Invisalign, die Korrektur mit der durchsichtigen Schiene
Die Methode
Invisalign ist ein Kunstwort, das sich aus den beiden englischen Wortstämmen invisible (unsichtbar) und align (ausrichten) zusammensetzt. Genau darum geht es, denn Invisalign ist eine kieferorthopädische Behandlungsmethode, bei der herausnehmbare, durchsichtige, semi-elastische Polyurethan-Schienen (Aligner) die Zähne begradigen. In dem vorangehenden Satz sind zwei wichtige Aussagen enthalten:
1. Mit Invisalign-Schienen können nur Zähne bewegt werden.
2. Diese Schienen sind zwar durchsichtig, aber natürlich nicht unsichtbar. Wie sehr oder wenig sie ins Auge fallen, mag jeder Leser anhand der Abbildungen 1 a und b selbst entscheiden.
Kommen wir noch einmal auf den ersten Punkt zurück, der entscheidend ist, damit keine falschen Erwartungen erweckt werden. Stets hat der Hersteller und haben ernsthafte Anwender darauf hingewiesen, dass mit der Invisalign-Methode nur dentoalveoläre Veränderungen möglich sind. Leider wird diese Einschränkung in den Medien oft unterschlagen, denn in unseren Zeiten des Glanz- und Glamourjournalismus sind differenzierte Darstellungen nicht gefragt.
Sind aber dentoalveoläre Korrekturen an sich etwas Minderwertiges? Sicher nicht, denn die meisten herausnehmbaren und festsitzenden Behandlungsmittel wirken vor allem dentoalveolär. Selbst bei funktionskieferorthopädischen Geräten konnte bisher kaum der wissenschaftliche Beweis einer skelettalen Wirkungsweise erbracht werden. Lediglich Pancherz und seine Mitarbeiter waren in der Lage, wissenschaftlich begründet (so genannt evidenz-basiert) nachzuweisen, dass das von ihnen häufig verwendete Herbst-Gerät einen skelettalen Effekt von etwa 50 Prozent hat.
Allerdings muss man bei dentoalveolären Bewegungen zwischen biologisch günstigeren und ungünstigeren differenzieren. Günstig sind vor allem körperliche Bewegungen, akzeptabel kontrolliert kippende, in aller Regel ungünstig unkontrolliert kippende. Unkontrolliert kippende Bewegungen sind ein Charakteristikum herausnehmbarer Geräte. Gilt das gleichermaßen für Invisalign-Schienen? Nein, denn alle bisherigen Beobachtungen deuten darauf hin, dass Aligner über kleinere Bewegungsstrecken hin Zähne körperlich oder kontrolliert kippend bewegen können.
Noch eine Einschränkung ist erforderlich: Invisalign ist ungeeignet bei Patienten, bei denen die bleibende Zähne (Weisheitszähne ausgenommen) nicht vollständig durchgebrochen sind. Die gesamte Serie der Behandlungsschienen wird nämlich auf Grund der ersten Abformung hergestellt. Verändern die Zähne aber ihre Stellung durchbruchsbedingt, so werden die angefertigten Schienen früher oder später nicht mehr passen.
Besser ist es auch, wenn das Kieferwachstum beendet ist, denn sonst besteht die Gefahr, dass die natürliche Entwicklung gehemmt wird. Das Wachstum der Kiefer wird jedoch erst mit dem 16. bis 18. Lebensjahr (das frühere Alter ist eher für das weibliche, das spätere für das männliche Geschlecht gültig) weitgehend abgeschlossen, so dass frühestens dann eine entwicklungsneutrale Behandlung möglich ist. Eher am Rande sei hier gefragt, inwieweit die allseits bekannten herausnehmbaren und festsitzenden Geräte den Gesichtspunkt einer denkbaren Wachstumshemmung berücksichtigen ...
Die Idee einer Therapie mit teilelastischen Geräten ist grundsätzlich nicht neu, was in gewisser Weise beruhigend ist. So beschrieb Kesling schon im Jahre 1945, wie man die Lücken schließt, die vorhanden sind, nach dem die orthodontischen Bänder abgenommen wurden. Später schilderten McNamara et al. und Sheridan et al., wie sie mit Schienenpositionern Zähne bewegten, was jedoch relativ erratisch geschah. Auf breiter Basis durchgesetzt hat sich keines dieser Verfahren, denn der Aufwand, immer neue Zwischenmodelle herzustellen, stand in keinem Verhältnis zum möglichen Erfolg. Die Situation änderte sich grundlegend im Jahre 1997, als Align Technology Inc. das Invisalign-System entwickelte, bei dem die erforderlichen Modelle berechen- und reproduzierbar auf EDV-Basis hergestellt werden.
