Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK)

Zahnärztliche Chirurgie bei Patienten mit Antikoagulantientherapie

Allgemeines

Zum Verhindern von Thrombosen und Embolien werden Patienten in zunehmendem Maße ambulant und zum Teil langjährig mit gerinnungshemmenden Mitteln behandelt. Weit verbreitet ist die Gerinnungshemmung mit Cumarinderivaten, wie Phenprocoumon (Marcumar®) oder Coumadin (Warfarin®). Cumarinderivate hemmen als Vitamin-K-Antagonisten die g-Carboxylierung von Glutaminsäure bei der Synthese der Gerinnungsfaktoren II, VII, IX und X und der Inhibitoren Proteine C und S in der Leber. Dadurch geht deren Kalciumbindungsfähigkeit verloren. Die Konzentration der gerinnungsfähigen Faktoren im Blut nimmt ab, so dass die Gerinnungsfähigkeit verzögert wird. Durch den Mangel an aktiven Gerinnungsfaktoren sinkt die Gerinnungsfähigkeit des Blutes.

Der wirksame, so genannte therapeutische Bereich wird in der Richtung nicht vor dem dritten bis vierten Tag nach Beginn der Medikation erreicht. Das Ausmaß der Gerinnungshemmung wird durch die Höhe der täglichen Phenprocoumon-Dosis festgelegt. Der individuelle gerinnungsphysiologische Zustand des Patienten wird anhand der International Normalisierten Ratio (INR) überwacht und in einem Antikoagulantien-Pass dokumentiert. Die Angabe der In-vitro-Gerinnungszeit als INR wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Hinblick auf eine Vergleichbarkeit und Standardisierung der Testergebnisse bei oraler Antikoagulantientherapie empfohlen, da sich gezeigt hat, dass die Angabe in Prozent des physiologischen Gerinnungswertes (Quickwert) große interindividuelle Abweichungen ergab. Dies führte zu Unsicherheiten bei der Phenprocoumon-Dosierung und der Beurteilung des Blutungsrisikos.

Ursache dieser Abweichungen sind die im Test zur Auslösung der Gerinnung eingesetzten unterschiedlichen Thromboplastine und Messmethoden. Der INR-Wert wird anhand des ISI (Internationaler Sensitivitäts Index) errechnet. Der ISI drückt die Empfindlichkeit der im Labor verwendeten Reagenzien im Vergleich zu einem WHO-Standard-Thromboplastin- Reagenz aus und verändert die Ratio (Quotient der Gerinnungszeiten des Testblutes und eines Normalblutes) so, als wären sie mit dem StandardThromboplastin der WHO bestimmt worden. ISI-Werte um eins bedeuten eine sehr gute Übereinstimmung mit dem WHOStandard. Die Normierung der Gerinnungszeit erfolgt durch die Potenzierung der Ratio (des Quotienten) aus der Gerinnungszeit des Patientenplasmas und der eines Normalplasmas mit dem ISI-Wert. Bei der INR handelt es sich somit nicht um eine neue Bestimmungsmethode, sondern um eine internationale Normierung des bekannten Quickwertes. Bei ungestörter Hämostase liegt der INR zwischen 0,9 bis 1,2 (120-70 Prozent Thromboplastinzeit beziehungsweise Quickwert: nach A. Quick 1935). Im Unterschied zum Quickwert nimmt die INR mit steigender Gerinnungshemmung zu. Die empfohlenen therapeutischen Bereiche der oralen Antikoagulation sind indikationsabhängig. INR-Werte zwischen zwei und drei werden empfohlen bei Lungenembolien, venösen Thrombosen, arteriellen Verschlusserkrankungen, Apoplex, Vorhofflimmern, Myokardinfarkt, Herzklappenerkrankungen, Herzklappenbioprothesen und postoperativ zum Beispiel nach Endoprothetik und bei Extremitätenfrakturen. Bei mechanischen Herzklappen und rezidivierenden Embolien wird ein INR-Wert von 2,5 bis 3,5 eingestellt.  

