Börse und Psychologie

Wenig Gefühl, viel Gehirn

Alle Zeichen deuten darauf hin, dass die Börsen dieser Welt ihren Tiefpunkt gesehen haben und die Aktienkurse auf lange Sicht wieder steigen werden. Auf der Gewinnerseite steht aber nur, wer seine Gefühle unter Kontrolle hat.

Der gesunde Menschenverstand ist der beste Börsenberater. Der kaufmännisch vernünftige Zeitgenosse handelt nämlich konsequent gegen den Trend. Beispielsweise kauft er Textilien nicht zur jeweiligen Saison. Er kauft seinen Wintermantel im Winterschlussverkauf, am besten zwei Wochen vor der offiziellen Eröffnung, wenn das qualitativ wertvollere Markensortiment zur Disposition steht. Wer jedoch im Gleichschritt mit der Mode geht und sich von Textilien animiert fühlt, die im Schaufenster dekorativ angepriesen werden, zahlt für seine Affinität zum Trend immer einen Premiumpreis.  

Genauso ist es mit der Börse. Wer Aktien kauft, wenn die Stimmung gut ist, wenn Bankberater und Börseninformationsdienste in Euphorie schwelgen, kauft fast immer teuer ein. Es ist ja auch ein schönes Gefühl, das zu besitzen, wonach so viele streben. Man ist in seiner Entscheidung nicht einsam: Was viele tun, wozu kompetente und kluge Experten im Einklang mit der allgemeinen Meinung raten, das kann doch nicht verkehrt sein. Ist es aber – meistens. 

Die rein rational orientierten Börsenstrategen, die sich in der Regel mit sehr viel Lehrgeld von der gefühlsbetonten Aktienanalyse freigekauft haben, wissen aus Erfahrung: Die Mitschwimmer im großen Trend, die breite Masse der Börsianer, liegen (fast) immer schief. Die Minderheit hingegen kauft Aktien preiswert ein. Etwa, wenn eine in Panik geratene Masse wie in der Woche nach dem 11. September 2001 selbst Qualitätspapiere zum Discountpreis verramscht. Um Kursverluste müssen sich die Preisbewussten keine großen Sorgen machen. Denn für die rational handelnden Strategen gilt die simple und in ihrer Effizienz wohl nicht zu übertreffende Kaufmannsregel: Im Einkauf liegt der Gewinn. Und nicht in dem schönen Gefühl, trendy zu sein.  

Eine große Börsenbaisse von in der Regel einem, maximal zwei Jahren Dauer, ereignet sich zum Glück nur zwei oder dreimal in einem Jahrzehnt. Bei diesen doch recht seltenen Schlussverkaufsgelegenheiten bleibt auch dem primär vernunftorientierten Börsianer keine andere Wahl, als temporäre Zwischentiefs zum Aktienkauf zu nutzen. Doch solche günstigen Kaufgelegenheiten, die sich selbst in ausgeprägten Haussezeiten für vergessene oder grundlos abgestürzte Qualitätsaktien immer bieten, werden nicht per Klingelzeichen signalisiert. Deshalb kann sogar ein ausgebuffter Profi Papiere aufgreifen, die entgegen der Erwartung ins Minus, statt ins Renditeplus laufen. Wie soll nun ein Börsianer mit dem Gefühl umgehen, sich falsch entschieden zu haben?  

In dieser durchaus nicht seltenen Situation zeigt sich, wie stark eine psychologische Grunddisposition die Durchschnittsrendite eines Aktienportfolios beeinflussen kann. Gemäß der Polarisation in „emotional“ und „rational“ kristallisieren sich zwei Anlegertypen heraus: Der Hoffende und der Handelnde.

Der Hoffende

In den Tiefen seines Gemüts schämt er sich dafür, mit Aktien, für die er sich mit großem emotionalen Einsatz aus engagierter Überzeugung und mit hoher Erwartung entschieden hat, nun schief zu liegen. Er findet es blamabel, über seine Fehlgriffe zu sprechen, geschweige denn, dass er in der Lage ist, sich offen zu seinen Fehlinvestitionen zu bekennen. Vielmehr kocht in ihm eine stille „Wut über den verlorenen Groschen“. Seine Strategie, diese emotionale Belastung zu verkraften, heißt: Aussitzen und auf Besserung hoffen. Wenn die Verluste, oft nach Jahren, ausgebügelt sind, dann erst hält sich der Hoffende wieder für handlungsfähig.  

Wenn er keine Verluste mehr verkraften, vor allem aber, wenn er sie nicht mehr vor sich selber oder vor anderen beichten muss, kann er mit einem guten Gefühl neu disponieren. Die emotionale Krise ist dann für ihn gemeistert. Bis dahin hat er jedoch womöglich für lange Zeit gelitten und einen enormen Stress ertragen. Dabei hat der Hoffende neue Chancen verpasst und damit Rendite eingebüßt.

Der Handelnde

Auch der rational handelnde Stratege kauft seine Aktien mit der emotional tief verankerten Überzeugung, sich für einen Gewinner entschieden zu haben.

Doch vor übersteigerten Erwartungen schützt er sich. Ihm ist klar, dass er kein Hellseher ist. Deshalb hält er es für unvermeidbar, bisweilen auch Aktien zu kaufen, die ihren Tiefpunkt noch vor sich haben. In diesem Fall regt er sich nicht auf. Er ärgert sich nicht einmal und denkt nicht daran, einen Fehlgriff zu verheimlichen. Sein Interesse richtet sich vielmehr darauf, das Dilemma konsequent zu meistern.  

Dafür hat er eine Strategie, die er gleich beim Kauf inszeniert. Er setzt sofort eine so genannte Stopp-Loss-Marke. Das bedeutet: Bei zehn oder 15 Prozent Verlust vom Kaufpreis wird eine Aktie wieder verkauft. Der Verlust wird in Kauf genommen, nicht zuletzt deshalb, um noch höhere Verluste zu vermeiden. Fällt eine Aktie auf ungeahnte Tiefen, kauft der auf rationales Handeln disponierte Stratege, wenn er seine Meinung nicht geändert hat, den ehedem abgestoßenen Titel neu ein.  

Auch bei steigenden Kursen bremst er seine Euphorie und erst recht eine (sehr leicht) aufkommende Gier. Er folgt auch den steigenden Kursen mit Stopp-Loss-Marken, um die erzielten Gewinne zu sichern. Gerät er hierbei in eine Bärenfalle (ein temporärer Kursabsturz, der zu einem neuen Höhenflug führt), hakt er dieses Missgeschick möglichst emotionslos ab. Denn er weiß im stillen Gedenken an den weisen Lehrmeister André Kostolany: „Börse ist zu 49 Prozent Verlust.“ Der strategisch Handelnde freut sich über den erzielten Gewinn mit Einzelaktien, aber er trauert den entgangenen Renditen (die ohnehin nur auf dem Papier standen) nicht nach.  

Fazit: Während der Hoffende sich aus emotionaler Hilflosigkeit selber Fesseln angelegt und sich zum Zuschauer degradiert, erhält sich der rational Handelnde seinen Aktionsspielraum. Er ist nicht für unbestimmte Zeit Opfer seiner Fehlentscheidung. Er kann neue Chancen nutzen und dabei womöglich die in Kauf genommenen, aber strategisch begrenzten Verluste durch Gewinne mehr als kompensieren. Vor allem aber: Weil der rational Handelnde frei und nicht festgefahren ist, fühlt sich er sich emotional wesentlich wohler als der oft aussichtslos Hoffende.

Joachim Kirchmann

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