Gastkommentar

Überstrapazierte Solidarität

Der GKV-Risikostrukturausgleich ist überstrapaziert, eine Prüfung der Regelung ist überfällig, meint Welt-Korrespondentin Dr. Dorothea Siems.

Zwischen den gesetzlichen Krankenkassen tobt ein Dauerstreit ums Geld. Die Kritik an dem milliardenschweren Finanzausgleich zwischen den Versicherungen wird immer lauter. Denn die Auswirkungen der staatlich befohlenen Umverteilung sind vielfach grotesk. Jüngstes Beispiel: Die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) Sachsen senkt ihren Beitragssatz auf 12,9 Prozent. Dabei erhält die AOK Sachsen von allen Krankenversicherungen in Ostdeutschland die mit Abstand höchsten Transferzahlungen aus dem Risikostrukturausgleich: Ein Drittel ihrer Ausgaben kommen aus dem Fonds, der von Westkassen gespeist wird.

Die politisch gewollte Subventionierung der ostdeutschen Krankenkassen durch die westdeutschen Beitragszahler hat zur Folge, dass die Ostkassen mittlerweile einen Überschuss ausweisen können, während die gesetzliche Krankenversicherung in den alten Bundesländern im vergangenen Jahr ein dickes Minus schrieb. Der Beitragssatz der AOK beträgt inzwischen im Westen in vielen Regionen 14,9 Prozent. Und auch die großen Ersatzkassen liegen weit über dem Level der AOK Sachsen. Selbst die Kassen, die am meisten in den Risikostrukturausgleich einzahlen, wie die Techniker Krankenkasse und viele der Betriebskrankenkassen, müssen ihre Beitragssätze anheben, um die Absenkung im Osten zu finanzieren. Offensichtlich ist der Solidargedanke pervertiert, wenn die gut wirtschaftenden Kassen nach dem Finanzausgleich schlechter dastehen als die Empfängerkassen. Doch nicht nur der stetig wachsende Transfer von West nach Ost erhitzt die Gemüter. Seit der Risikostrukturausgleich 1995 eingeführt worden ist, streiten die Fachleute über die richtige Balance zwischen Solidarität und Wettbewerb. Zahlreiche politische Eingriffe bewirken, dass die Umverteilung stetig ausgebaut wird. Längst lohnt sich die politische Einflussnahme für die großen Kassen mehr als der Wettstreit mit der Konkurrenz um die bessere Marktposition.

Der Finanzausgleich soll gewährleisten, dass Kassen mit ungünstiger Versichertenstruktur eine faire Chance im Wettbewerb erhalten. Ursprünglich war der Risikostrukturausgleich als vorübergehende Maßnahme gedacht gewesen. Tatsächlich jedoch wächst das Umverteilungsvolumen von Jahr zu Jahr und erreichte 2001 rund 27 Milliarden Mark. Einzelne Betriebskrankenkassen zahlen mehr als die Hälfte ihrer Einnahmen in den Topf. Der Bundesregierung reicht dies noch immer nicht. Mt der jüngsten Reform des Finanzausgleichs steht eine nochmalige Aufblähung bevor. Setzt der Ausgleich bisher auf der Einnahmeseite an und gleicht Unterschiede in der Versichertenstruktur nach Geschlecht, Alter und Individualität aus, wird künftig auch auf der Ausgabenseite eingegriffen. Dafür wird ein von allen Kassen gemeinsam zu finanzierender Risikopool eingeichtet, aus dem die Kosten für teure Patienten abgedeckt werden. Überdies sollen die Krankenversicherungen Chronikerprogramme (Disease-Management-Programme) auflegen. So sollen die Kassen für ausgewählte Erkrankungen, wie Diabetes oder Bluthochdruck, Behandlungsprogramme anbieten. Die pauschalierten Ausgaben werden aus dem Ausgleichstopf bezahlt. Für Gesundheitsministerin Ulla Schmidt sind die neuen Instrumente geeignet, eine bessere Versorgung der chronisch Kranken zu gewährleisten. Ärzte und andere Leistungsanbieter hingegen fürchten, dass die Verknüpfung der grundsätzlich sinnvollen Disease-Management-Programme mit dem Risikostrukturausgleich eine Verbesserung der Versorgung verhindern wird. Denn für AOK, Barmer & Co. geht es vor allem darum, auf diesem Weg noch mehr Geld aus dem Finanztopf zu bekommen.

Bayern, Baden-Württemberg und Hessen sind nicht bereit, die stetige Ausdehnung der Umverteilung hinzunehmen. Die Geberländer haben Verfassungsklage eingereicht. Bayern hatte dies bereits 1999 angekündigt, nachdem die Bundesregierung die Subventionierung der Ostkassen durchgesetzt hatte. Der Freistaat beklagt, dass die eigene regionale AOK beim Beitragssatz bundesweit zu den Spitzenreitern zählt, während mit dem bayrischen Geld im Osten die Ortskrankenkassen Überschüsse erwirtschaften und attraktivere Beitragssätze anbieten können. Die Bundesregierung nutzt die Klage indes als Steilvorlage im Wahlkampf in den neuen Ländern. Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber, der Kanzlerkandidat der Union, wolle den Ostdeutschen die Solidarität aufkündigen, meint der Kanzler. Doch wie weit ist es mit dem Solidargedanken her, wenn der Hauptempfänger, die AOK, als einzige Kassenart sich weigert, bundesweit einen einheitlichen Satz anzubieten? Die Zahlungsbereitschaft der Zahlerländer, aber auch der Zahlerkassen, ist überstrapaziert. Wenn die Politik immer weiter draufsattelt, sorgt die Umverteilung nicht für einen Ausgleich von Wettbewerbsverzerrungen, sondern schafft neue Ungerechtigkeiten. Eine Überprüfung des Risikostrukturausgleichs ist überfällig.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber

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