Der kleine Unterschied und seine großen Folgen
Die Frau, das unbekannte Wesen! Diese These – entstanden in der sexuell-erotischen Aufklärungskampagne der 60er Jahre – ist unverändert aktuell, wenn es darum geht, geschlechtsspezifische Unterschiede in der Pharmakokinetik und -dynamik von Medikamenten zu beschreiben. Dies liegt in erster Linie daran, dass Frauen in den großen klinischen Studien meist unterrepräsentiert sind. Somit werden die Ergebnisse, die an meist jüngeren Männern erhoben wurden, unkritisch auf das weibliche Geschlecht übertragen. Auch gibt es weder in den Lehrbüchern der Pharmakologie, noch in Beipackzetteln irgendwelche Informationen zu diesem Thema.
Frauen schlucken mehr Medikamente
Die Analyse von Arzneiverordnungen zeigt, dass Frauen grundsätzlich mehr Medikamente einnehmen als Männer. Dabei fand sich bezüglich der eingenommenen Tagesdosen ein Unterschied von rel. 44 Prozent (454 Tagesdosen bei Frauen versus 315 Tagesdosen bei Männern). Besonders groß ist der Unterschied bei den Psychopharmaka, die bei Frauen doppelt so häufig verordnet werden wie bei Männern. Interessanterweise sind jedoch die pro Arztbesuch ausgestellten Verordnungen bei Mann und Frau gleich. Entsprechend dem Arzneimittelverordnungsreport 2000 konsultieren Frauen jedoch mit 73 Prozent aller Praxisbesuche den Arzt deutlich häufiger.
Pharmakokinetische Unterschiede selten wichtig
Bei der Pharmakokinetik eines Medikamentes spielen Körpergewicht, Fett, Muskelmasse und Wassergehalt des Körpers eine Rolle. Da bei Frauen das Verhältnis zwischen Fett- und Muskelmasse und auch der Wassergehalt des Gewebes anders ist als bei Männern, ergeben sich bereits daraus geschlechtsspezifische pharmakologische Unterschiede. Ein weiterer Gesichtspunkt ist die Magenentleerung, die in der Zyklusmitte am schnellsten, während der Schwangerschaft dagegen sehr verlangsamt ist. Dies kann zu Unterschieden in der Resorption führen. Darüber hinaus wird aber auch der Metabolismus von Medikamenten hormonell beeinflusst, wobei sowohl endogen als auch exogen zugeführte Hormone eine Rolle spielen. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Pharmakokinetik von Arzneimitteln sind jedoch nur selten, das heißt nur bei Stoffen mit enger therapeutischer Breite, klinisch relevant. Hier kann es jedoch insbesondere bei Frauen mit einem niedrigen Körpergewicht schneller zu einer Überdosierung kommen.
Hormonelle Wechselwirkungen
Neben dem Einfluss des endogenen Hormonstatus auf die Pharmakokinetik eines Arzneimittels müssen auch Wechselwirkungen exogen zugeführter Hormone im Rahmen der oralen Kontrazeption oder bei der Östrogensubstitution in der Menopause berücksichtigt werden. Von besonderer praktischer Relevanz ist die Beeinträchtigung der Sicherheit einer oralen Kontrazeption. Dies gilt zum Beispiel für Antikonvulsiva. Während Phenytoin, Phenobarbital und Carbamazepin den Sexualhormonspiegel bei Einnahme der Pille deutlich herabsetzen, zeigen Valproinsäure und Gabapentin keine relevante Interaktion mit oralen Kontrazeptiva. Diese Gesichtspunkte sollten bei der Auswahl eines Antiepileptikums für eine Frau im gebährfähigen Alter durchaus berücksichtigt werden. Aber auch Antibiotika und Johanniskraut-Präparate gefährden die Sicherheit der oralen Kontrazeption, so dass bei einer solchen Komedikation Durchbruchsblutungen und eventuell ungewollte Schwangerschaften eintreten können.
Unterschiedliche Schmerzempfindlichkeit
Dass Männer schmerzempfindlicher sind als Frauen, ist ein Mythos. In einem experimentellen Schmerzmodell mit einer entsprechenden Wechselstromreizung am Ohrläppchen wurde die Schmerzgrenze bei Frauen nämlich schneller erreicht als bei Männern. Dies spricht dafür, dass die Schmerzempfindung hormonell beeinflusst wird, wobei entweder Östrogene die Schmerzschwelle herab- oder Testosteron die Schmerzschwelle heraufsetzt. Auch dies kann von praktischer Relevanz sein. So konnte in einer pharmakologischen Studie gezeigt werden, dass das Schmerzmittel Ibuprofen bei Männern besser wirkt als bei Frauen und deshalb diese Substanz bei Dysmenorrhoe- Beschwerden häufiger versagt.
Interaktionen mit oralen Kontrazeptiva
Ein praktisch relevantes Beispiel für die unterschiedliche Pharmakokinetik zwischen beiden Geschlechtern liefert der Betablocker Metoprolol. Bei gleicher Dosierung, nämlich 100 Milligramm täglich, fanden sich bei Frauen signifikant höhere Plasmakonzentrationen von Metoprolol, insbesondere dann, wenn gleichzeitig orale Kontrazeptiva eingenommen wurden. Dies korrelierte mit einem stärkeren Einfluss des Betablockers auf die Herzfrequenz und den systolischen Blutdruck. Auch klagen Frauen unter diesem Betablocker häufiger über unangenehme Nebenwirkungen wie kalte Hände und Füße.
