungsangst und –phobie
Zahnbehandlungsangst ist der Sammelbegriff für alle psychologischen und physiologischen Ausprägungen eines mehr oder weniger starken, aber nicht krankhaften Gefühls, das bei vermeintlicher oder tatsächlicher Bedrohung im Zusammenhang mit einer Zahnbehandlung oder mit ihr verbundener Stimuli auftritt. Von dieser ist die krankhafte Zahnbehandlungsphobie abzugrenzen, die als spezifische Phobie zu der Gruppe der einfachen Phobien zählt [Jöhren 1999a]. Neben einem hohen Angstausmaß unterscheidet vor allem die Vermeidung eines regelmäßigen Zahnarztbesuches Patienten mit einer Angsterkrankung von normal ängstlichen Patienten. Als Angst auslösende Stimuli können alle Objekte oder Situationen dienen, die mit der Zahnbehandlung assoziiert sind. Wie bei der Entstehung aller anderen Angststörungen kann auch bei der spezifischen Phobie der Übergang von der normalen zur pathologischen Angst fließend sein. Die Diagnose muss sorgfältig gestellt werden, da bei klassischen Phobien Objekte (Tiere und mehr) oder Situationen (Zahnbehandlung, Fliegen und mehr) als Angst auslösende Stimuli fungieren, vor denen sich auch „normal Ängstliche“ fürchten beziehungsweise ängstigen.
Ätiologische Modelle
Zahnbehandlungsangst entsteht meistens durch das Zusammenwirken mehrerer Faktoren:
• Die häufigste Ursache für die Entwicklung der Zahnbehandlungsangst, -phobie stellen traumatische Erlebnisse während der Zahnbehandlung dar [Lindsay und Jackson, 1993].
• Die Unsicherheit, ob während der Behandlung Schmerzen auftreten werden, kann zu einer Erwartungsangst unterschiedlicher Ausprägung führen. So berichtete Wardle [1982], dass in ihren Untersuchungen die meisten Probanden in irgendeiner Form Schmerzen während der zahnärztlichen Therapie erwarteten, auch, wenn die Wahrscheinlichkeit, dass Schmerzen auftreten, sehr gering war.
• Auch neutrale Reize, die in raum-zeitlicher Nähe zu einem Schmerz auslösenden Reiz auftreten (wie eine Injektion), können über klassische Konditionierung selbst als konditionaler Stimulus Angst auslösend werden.
• Die Theorie des Modelllernens postuliert, dass nicht die Zahnbehandlung selbst, sondern Erzählungen aus dem sozialen Umfeld zu unterschiedlich stark ausgeprägter Zahnbehandlungsangst führen können. Nach Kleinknecht [1973] ist vor allem die Familie entscheidend bei der Entwicklung der Angst vor zahnärztlicher Behandlung beteiligt.
• An der Entstehung von Zahnbehandlungsangst sind darüber hinaus folgende Bedingungen beteiligt: – der drohende Verlust der Selbstkontrolle und das damit verbundene Gefühl, ausgeliefert zu sein – unbekannte und unvorhersehbare Abläufe bei der Zahnbehandlung – die biologische Disposition der betroffenen Person, mit Angst zu reagieren
• Auch Eigenschaften und Verhaltensweisen des Zahnarztes und des gesamten zahnärztlichen Kontextes sind bei Überlegungen zur Entstehung und Vermeidung von Angstgefühlen nicht zu vernachlässigen.
Diagnostik von Behandlungsangst und –phobie
Eine vollständige Angstdiagnostik umfasst die Beobachtung aller drei Ausdrucksebenen der Angst (Physiologie, Verhalten und psychische Prozesse). Dennoch besteht Einigkeit darüber, dass Selbstbeurteilungsverfahren psychischer Prozesse (Fragebögen) die brauchbarste Erfassungsmethode der Angst erwachsener Patienten vor und in der zahnärztlichen Situation darstellen, da ihre Validität und Reliabilität sehr hoch sind und sie ökonomisch eingesetzt werden können [Ingersoll, 1987].
Die in der Zahnmedizin international am häufigsten eingesetzte Angstskala stellt die englische Dental Anxiety Scale nach Corah [DAS, Corah, 1969] dar. Sie besteht aus nur vier Fragen, mit denen der Patient gebeten wird, sich in Situationen zu versetzen und anzugeben, wie ängstlich er sich bei der Vorstellung der Situation fühlt. Dieser Fragebogen enthält keine weiteren Informationen, vor welcher Behandlung sich der Patient besonders fürchtet [deutsche Version und weitere Verfahren vergleiche Margraf- Stiksrud, 1996].