Der Hersteller ist das Stichwort für das Nachstehende. Diesem Hersteller begegnet man mancherorts mit Skepsis, da er seine neue Methode nicht nur der Fachwelt vorstellte, sondern auch der Öffentlichkeit direkt präsentierte. Nachfolgend soll aber die Behandlungsmethode davon losgelöst möglichst objektiv und vorurteilsfrei betrachtet werden.
Planen einer Invisalign-Behandlung
Ist bei einem Patienten eine Invisalign-Behandlung geplant, werden sein Ober- und Unterkiefer mit einem A-Silikon abgeformt; zusätzlich wird ein Bissregistrat genommen (Abbildung 2). Diese drei Dinge werden zusammen mit den Planungsbögen, einer Röntgenaufnahme des gesamten Gebisses, einer Fernröntgenseitenaufnahme sowie intra- und extraoralen Fotografien zu Align Technology geschickt. Allerdings kann das gesamte Text- und Bildmaterial auch via Internet eingereicht werden.
In Santa Clara, Kalifornien, werden die Abformungen ausgegossen und mit Hilfe einer destruktiven Scantechnik in dreidimensionale, digitale Bilder konvertiert. So entsteht ein virtuelles Dysgnathiemodell, dessen Daten nach Lahore, Pakistan verschickt werden. Dort wird unter der Aufsicht amerikanischer Kieferorthopäden und mit Hilfe eines aufwändigen Grafikprogramms das virtuelle Kiefermodell an den klinischen Kontaktpunkten in seine einzelnen Zahnsegmente zerlegt. Anschließend werden die Zähne, die bewegt werden sollen, virtuell und dreidimensional in ihre Endposition verschoben. Weiß der Computer nun, welche Zähne wie weit in welcher Reihenfolge zu bewegen sind, und weiß er, um wie viel ein Zahn pro Behandlungsschritt bewegt werden darf, errechnet er alle Zwischenschritte von der Ausgangs- bis zur Endsituation. Das Bewegungsausmaß kann vom Behandler bestimmt werden und liegt je nach Art der Zahnbewegung sowie der parodontalen Verhältnisse in der Regel zwischen 0,15 Millimeter und 0,25 Millimeter.
Etwa zwei Wochen nachdem die diagnostischen Unterlagen des Patienten abgeschickt wurden, erhält der Behandler via Internet den virtuellen Behandlungsverlauf unter der Programmbezeichnung „Clin-Check“ (Abbildung 3). Sinnvollerweise sollte er diese Therapiesimulation zusammen mit seinem Patienten genau kontrollieren. Sind beide mit dem Behandlungsverlauf und -ergebnis zufrieden, so bestätigen sie dies, und Align Technology beginnt, die erforderlichen Schienen herzustellen. Zu diesem Zeitpunkt ist dann auch bekannt, wie lange die Behandlung dauern wird, denn „Clin-Check“ gibt an, wie viele Aligner für die geplante Korrektur erforderlich sind. Multipliziert man diese Zahl mit zwei Wochen (= durchschnittliche Tragedauer jeder Schiene), so weiß der betroffene Patient, in wie vielen Wochen/Monaten seine Behandlung beendet sein könnte. Sind Patient und Behandler mit dem „Clin-Check“ unzufrieden, so fordern sie spezifiziert Änderungen an, und der Computer errechnet erneut den Behandlungsgang; das wiederholt sich so lange, bis der Therapievorschlag bestätigt wird.
Nach dieser Bestätigung werden sämtliche Datensätze nach Mexiko transferiert, wo jeder einzelne Behandlungsschritt mittels eines laseroptischen Verfahrens in ein stereolithografisches Modell umgesetzt wird (Abbildungen 4 a und b). Auf jedem Kiefermodell wird dann im Druckformverfahren eine Schiene hergestellt, wobei das Standardmaterial eine Polyurethanfolie von 0,75 Millimeter Stärke ist. Je nach Erfordernissen können jedoch das Material selbst als auch seine Stärke variiert werden.
