Repetitorium

Kindesmisshandlung – das sollten Sie wissen

Ausgeschlagene Zähne, Druckstellen, Schürfwunden und Hämatome – die Mutter erklärt, der Fünfjährige sei auf dem Spielplatz gestürzt. Mag sein, dass sie recht hat. Andererseits können auch Sie als Zahnarzt mit dem Problem der Kindesmisshandlung konfrontiert werden. Worauf zu achten ist und was im Verdachtsfall weiterhilft, soll in diesem Beitrag dargestellt werden.

Mehrmals jährlich erschüttern Presseberichte über unfassbare Kindesmisshandlungen – nicht selten mit tödlichem Ausgang – die Öffentlichkeit. Doch das Thema „Gewalt gegen Kinder“ ist nicht neu: Schon seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gibt es eine Art „Geschichtsschreibung“ zu dieser Problematik, die zunehmend ihren Weg in die Öffentlichkeit findet. Diese ist stärker sensibilisiert als früher und doch braucht es oftmals sehr lange, ehe den betroffenen Kindern geholfen wird.

Kindesmisshandlung, Kindesvernachlässigung und auch sexueller Missbrauch von Kindern werden jedoch immer häufiger ein Thema, das die Gemüter bewegt.

Ärzte und auch Zahnärzte spielen bei der Problematik eine besondere Rolle. Bei ihnen werden die Eltern mit ihrem Sprößling vorstellig, wenn dieser medizinische Hilfe braucht. Zu erkennen, dass eine Kindesmisshandlung die Ursache der Symptome ist, ist jedoch oft nicht einfach, und viele Ärzte fühlen sich in dieser Situation überfordert. Sie wissen nicht, wie sie sich juristisch richtig verhalten müssen und stehen nicht zuletzt auch wegen der Schweigepflicht vor anscheinend unlösbaren Problemen.

Noch schwerer als die Kindesmisshandlung zu erkennen, kann es deshalb werden, im Verdachtsfall das Problem nicht zu ignorieren, sondern das Gefühl der Unsicherheit und der Hilflosigkeit, das sich einstellt, abzustreifen und sich zu engagieren, damit das betroffene Kind Hilfe erfährt.

Definition der Kindesmisshandlung

Die Kindesmisshandlung ist definiert als „die nicht zufällige, bewusste oder unbewusste gewaltsame körperliche und/oder seelische Schädigung, die in Familien oder Institutionen geschieht und die zu Verletzungen und/oder Entwicklungshemmungen oder sogar zum Tode führt und die somit das Wohl und die Rechte des Kindes beeinträchtigt oder bedroht“.

Nach dieser Definition dürfen die erhobenen Befunde, egal ob es sich um körperliche, psychische oder psychosoziale Auffälligkeiten handelt, nicht zufällig aufgetreten oder Folge eines Unfalls sein, wie dies von den Eltern oft vorgetragen wird.

Die Definition impliziert ferner, dass das gewalttätige Verhalten Erwachsener gegenüber Kindern nicht nur Ausdruck bewusster Handlungen sein muss, sondern auch durch unbewusste psychische Abläufe bedingt sein kann. Die Kindesmisshandlung ist dabei – so schreibt es Dr. Eugen E. Jungjohann von der Kinderschutzambulanz in Düsseldorf als Herausgeber des Praxis-Leitfadens „Hilfen für misshandelte Kinder“ – nicht selten Folge innerer Konflikte des schädigenden Erwachsenen.

Kindesmisshandlung hat viele Gesichter

Die Kindesmisshandlung ist nach Jungjohann außerdem oft ein Verhalten von Erwachsenen, die in ihrer Kindheit selbst Opfer von Misshandlungen oder sexuellem Missbrauch waren. Gewalt setzt sich oft über Generationen hinweg fort und die Eltern verhalten sich gegenüber den Kindern gewalttätig, selbst wenn sie sich bewusst vorgenommen haben, ein solches Verhalten gegenüber ihren eigenen Kindern nie zu zeigen.

Dabei muss man sich bewusst machen, dass die Kindesmisshandlung, so Jungjohann, viele Gesichter hat und auch von Ärzten nicht immer leicht zu erkennen ist. Neben der körperlichen Misshandlung und dem sexuellen Missbrauch nennt der Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie auch den emotionalen und den foetalen Missbrauch, zwei Formen, die nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in medizinischen Lehrbüchern bislang vernachlässigt werden.