Bei Methylprednisolon fanden sich dagegen bei Frauen niedrigere Plasmakonzentrationen als Folge einer erhöhten Clearance. Dies hat jedoch keine praktische Relevanz, da die klinische Wirkung unverändert ist. Auch der Metabolismus von Acetylsalicylsäure (ASS) wird von oralen Kontrazeptiva beeinflusst. So ist die Halbwertzeit von ASS bei Frauen ohne Pille signifikant verlängert, bei Einnahme der Pille normalisiert sich jedoch die Wirkdauer. Andererseits ist die Thrombozytenaggregation hemmende Wirkung von ASS bei gleicher Konzentration bei Männern stärker als bei Frauen. Bisher liegen jedoch keinerlei Studienergebnisse vor, die angesichts dieser Wirkunterschiede bei Frauen eine höhere ASS-Dosierung sinnvoll erscheinen lassen. Allerdings sollte bei Frauen die Mindestdosis von 100 Milligramm ASS nicht unterschritten werden.
Kardiovaskuläres Risikoprofil differiert
Ein entscheidender Risikofaktor für die Entstehung makrovaskulärer Komplikationen bei Typ 2-Diabetikern ist die Insulinsensitivität beziehungsweise die Insulinresistenz. Interessanterweise zeigen Frauen eine höhere Insulinsensitivität, das heißt die Glukoseaufnahme in die Muskulatur ist bei gleicher Insulinmenge um 40 Prozent höher. Die bessere Insulinwirksamkeit könnte eine der Ursachen sein, warum Frauen bis zur Menopause einen gewissen Schutz vor atherosklerotischen Komplikationen besitzen.
Auch der Risikofaktor Hypercholesterinämie muss geschlechtsspezifisch unterschiedlich bewertet werden. So scheint ein erhöhtes LDL für das weibliche Gefäßendothel weniger gefährlich zu sein als für das männliche. Inwieweit sich daraus unterschiedliche Empfehlungen für eine CSE-Hemmer-Therapie ergeben könnten, lässt sich nur schwer beurteilen, da in den großen Primärpräventionsstudien überwiegend Männer behandelt wurden. Unbestritten ist, dass Frauen im Rahmen der Sekundärprävention von einem CSE-Hemmer genauso profitieren wie Männer. In der Primärprävention allerdings ist bei Fehlen weiterer Risikofaktoren ein Einfluss der CSEHemmer auf die kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität bei Frauen nicht belegt.
Ähnliches gilt auch für die arterielle Hypertonie. Bei Frauen weißer Hautfarbe in einem Alter zwischen 3o und 54 Jahren ergab eine Metaanalyse der großen Hypertoniestudien keinen signifikanten Einfluss auf Morbidität und Mortalität. Dagegen konnte bei über 55-jährigen Frauen eine Abnahme tödlicher und nicht-tödlicher zerebrovaskulärer Ereignisse von 38 Prozent und tödlicher und nicht-tödlicher kardiovaskulärer Ereignisse von 25 Prozent dokumentiert werden. Somit erscheint bei jüngeren Frauen mit einer leichten bis mittelgradigen arteriellen Hypertonie eine konsequente Blutdrucksenkung nur dann zwingend erforderlich, wenn zusätzliche Risikofaktoren vorliegen.
Weibliche Herzen sind empfindsamer
Nicht nur, aber auch in der Kardiologie geben uns die Herzen der Frauen immer wieder Rätsel auf. Dies gilt insbesondere für die Häufigkeit maligner ventrikulärer Tachykardien im Sinne von Torsade de pointes. Eine solche lebensbedrohliche Komplikation kann durch eine Reihe von Medikamenten, insbesondere Antiarrhythmika, ausgelöst werden, da diese Substanzen zu einer inhomogenen Repolarisation und somit zu einer Verlängerung der QTC-Zeit im Oberflächen- EKG führen. Interessanterweise findet sich bei Frauen mit gleicher Plasmakonzentration eines Antiarrhythmikums eine stärkere Verlängerung der QTC-Zeit als bei Männern. Dies spricht dafür, dass die Empfindlichkeit des kardialen Reizleitungssystems für bestimmte Medikamente bei Frauen ausgeprägter ist als bei Männern. Auch in entsprechenden elektrophysiologischen Untersuchungen konnte dies dokumentiert werden. Deshalb sollte bei der Verordnung von Medikamenten, die die QTC-Zeit verlängern, zum Beispiel Antiarrhythmika, bei Frauen eine besondere Vorsicht geboten sein und eine strenge Therapiekontrolle erfolgen.
Fazit:
• Frauen nehmen mehr Medikamente als Männer, insbesondere Psychopharmaka
• Die pharmakokinetischen Unterschiede sind nur selten klinisch relevant
• Die Wirksamkeit einer hormonellen Kontrazeption kann durch andere Medikamente wie Antiepileptika, Antibiotika und Johanniskraut-Präparate beeinträchtigt werden
• Exogen zugeführte Hormone können die Pharmakodynamik bestimmter Arzneimittel beeinflussen
• Frauen haben eine bessere Insulinsensitivität
• Die Wirksamkeit eines CSE-Hemmers im Rahmen der Primärprävention und einer antihypertensiven Therapie bei jüngeren Frauen ohne zusätzliche Risikofaktoren ist wissenschaftlich nicht belegt
• Das kardiale Erregungsleitungssystem bei Frauen reagiert sensibler auf Medikamente, wodurch das Risiko einer medikamentös induzierten Torsade de pointes steigt.
Quelle: Vortrag Prof. Dr. Petra A. Thürmann, Wuppertal, im Rahmen der Medica 2001.
Dr. med. Peter StiefelhagenDRK-Krankenhaus HachenburgChefarzt der Inneren Abteilung57627 Hachenburg