Indikation
Die Entscheidung, ob er eine bestimmte Fehlstellung behandelt, trifft allein der Behandler nach den Erfahrungen, die er gesammelt hat. Um die Methode jedoch vor Misskredit zu schützen, sieht das Herstellungsunternehmen für die ersten 15 Behandlungen eine Schutzklausel vor. Danach sind für eine Invisalign-Behandlung Patienten geeignet, die folgende Symptome aufweisen: leichte bis mittlere Engstände (vier Millimeter bis sechs Millimeter) und leichte bis mittlere Lückenstände (zwei Millimeter bis sechs Millimeter). Bei stabiler seitlicher Okklusion frontal tiefe Bisse und mittelstarke transversale Kieferenge (vier Millimeter bis sechs Millimeter).
Mit wachsender Erfahrung gesteht Align Technology dem Behandler zu, nun auch Patienten zu behandeln, bei denen zum Beispiel Prämolaren extrahiert, Molaren nach distal bewegt oder frontale Kreuzbisse übergestellt werden sollen. Die voranstehende Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Dennoch gibt es natürlich Grenzen, vor allem auch in behandlungstechnischer Hinsicht. Selbst wenn grundsätzlich alle Zahnbewegungen mit Alignern möglich sind, so lassen sich manche wesentlich einfacher mit anderen Apparaturen bewerkstelligen, und entsprechend würde man diese dann sinnvollerweise einsetzen.
Ansonsten sind die Grenzen eher durch die Phantasie gesetzt, denn selbst bei einer kieferorthopädisch-kieferchirurgischen Behandlung wäre es denkbar, einen gewissen Teil der Therapie mit Alignern durchzuführen. Allerdings bleibt das Schienensystem stets ein Einzelkiefersystem. Das heißt, will man die Okklusion beeinflussen, wird man ähnliche Hilfsmittel (beispielsweise Headgear oder Gummizüge) einsetzen müssen, wie bei jeder üblichen Multiattachment-Apparatur. Wichtig ist weiterhin, dass das gesamte Gebiss eines Patienten vor einer Invisalign-Therapie konservierend und prothetisch versorgt wird, denn jegliche Formveränderung der Zähne beeinträchtigt die Passgenauigkeit der Schienen. Dabei empfiehlt sich jedoch – wie bei jeder kieferorthopädischen Behandlung – aufwändige restaurative Maßnahmen erst dann vorzunehmen, wenn sich alle Zähne an die geänderten morphologischen und funktionellen Gegebenheiten adaptiert haben. Selbstverständlich müssen nicht nur die Zähne grundsaniert sein, sondern auch das Parodont – was wiederum für jede kieferorthopädische Therapie gilt.
Voraussetzungen für die Behandlung
Oft wird bei Patienten mit einem frontalen Engstand eine approximale Schmelzreduktion notwendig, um den Platz zu schaffen, der zur Ausrundung des Zahnbogens erforderlich ist (Abbildungen 5 a und b). Grundsätzlich sollte ein Beschleifen besser vor der Kieferabformung erfolgen. Allerdings muss diese Situation dann mit einer individuellen Druckformschiene bis zum Einsetzen des ersten Aligners fixiert werden. Würde man nicht so vorgehen, könnte es zu Spontanbewegungen kommen, die den sicheren Sitz der Aligner gefährden. Selbst wenn sich aber die erste Invisalign-Schiene eingliedern ließe, könnten dabei Schaukelbewegungen erfolgen, die unphysiologisch sind.
Zwar kann man das Beschleifen auch unter der Behandlung vornehmen, aber die Computerplanung wird um so genauer sein, je genauer die Zahnmorphologie ihrem Endzustand entspricht. Reicht trotz kritischer Planung die erfolgte Schmelzreduktion einmal nicht aus, um einen Engstand wie vorgesehen zu beseitigen, stellt der Computer ein Überlappen der Zahnkronen in der Idealstellung fest. Da er das Ausmaß der Überschneidungen kennt, kann er sie virtuell beseitigen. Dem Behandler wird dann schriftlich mitgeteilt (so genannte Reproximation Form), um wie viel (mehr) und wann er welche Zähne noch beschleifen muss. Da die Form mancher Zähne (Schneidezähne im Unterkiefer) recht einfach ist, manche Zahnbewegung (Wurzelbewegungen nach mesial/distal) dagegen recht kompliziert, muss die Kraftangriffsfläche vergrößert werden. Das geschieht, indem manauf einzelnen Zahnflächen kleine, individuell geformte, zahnfarbene Kunststoffaufbauten anbringt (Abbildungen 6 a und b).