Die körperliche Misshandlung

Körperliche Misshandlungen bei Kindern sind weiter verbreitet, als gemeinhin bekannt sein dürfte. Das betrifft vor allem das Säuglings- und Kleinkindalter. Immerhin werden von 1 000 Neugeborenen sechs so schwer verletzt, dass ein Viertel davon stirbt oder schwere Dauerschäden davon trägt.

Hochgerechtnet auf die rund 700 000 Geburten pro Jahr in Deutschland ergibt sich eine erschreckende Bilanz: So ist jährlich mit 70 neuen Fällen einer Phenylketonurie zu rechnen und etwa 350 der Neugeborenen leiden an einer zystischen Fibrose (Mukoviszidose). 4 000 Kinder jedoch werden Opfer einer schweren körperlichen Misshandlung, 13 000 Kinder werden Opfer des sexuellen Missbrauchs. Die Dunkelziffer ist hoch.

Einer körperliche Misshandlung liegt, so die Definition, vor, wenn durch körperliche Gewaltanwendung Kindern ernsthafte, vorübergehende oder bleibende Verletzungen oder der Tod zugefügt werden. Von einer Kindesmisshandlung spricht man ferner, wenn gewalttätiges Verhalten der Eltern oder anderer erziehender Personen ein Grundelement der Kindererziehung ist.

Besonders gefährdet sind Säuglinge und Kleinkinder, weshalb die Kinderärzte gehalten sind, bei den Vorsorgeuntersuchungen gezielt auch auf potenzielle Zeichen einer körperlichen Misshandlung zu achten, ebenso wie auf Entwicklungsverzögerungen des Kindes, auf seinen Pflegezustand oder Verhaltensauffälligkeiten. An die Möglichkeit einer körperlichen Misshandlung ist zudem immer auch bei einem plötzlichen Kindstod (SIDS, Sudden Infant Death Syndrom) zu denken, wenngleich nach Jungjohann dem SIDS in diesem Zusammenhang kein großer Stellenwert zukommt.

Mannigfaltige Gewalt

Die Gewaltformen, denen Kinder ausgesetzt sind, sind dabei mannigfaltig. Es wird, so Jungjohann, mit Händen, Fäusten und auch mit Gegenständen geschlagen. Kinder werden getreten, gestoßen und geschleudert sowie massiv geschüttelt, was zu typischen Griffmarken an beiden Oberarmen, eventuell mit Prellmarken im Brustbereich führt.

Kinder werden gewürgt und mit Kissen erstickt, verbrüht und mit Zigaretten verbrannt. Es werden ihnen ätzende und giftige Substanzen gegeben, und es ist immer auch auf körperliche Verletzungen im Genital- und Anusbereich als Folgen eines sexuellen Missbrauchs zu achten.

Münchhausen-Syndrom

Eine eher seltene aber durchaus realistische Variante stellt das so genannte Münchhausen-Syndrom by proxy dar. Der Begriff charakterisiert das psychologisch bedingte Bedürfnis, sich selbst Krankheitszeichen oder Krankheiten zuzufügen mit dem Ziel, ärztliche Behandlung und Zuwendung zu bekommen, schreibt der Mediziner in seinem Praxis-Leitfaden.

Der Ausdruck by proxy beschreibt die Tatsache, dass Ähnliches auch einem Kind zugefügt werden kann, etwa durch die Gabe toxischer Substanzen oder Medikamente oder zum Beispiel durch Beimengungen von Blut zu den Ausscheidungen des Kindes. Selbst ein kurzfristiges Ersticken des Kindes, um Apnoen oder Anfälle vorzutäuschen, ist nach Jungjohann möglich, wobei die versorgenden Erwachsenen üblicherweise ein überaus besorgtes Verhalten zeigen.

Der Mediziner macht in diesem Zusammenhang auch darauf aufmerksam, dass das Verhalten der Eltern, die das Kind in der Praxis vorstellen, generell von Sorge, Angst und Fürsorge um das Kind geprägt ist. Dieses emotionale Verhalten kann in der Situation durchaus authentisch sein, es verschleiert nach Jungjohann jedoch die Beziehungsstörung in der Familie. Die Angaben der Eltern, die die Verletzungen des Kindes durch einen Unfall erklären, dürfen deshalb nicht vorschnell hingenommen werden, da dem Kind ansonsten nach seiner medizinischen Versorgung rasch erneute Verletzungen drohen, wobei die Eltern dann üblicherweise einen anderen Arzt aufsuchen. Andererseits darf man nach Jungjohann nicht ins andere Extrem fallen und nicht jede Verletzung des Kindes als Kindesmisshandlung ansehen.