Der hierarchische Angstfragebogen HAF nach Jöhren [1999a] besteht aus elf Fragen und unterteilt die Patienten ebenfalls in drei Gruppen: niedrig ängstlich (bis 30 Punkte), mittelmäßig ängstlich (von 31 bis 38 Punkte), hoch ängstlich (> 38 Punkte). Die Diagnose Zahnbehandlungsphobie ergibt sich aus einem Angstscore von über 38 bei gleichzeitiger anamnestischer Vermeidung der Zahnbehandlung. Der Fragebogen enthält darüber hinaus sechs Behandlungssituationen, die die am meisten Angst auslösenden Situationen bei der Patientenbehandlung darstellen.
Therapie von Zahnbehandlungsangst und –phobie
Die zahnärztliche Therapie von normal und krankhaft ängstlichen Patienten muss von der Forderung bestimmt sein, diese Patienten nach den gleichen zahnärztlichen, therapeutischen Grundsätzen zu behandeln, wie nicht ängstliche Patienten. Ergänzend dazu ist die kausale anxiolytische Therapie zu sehen, deren Ziel es ist, den Patienten zur Aufgabe seines Vermeidungsverhaltens zu bewegen und ihm einen Einstieg in eine dauerhafte zahnärztliche Betreuung zu ermöglichen.
Da nicht alle Methoden dazu gleichermaßen geeignet sind, bietet sich folgende Einteilung an:
•
Primär anxiolytische Verfahren
– medikamentös: Prämedikation, Sedierung
– nicht medikamentös: Psychotherapeutische Interventionen, Hypnose
•
Primär Schmerz reduzierende Verfahren
– medikamentös: Lokalanästhesie, Narkose
– nicht medikamentös: Audioanalgesie, TENS, Akupunktur
Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, dass nur nicht medikamentöse, primär anxiolytische Verfahren in der Lage sind, die dem Vermeidungsverhalten zu Grunde liegende Zahnbehandlungsangst ursächlich zu therapieren und langfristig abzubauen [De Jongh, 1995, Jöhren, 2000 a]. Die psychotherapeutischen Behandlungen stellen damit die Methode der ersten Wahl dar. Folgende Verfahren wurden in der Zahnmedizin bereits klinisch kontrolliert untersucht und zeigten sich erfolgreich: Modelllernen [Melamed, 1975], die systematische Desensibilisierung mit Video [Berggren und Carlsson, 1984] oder invivo- Konfrontation [Moore et al., 1991], reine Entspannungsverfahren [Beck et al., 1981, Lamb und Strand, 1980, Klages et al., 1989, 1998], kognitive Verfahren [De Jongh et al., 1995] bis hin zu kombinierten Therapieformen wie dem Stressimpfungstraining [Meichenbaum, 1977, Thom, Sartory und Jöhren, 2000] und dem Angstmanagementtraining [Ning und Liddell, 1991]. Die kombinierten Therapieformen können heute auf eine einzige Sitzung begrenzt werden und dauern nicht länger als zwei bis drei Stunden. Ihr Erfolg liegt mittelfristig bei einer Heilung von 70 Prozent der betroffenen Phobiker, wenn sie sich einer solchen psychotherapeutischen Intervention unterziehen.
Behandlungen unter Analgosedierung, Narkose oder mit Prämedikation erlauben zwar eine zahnärztliche Therapie der betroffenen Patienten, eine Verminderung der Zahnbehandlungsangst und eine Heilung der Angsterkrankung ist jedoch nur in Ausnahmefällen möglich.
Um hoch ängstliche Patienten notfallmäßig behandeln zu können, stellt die Prämedikation mit Midazolam (Dormicum®) oral mit 0,18 – 0,2 mg/kg Körpergewicht für eine kurzfristige Anxiolyse ein geeignetes Verfahren dar. Die Überwachung dieser Patienten mittels Pulsoximeter stellt dabei eine conditio sine qua non dar.
Trotzdem ist die Behandlung unter Analgosedierung bis hin zur Intubationsnarkose durchgeführt von einem Facharzt für Anästhesiologie nicht immer zu vermeiden. Fehlende Kooperation bei anderen Verfahren, ausgedehnte Eingriffe und Unverträglichkeit einer Lokalanästhesie können Gründe für eine Behandlung unter Allgemeinanästhesie darstellen. Die Behandlung unter Allgemeinanästhesie sollte bei ängstlichen Kindern und Erwachsenen jedoch immer die Ausnahme darstellen.
Peter Jöhren, Witten-Herdecke
Jutta Margraf-Stiksrud, Marburg
Quelle: dzz 57 [2002]
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