Das Befestigen dieser so genannten Attachments erfolgt mit Hilfe einer 0,2 Millimeter starken Schablone, die Align Technology zusammen mit den Schienen ausliefert. Nach dem üblichen Vorbereiten des Zahnes wie bei der Adhäsivtechnik, werden die Konkavitäten der Schablone mit einem lichthärtenden Komposit gefüllt, die Schiene wird eingebracht und das Adhäsiv polymerisiert.
Ablauf der Behandlung
Nach dem Einsetzen seines ersten Aligners wird der Patient darüber informiert, wie er ihn handhabt und pflegt. Alle Schienen sollten ständig getragen und lediglich zum Essen und zur Mundpflege herausgenommen werden. Bei dieser Gelegenheit sind auch die Aligner mit der Zahnbürste und Zahnpaste zu reinigen.
Sind Motivation und Mitarbeit eines Patienten gut, kann jeweils nach ein bis zwei Wochen ein neuer Aligner eingesetzt werden. Grundsätzlich wird ein neuer Aligner immer erst dann eingegliedert, wenn der vorherige absolut passiv sitzt. Werden die Schienen zu schnell gewechselt, laufen die geplanten Zahnbewegungen nicht vollständig ab, und die nächsten Schienen passen nicht optimal, das heißt, sie entfalten ihre Wirkung nicht wie vorgesehen. In einem solchen Fall wird man auf die letzte oder eine frühere Schiene zurückgreifen.
Die ersten Kontrollsitzungen sollten im Rhythmus der Alignerwechsel erfolgen. Danach kann man einem zuverlässigen Patienten durchaus zwei bis drei Aligner(-paare) aushändigen, so dass er die erforderlichen Schienenwechsel selbstständig durchführt. Bei den sechswöchigen Kontrollen werden Passgenauigkeit der Geräte, Veränderungen der Zahnstellung und Zustand der Weichteile überprüft. Sehr positiv ist, dass selbst dann keine größeren Probleme auftreten, wenn ein Patient seine Schienen mehrere Tage hintereinander nicht getragen hat, zum Beispiel da sie verloren gingen. In diesem Falle hat man vier Möglichkeiten:
1. Man versucht vorsichtig, die nächste Schiene einzugliedern.
2. Gelingt dies nicht, kann man die bestehende Situation mit einem einfachen Retentionsgerät fixieren, um den verlorenen Aligner neu herstellen zu lassen und ihn einzugliedern.
3. Scheut man den damit verbundenen Zeit-sowie Kostenaufwand und konnte man die nächste Schiene nicht eingliedern, geht man auf die vorherige Schiene zurück, die der Behandler zweckmäßiger Weise aufbewahrt hat. Passt diese Schiene nicht, dann sucht man so lange, bis man den Aligner gefunden hat, der sich beschwerdelos eingliedern lässt. Von dieser Schiene aus beginnt ein zweiter Durchlauf, bis man wieder zu der fehlenden Schiene kommt, die man nun erneut zu überspringen versucht. Gelingt dies nicht, oder hat man schon vorher keinen passenden Aligner finden können, ist die vierte, aufwändigste Variante indiziert.
4. Man fixiert die momentane Behandlungssituation mit einem Retentionsgerät, formt die Kiefer mit Silikon ab und lässt eine neue Serie von Alignern herstellen. Durch einen solchen zweiten Start verliert man zweifelsohne Zeit und Geld, aber dennoch nicht alles, was man bereits investiert hat. Die zuletzt geschilderte Situation dürfte allerdings auch höchst selten auftreten.
Feineinstellung und Retention
Bei Patienten mit sehr stark ausgeprägten Zahnfehlstellungen (Rotationen und Kippungen) kann eine Vor- oder Nachbehandlung mit einer festsitzenden Apparatur erwogen werden. Auch in der letzten Phase der okklusalen Feineinstellung kann der Einsatz zusätzlicher (festsitzender) Hilfselemente sinnvoll sein. Auf jeden Fall wird sich aber so die Dauer einer Therapie mit einer festsitzenden Apparatur erheblich verringern. Unabhängig davon kann man den Hersteller anhand des soweit erzielten Befundes konkret beauftragen, Schienen für weitere Zahnbewegungen anzufertigen, um das Therapieresultat zu optimieren.