Den „Unfall“-Hergang genau hinterfragen

Deshalb ist in jedem Einzelfall zu hinterfragen, ob die Art der Verletzung mit der Beschreibung der Verletzungsursache durch die Eltern oder mit dem angeblichen Unfall in Einklang zu bringen ist. So kommt es vor, dass Mütter versuchen, eine schwere  Schädelverletzung dadurch zu erklären, dass das Kleinkind nachts im Gitterbett mit dem Kopf von einer Seite auf die andere schlage. Oftmals fehlt auch jede Erklärung. Die Eltern geben an, man habe das Kind einfach mit der Verletzung vorgefunden. Hellhörig werden muss man nach Jungjohann ferner, wenn die Kinder mit einer deutlichen zeitlichen Verzögerung beim Arzt vorgestellt werden.

Hilfreich ist es, auf alterstypische Verletzungszeichen zu achten: So weisen Säuglinge und Kleinkinder als Folge einer Misshandlung häufig Hämatome, Hautblutungen und Schwellungen im Kopf- und Halsbereich auf, wobei auch die behaarte Kopfhaut zu untersuchen ist. Nicht selten haben die Kinder einen Schädelbruch, was nach Jungjohann in diesem Alter aber schwer festzustellen ist. Es besteht die Gefahr subduraler und intrakranieller Blutungen unter Umständen mit Lebensgefahr speziell bei einer Wiederholung der Schädigung.

Kinder zwischen drei und zwölf Jahren zeigen häufiger Verletzungen an den Beinen und im Gesäßbereich, im unteren Teil des Rückens und an den Genitalien, während bei Jugendlichen zwischen zwölf und 17 Jahren insbesondere auf Hämatome und Verletzungen im Kopfbereich, im Schulterbereich und im Gesicht zu achten ist, so dass durchaus auch Zahnärzte mit einem solchen Problem konfrontiert werden können.

Verhaltensauffälligkeiten müssen beachtet werden

Ferner ist auf Verhaltensauffälligkeiten des Kindes zu achten und Verdacht zu schöpfen, wenn Kinder bei der Untersuchung ein unangemessenes, deutliches Abwehrverhalten zeigen, was sich insbesondere auf die körperliche Berührung durch den Arzt beziehen kann. Wenn das Kind schon sprechen kann, so sollte es selbstständig den Unfallhergang beschreiben. Möglichst ein weiteres Mal bei der Helferin in Abwesenheit der Eltern. Häufig geben schon unterschiedliche Tatbeschreibungen Anlass zum Missbrauch.

Auch ist auf Anzeichen einer körperlichen Verwahrlosung oder einer alimentären oder medizinischen Vernachlässigung zu achten.

Foetale Misshandlung

Eine besondere Form der Kindesmisshandlung ist die Schädigung bereits im Mutterleib durch die Mutter oder ihren Partner. Diese Misshandlungsform hat nach Jungjohann bislang medizinisch wenig Beachtung erfahren, es muss aber immer an eine solche Möglichkeit gedacht werden, wenn die Gefahr eines vorzeitigen Schwangerschaftsabbruchs gegeben ist.

Ursache der foetalen Misshandlung sind persönliche Konfliktsituationen der Mutter, bei der das ungeborene Kind zum Gegenstand der Wut oder gar des Hasses wird. Schläge mit den Fäusten in den Bauch oder auch die Einnahme wehentreibender Mittel können die Folge sein.

Emotionale Misshandlung

Ebenfalls noch wenig beachtet wird die emotionale Misshandlung. Sie beinhaltet, so die Definition, eine feindliche oder abweisende, ablehnende oder ignorierende Verhaltensweise von Eltern oder Erzieher gegenüber einem Kind und der Tatbestand der Misshandlung ist erfüllt, wenn ein solches Verhalten zum festen Bestandteil der Erziehung gehört.

