Kein Mut zur Alternative
Am 22. September sollen die Wähler über eine politische Richtung entscheiden. Doch wohin steuern die großen Volksparteien? Nichts fürchtet Edmund Stoiber mehr als Versuche von SPD und Gewerkschaften, ihn in eine unsoziale, rechte Ecke zu stellen. Statt dessen attackiert er Gerhard Schröder von links mit dem Vorwurf einer sozialen Schieflage zugunsten von Großindustrie und Hochfinanz. Der Kandidat aus Bayern gefällt sich vor mittelständischem Publikum in der Rolle eines bürgerlichen Globalisierungskritikers. Nicht wenige fragen: Hat er „zu viel Kreide gefressen“?
Die Gesundheitspolitik zählt zu den schwierigsten Reformvorhaben der nächsten Jahre. Unionspolitiker und Sozialdemokraten werfen sich gegenseitig vor, eine unsoziale „Zweiklassenmedizin“ anzusteuern. In der Union hält sich hartnäckig die Meinung, die Niederlage bei der Wahl von 1998 sei maßgeblich durch unpopuläre Reformen zu erklären.
Gesundheitsministerin Ulla Schmidt sieht ihre Rolle als behutsame Erneuerin am runden Tisch. Ihr härtester innerparteilicher Gegenspieler Florian Gerster wurde von Gerhard Schröder nach Nürnberg geschickt. Horst Seehofer, der schärfste Kontrahent aus dem Lager der Opposition, soll nach erfolgreicher Genesung neben Lothar Späth im Kompetenzteam von Edmund Stoiber einen Platz finden.
Nach Vorlage der Wahlprogramme müsste jetzt die ordnungspolitische Grundsatzdebatte geführt werden. Gerhard Schröder will sein fast vergessenes Ziel, die Sozialabgaben unter vierzig Prozent zu senken, nicht durch Reformen im Gesundheitswesen vorantreiben. Anders als bei der Alterssicherung steht ein Ausbau der Eigenvorsorge bei der SPD nicht zur Diskussion. Der Aufteilung in Grund- und Wahlleistungen wird eine klare Absage erteilt. Gefordert wird Zwangssolidarität durch eine höhere Grenze der Pflichtversicherung. Dank dieser Ankündigung haben die Privaten jetzt starken Zulauf.
Wahlfreiheit verheißt die Union. Jeder Versicherte soll selbst entscheiden, ob er den bisherigen Versorgungsumfang beibehalten, zusätzliche Leistungen von seiner Versicherung haben will, oder gegen Beitragsrabatt mit weniger auskommen kann. Die Bayerische Gesundheitsministerin Christa Stewens hält zum Beispiel die Zahnmedizin für abwählbar. Nicht abwählbar wären lebenswichtige Behandlungen. Der Beitrag der Arbeitgeber könnte an der Grundversorgung bemessen werden.
Für Junge und Gesunde wären billigere Tarife mit Selbstbehalt oder reduzierter Leistung aber kaum so attraktiv, dass die gesetzliche Kasse den Preiswettbewerb mit privaten Versicherungen besteht. Schließlich müssen die Solidarkassen weiterhin die gewaltige Alterslast und die Familienhilfe auf breite Schultern verteilen. Soll eine Rückkehr zu „All Inclusive Versicherung“ möglich sein, kann die Rechnung nicht aufgehen. Andererseits sind Leistungen unter Sozialhilfeniveau bei einer gesetzlichen Kasse kaum vorstellbar.
Das Konzept der Union wirft viele praktische Fragen auf. Auch Stoiber sagt nicht konkret, wie die Sozialbeiträge unter die Vierzig-Prozent-Marke gedrückt werden sollen. Die Alternative „Solidarität“ oder „Wahltarif“ eignet sich nur für einen allgemeinen Schlagabtausch zwischen dem sozialen und liberalen Denkansatz. Unklar bleibt, wie die großen strukturellen Probleme gelöst werden sollen. Wie gering die Bereitschaft ist, dem Wähler etwas abzuverlangen, zeigte jüngst Ulla Schmidt beim Beitragsnachlass für freiwillig versicherte Rentner. So lässt sich die Dynamik bei den Ausgaben zu stabilen Sätzen nicht finanzieren.
Die Sozialdemokraten wollen dieses Kunststück trotzdem in Angriff nehmen. Die Krankenkassen sollen künftig auch auf Einzelverträge, besondere Hausarzttarife und integrierte Versorgungssysteme setzen. Die Prävention wird wieder neu entdeckt und soll zu einer eigenen Säule neben der Akutbehandlung und Rehabilitation ausgebaut werden.
Geplant sind nach den Vorstellungen der SPD viele kleine Initiativen, die einzelne Grüppchen ansprechen. Dagegen fehlt der Mut zu neuen und klaren Strukturen. Offensichtlich sollen die Mitspieler im Gesundheitswesen nicht vor den Kopf gestoßen werden. Gerade deshalb ist besondere Wachsamkeit geboten. Das peinliche Feilschen um das Arzneimittelsparpaket zeigt, wie schnell aus gut gemeinten Ideen schlechte Politik werden kann.
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