Auf Grund der zunehmenden Häufigkeit der aufgeführten Erkrankungen gehören Patienten mit gerinnungshemmender Medikation zum Praxisalltag. Zahnärzte müssen verstehen, dass Antikoagulantien mit Rücksicht auf die Grundkrankheit des Patienten aus vitaler Indikation verabreicht werden. Auf keinen Fall ist vor der Durchführung zahnärztlichchirurgischer Maßnahmen das eigenständige Absetzen der Antikoagulation durch den behandelnden Zahnarzt erlaubt, ohne dass eine Rücksprache mit dem zuständigen oder dem behandelnden Arzt oder Hämatologen erfolgt ist. Der Zahnarzt muss das erhöhte Blutungsrisiko dieser Patientengruppe bezüglich des von ihm geplanten Eingriffes beurteilen können. Blutungen, wie sie zum Beispiel nach Zahnextraktionen auftreten können, sind bei Patienten unter Antikoagulantientherapie nur in Ausnahmefällen vital bedrohlich. Demgegenüber kann das eigenständige Absetzen einer Antikoagulantientherapie vor zahnärztlich- chirurgischen Maßnahmen den Patienten einem unnötigen und lebensbedrohlichen Risiko von Thromboembolien aussetzen.  

Bei fünf von 576 Patienten, bei denen eine medikamentöse Antikoagulation zur Durchführung zahnärztlicher Eingriffe unterbrochen wurde, traten Emboliekomplikationen, davon vier mit tödlichem Ausgang (0,95 Prozent) auf. Bei einem weiteren Patienten traten schwerwiegende Thrombosen auf.  

Demgegenüber kam es bei es bei 2 400 zahnärztlich-chirurgischen Eingriffen, auch Serienextraktionen und Alveolarplastiken, an 950 Patienten unter Antikoagulantientherapie nur in zwölf Fällen zu Nachblutungen, die durch lokale Maßnahmen nicht beherrschbar waren. In diesen Fällen konnten die Nachblutungen durch systemische Maßnahmen gestoppt werden, ohne dass über schwerwiegende Folgeschäden berichtet wurde. Bei vielen dieser Patienten lag der INR-Wert sogar über dem empfohlenen therapeutischen Bereich (M. Wahl, J Am Dent Assoc, 1/2000). 

Bei INR-Werten im therapeutischen Bereich zwischen zwei und 3,5 sind Extraktionen eines oder mehrerer Zähne und unkomplizierte Osteotomien unter Berücksichtigung entsprechender lokaler Blutstillungsmaßnahmen ohne stärkere Blutungsgefahr möglich, wobei der INR-Wert präoperativ am Operationstag zu bestimmen ist.  

Bei umfangreichen chirurgischen Sanierungen oder Operationen mit ungenügender Möglichkeit der lokalen Blutstillung ist eine vorübergehende Änderung des INR-Wertes, zum Beispiel von 1,6 bis 1,9 durch den die Antikoagulantientherapie einstellenden Arzt möglich. Dieser Arzt muss dann noch entscheiden, ob das durch Reduzierung der Therapie gegebenenfalls höhere Thromboembolierisiko eine vorübergehende Gabe von Heparin erfordert.  

Chirurgisches Vorgehen

Wenn nicht durch eine Grunderkrankung des Patienten kontraindiziert, spricht prinzipiell nichts gegen den Einsatz von Lokalanästhetika mit Gefäß verengendem Zusatz bei Patienten unter Antikoagulantientherapie. Zu berücksichtigen ist, dass auf Grund der Vasokonstriktion eventuelle Blutungen nicht sofort erkannt werden.  

Bei einer Extraktion kann die Trennung von Krone und Wurzeln beziehungsweise Separation der Wurzeln den Umfang eines Gewebetraumas vermindern. Blutungen im Knochen können mit Knochenwachs gestillt werden, die Einlage eines resorbierbaren Materials, zum Beispiel eines Kollagenpräparates, kann indiziert sein. Die Wundränder werden mit resorbierbarem Nahtmaterial adaptiert. Fibrinkleber kann zusätzlich appliziert werden. Ein Aufbisstupfer während der ersten Stunde schützt vorübergehend den lokalen Gerinnungsvorgang. Auch eine Spülung der Operationswunde mit einer Ampulle Tranexamsäurelösung, 1:2 verdünnt, hat sich bewährt. Es kann zusätzlich in den darauf folgenden Tagen viermal täglich eine Mundspülung mit fünf Millilitern fünfprozentiger Tranexamsäurelösung durchgeführt werden. Bei Risikopatienten kann das Anfertigen einer Tiefziehschiene präoperativ eine erhöhte Sicherheit für den postoperativen Verlauf bewirken.  