Der aktiven Behandlung folgt wie bei jeder kieferorthopädischen oder orthodontischen Therapie eine Retention, für die die üblichen Regeln gelten. Als Retentionsgerät eignet sich zunächst der letzte Aligner, der dann allerdings nur in der Nacht getragen wird. Da die Lebensdauer dieser Schiene begrenzt ist, werden anschließend weitere Halteapparaturen nach Bedarf hergestellt.
Anwendung
Jeder, der weiß, wie man Zähne bewegt und dafür die Verantwortung trägt, ist in der Lage, die Methode bei seinen Patienten zu praktizieren. Das Herstellungsunternehmen erleichtert den Einstieg in diese neue Therapieform durch ein vierstündiges Zertifizierungsseminar. Wohl wäre es wünschenswert, die Dauer dieser Veranstaltung auszudehnen, doch stößt dies bei manchen Menschen auf Widerstand, da sie angeblich keine Zeit haben. So wird man in einem solchen Seminar mit derart vielen praktischen Hinweisen überhäuft, dass man nur einige davon behält und in der Folge einen mühseligen Selbsterfahrungsprozess (trial and error) durchlaufen muss.
Um die Häufigkeit von Irrtümern möglichst gering zu halten, entschlossen sich der Quintessenz-Verlag und die Schriftleiter der Fachzeitschrift „Kieferorthopädie“, zusammen ein Sonderheft zu veröffentlichen, in dem das Basiswissen zum Invisalign-Verfahren zusammengefasst wurde. Das geschah zwar in guter Absicht, erfuhr aber dennoch deutliche Kritik. Insgesamt können und wollen weder ein Zertifizierungsseminar noch das Sonderheft einer Fachzeitschrift grundsätzliche kieferorthopädische Planungskenntnisse vermitteln, denn die hat jeder Fachzahnarzt für Kieferorthopädie während seiner Weiterbildung gewonnen.
Die Planung des Behandlungsergebnisses und der Therapieablauf liegen wie stets in den Händen des Kieferorthopäden, neu ist lediglich das Behandlungsmittel. Allerdings so neu auch wieder nicht, wie bereits oben festgestellt. Abgesehen davon, wurde in den USA bereits eine ausreichende Anzahl abgeschlossener Behandlungen dokumentiert, die in gedruckter Form (The Invisalign Case Book) vorliegen, im Internet einzusehen sind (www.invisalign.com) oder in Vorträgen, beispielsweise von Boyd oder Miller, vorgestellt werden.
Nebenwirkungen
Wie bei allen kieferorthopädischen Geräten werden praktisch alle Patienten einen gewissen Druck empfinden, nach dem ihnen ihre ersten oder eine neue Schiene eingesetzt wurde. Hin und wieder stören die Schienenränder, aber dies lässt sich durch geringes Beschleifen sofort korrigieren. Selten einmal ist das Eingliedern der Schienen auf Grund des relativ starren Materials problematisch; das gilt vor allem bei unter sich gehenden Zahnbogenabschnitten im Unterkiefer. Hinzu kommt, dass bei manchen Patienten die Transparenz der Schienen nachlässt, was aber weniger bedeutungsvoll ist, da nach spätestens zwei bis drei Wochen ein neuer Aligner eingegliedert wird.
Da die Kauflächen dauerhaft von den Invisalign-Schienen bedeckt werden, fehlen die sicher wichtigen Einflüsse der Funktion auf die Okklusion. Sie fehlen jedoch während vieler kieferorthopädischer Behandlungen, denn bei herausnehmbaren Geräten wird die Okklusion oft durch Drähte gestört, die die Okklusionsflächen überkreuzen. Zahlreiche Retentionsgeräte (Schienenpositioner, Osamu-Retainer, ungeteilte Positioner) schließen sogar jegliche antagonistischen Kontakte langfristig aus. Obwohl Okklusalkontakte bei Multibandapparaturen möglich sind, finden sie auch hier vermutlich eher selten statt, da die Zähne während der Behandlung meist leicht schmerzhaft sind und durch Zungenein-/-anlagerung abgeschirmt werden. Noch problematischer wird die Situation, wenn während einer Multibandbehandlung eine dentoalveoläre Umstellung der Verzahnung erfolgt, wird doch bei jeder Behandlung mit einer Herbst-Apparatur, einem Jasper-Jumper oder Klasse II-Gummizügen der Unterkiefer so nach ventral verlagert, dass sämtliche okklusalen Kontakte im Seitenzahngebiet verloren gehen.