Eine wesentliche Form der emotionalen Misshandlung ist laut Jungjohann das Ignorieren, es handelt sich quasi um eine lautlose Form der Kindesmisshandlung. „Die Kinder erleben keine aktive Ablehnung, erleben ihre Umwelt aber wie in Watte eingepackt, sind isoliert von allem was Zuhören, Erfahrenwollen und Interessiertsein heißt.“

Diese Form der Misshandlung erleben nach Angaben des Kinderpsychiaters sehr viele Kinder: „Sie wird jedoch kaum bemerkt, denn „lautlose Familien“ haben heutzutage einen hohen sozialen Stellenwert.

Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten sind die Folge der emotionalen Vernachlässigung. Oft zeigt sich diese auch über eine verzögerte Sprachentwicklung und später über eine Verminderung der funktionellen Intelligenz. Nicht selten ist sie vergesellschaftet mit einer körperlichen Vernachlässigung.

Psychische Misshandlung

Zur psychischen Misshandlung gehört ferner das Terrorisieren oder Angstmachen, zum Beispiel über Androhungen, ins Heim zu kommen, kein Essen zu bekommen oder das Essen auf der Toilette einnehmen zu müssen, um nur einige Beispiele zu nennen. Auch der Mechanismus des Korrumpierens gehört zu den Kindesmisshandlungen, etwa wenn Kinder zu Zeugen des elterlichen Geschlechtsverkehrs gemacht werden, pornographischen Filmen ausgesetzt werden oder, so die extreme Form, zur Teilnahme an entsprechenden Produktionen gezwungen werden, wobei die Kinder für entsprechende Handlungen belohnt werden.

Sexueller Missbrauch

Der Schritt zum sexuellen Missbrauch ist nicht mehr weit, wobei dieser definiert ist als „Ausbeutung der körperlichen emotionalen und entwicklungsbedingten Abhängigkeiten eines Kindes durch sexuelle Handlungen Erwachsener oder Jugendlicher mit einer Altersdifferenz von wenigstens fünf Jahren zur sexuellen Befriedigung des Missbrauchenden. Die gegebenen Abhängigkeiten machen eine überlegte Zustimmung des Kindes unmöglich und die Verantwortung trägt in jedem Fall der Täter.

Der sexuelle Missbrauch hat nach Jungjohann verschiedene Formen, beginnt beim Exhibitionismus oder dem Darbieten von Pornographie und geht über das Berühren der genitalen und analen Körperbereiche bis hin zur genitalen, analen oder oralen Penetration und weiteren Perversionsformen bis zum ritualisierten Missbrauch.

Fast immer – und insbesondere beim Inzest – handelt es sich um einen langen zeitlichen Prozess, wobei 50 Prozent der Kinder, die in spezialisierten diagnostischen Einrichtungen gemeldet werden, jünger als sieben Jahre und 40 Prozent sogar jünger als fünf Jahre alt sind. Zweidrittel der Kinder sind Mädchen, rund ein Drittel Jungs. Speziell beim Inzest müssen die Kindern nach Jungjohann den Missbrauch im Mittel zwei Jahre lang durchleben, bevor jemand die Schädigung wahrnimmt und den Kindern hilft. Diese haben bis zu diesem Zeitpunkt im Durchschnitt fünfmal versucht, sich Gehör zu verschaffen, bei Familienangehörigen, Verwandten, Lehrern und Ärzten.

Schweigepflicht kontra Strafanzeige

Hat ein Arzt in der Sprechstunde den Verdacht auf eine Kindesmisshandlung, eine Vernachlässigung oder einen sexuellen Missbrauch, so steht er vor der Entscheidung zwischen Schweigepflicht und Strafanzeige. Eine Verpflichtung zur Strafanzeige besteht, so Jungjohann, nicht grundsätzlich, und es ist immer ratsam, zunächst ein klärendes Gespräch mit den Eltern oder gegebenenfalls den Großeltern zu suchen.

Weiterführende Maßnahmen sind dann die Kontaktaufnahme mit ärztlichen Beratungsstellen und Spezialeinrichtungen sowie die Meldung bei der Fürsorge und beim Jugendamt. Um nicht selbst juristische Schwierigkeiten zu bekommen, ist es laut Jungjohann angeraten, das jeweilige Vorgehen sowie die Gründe hierfür genauestens zu dokumentieren.

Christine VetterMerkenicher Str. 22450735 Köln

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