Allerdings hat eine Entschlüsselung der Okklusion zumindest temporär den Vorteil, manche Zahnbewegung deutlich zu erleichtern. Resultiert aus der Okklusionsabdeckung am Ende der Behandlung ein geringer seitlich offener Biss, kann man dies für eine Autorotation des Unterkiefers nach kranioventral ausnutzen. Ist dieses Aufrotieren nicht indiziert, kürzt man die Aligner hinter dem letzten antagonistischen Zahnpaar, das Okklusionskontakt hat, so dass sich die entlasteten Zähne verlängern können, bis auch sie okkludieren.
Es bleibt zu prüfen, wie sich das Tragen von Invisalign-Schienen auf die Kieferfunktion auswirkt. Dies ist jedoch eine generell offene Frage, die bisher auch für andere herausnehmbare Geräte (Plattenapparaturen, funktionskieferorthopädische Geräte) noch nicht beantwortet wurde. Festzustehen scheint lediglich, dass orthodontische Be-handlungen (das heißt mit festsitzenden Apparaturen) keinen negativen Einfluss auf die Kieferfunktion haben.
Sensation oder sensationell
Die Antwort auf die Frage, ob Invisalign eine Sensaation ist, wird sicher sehr persönlich ausfallen. Laut Fremdwörterduden heißt sensationell: Aufsehen erregend, verblüffend.
Betrachtet man die Entwicklung der Kieferorthopädie in den letzten Jahrzehnten, so stellt man fest, dass es kaum je etwas völlig Neues gab. In den meisten Fällen handelte es sich bei Neuigkeiten um Modifikationen bereits lange bekannter Therapie(hilfs)mittel. Auch die Grundidee von Invisalign ist nicht absolut neu, wie bereits mehrfach festgestellt wurde. Und dennoch ist die konsequente Einbeziehung der EDV in den Planungs- und Geräteherstellungsprozess ausgesprochen innovativ. Die Umsetzung in das reale Behandlungsgerät erscheint uns als verblüffend einfach.
Hinzu kommt die große Akzeptanz durch die (potenziellen) Patienten, die dieses sehr andere Gerät als Aufsehen erregend empfinden. So entschließen sich nun viele zu einer kieferorthopädischen (Kompromiss)Behandlung, die vorher vor jeder anderen Therapieform zurückschreckten, obwohl sie deutlich unter ihren „schiefen Zähnen“ litten.
Beurteilung des Systems
Invisalign ergänzt und bereichert die vorhandenen kieferorthopädischen Behandlungsmöglichkeiten. Die Vorteile dieser Methode liegen in der Ästhetik, der unbehinderten Hygiene und dem großen Tragekomfort, was sich sehr positiv auf Akzeptanz und Mitarbeit auswirkt. Die Abbildungen 7 a bis d zeigen unsere erste abgeschlossene Behandlung. Sicher ist das Therapieresultat banal, aber das war die gesamte Behandlung ebenso; Aufwand und Ergebnis standen also in einem vertretbaren Verhältnis.
Insgesamt sollte man dieser bedingt neuen Behandlungsmethode eine faire Chance einräumen. Sicher wird man dabei therapeutisches Neuland betreten müssen, aber das ist der Tribut an jeglichen Fortschritt. Alles wurde irgendwann zum ersten Mal gemacht, das gilt für die Transplantation eines Herzens im Großen wie für das Eingliedern eines Keramikbrackets im Kleinen. Das war jedenfalls bei den festsitzenden Apparaturen der Fall, was sich sehr plastisch zeigt, wenn man ein Gerät aus Angels Zeiten mit einem der Gegenward vergleicht (Abbildungen 8a und b). Es wäre daher schade, wenn man der Invisalign-Methode so begegnete, wie seinerzeit der Multibandtechnik, die letztlich dennoch ihre Stellung im Gesamtkonzept der Kieferorthopädie fand. Wünschenswert wäre es unserer Meinung nach, wenn sich verantwortungsvolle Kieferorthopäden unvoreingenommen und kritisch mit dieser neuen Therapieform auseinandersetzen würden.
Univ.-Prof. Dr. Rainer-Reginald Miethke
Medizinische Fakultät der
Humboldt-Universität zu Berlin,
Zentrum für Zahnmedizin,
Abteilung für Kieferorthopädie
und Orthodontie,
Augustenburger Platz 1,
13353 Berlin