Verabreichung weiterer Medikamente

Bei der Verabreichung weiterer Medikamente (zum Beispiel Analgetika) bei gerinnungsgehemmten Patienten muss berücksichtigt werden, dass Wechselwirkungen mit den Phenprocoumon-Präparaten eintreten können, die den Gerinnungsstatus verändern. Dabei kann es durch Hemmung der Thrombozytenaggregation zu einer Verstärkung der Blutungsbereitschaft oder durch eine Abschwächung der Marcumarwirkung zu einem erhöhten Thromboserisiko kommen. Bei Patienten, die eine Cumarintherapie erhalten, sind vor Verabreichung weiterer Medikamente, insbesondere Analgetika, die Packungsbeilagen auf mögliche Wechselwirkungen und Gegenanzeigen zu lesen. Beispielsweise können Medikamente wie Phenybutazon die Cumarinwirkung unter Umständen bedrohlich verstärken. Thrombozytenaggregationshemmer (zum Beispiel Acetylsalicylsäure) hemmen zusätzlich die Hämostase. Andere Medikamente, wie Barbiturate, schwächen die Cumarinwirkung ab.

Antibiotikagabe

Die prophylaktische oder therapeutische Anwendung von Antibiotika sollte sich nur auf die absolut notwendigen Fälle beschränken (zum Beispiel bei Endokarditisgefahr). Antibiotika können, vor allem wenn sie in mehreren Dosen gegeben werden, den gerinnungshemmenden Effekt von Antikoagulantien verstärken.

Stationäre Behandlung

Umfangreiche chirurgische Sanierungen oder Operationen mit ungenügender Möglichkeit der lokalen Blutstillung können eine Indikation für eine kurzfristige Anhebung der Gerinnungsfähigkeit sein. In diesen Fällen müssen die behandelnden Ärzte gegebenenfalls durch eine zusätzliche Antikoagulation mit Heparin das Thromboserisiko ausschalten und können dann auch, zum Beispiel durch kurzfristiges Sperren der Heparinzufuhr, eine intraoperative Blutung oder eine akute postoperative Nachblutung beherrschen. Dabei kommen Heparinperfusoren oder die s.c. (sub cutem) Gabe von niedermolekularem Heparin zur Anwendung. Das bei der Umstellung der Gerinnungshemmung von Phenprocoumon auf Heparin und von Heparin zurück auf Phenprocoumon erforderliche intensive Monitoring des Gerinnungsstatus ist in einer ambulanten Behandlung kaum realisierbar. In diesen Fällen ist eine stationäre Behandlung indiziert.  

Die Indikation zur stationären Aufnahme wird in vielen Fällen neben der möglichen Blutungskomplikation auch ganz entscheidend von der Schwere der zu Grunde liegenden Erkrankung und deren Risikofaktoren bestimmt. Auch die Ausdehnung des Eingriffes, zum Beispiel Augmentationsverfahren, kann eine stationäre Behandlung geraten erscheinen lassen.

Gültigkeit des beschriebenen Vorgehens

Das geschilderte Vorgehen bezieht sich ausschließlich auf zahnärztlich-chirurgische Eingriffe an Patienten unter Antikoagulantientherapie (Patienten mit Cumarintherapie) und nicht auf Patienten mit angeborenen oder erworbenen Gerinnungsstörungen. Chirurgische Behandlungen von Patienten mit einem angeborenen oder erworbenen Blutungsleiden, mit einer Thrombozytenzahl von weniger als 80 000 und mit einer Leberzirrhose sollten in Abstimmung mit dem zuständigen Arzt erfolgen, der dann gegebenenfalls die erforderliche zusätzliche Therapie übernehmen muss beziehungsweise veranlasst. Insbesondere bei Patienten mit Leberzirrhosen sind Todesfälle nach Zahnextraktionen durch unstillbare Blutungen mit Entgleisung der Hämostase beschrieben.

Zusammenfassung

Thrombosezwischenfälle mit tödlichem Ausgang oder bleibenden gesundheitlichen Schäden auf Grund der Unterbrechung der Antikoagulantientherapie vor zahnärztlichchirurgischen Eingriffen sind in der Literatur beschrieben. Ähnlich schwere Konsequenzen auf Grund unbeherrschbarer Blutungen nach chirurgischen Eingriffen finden sich nicht in der Literatur. Obwohl somit bei im therapeutischen Bereich antikoagulierten Patienten ein theoretisches Hämorrhagierisiko bei zahnärztlicher Chirurgie besteht, ist dieses als gering einzustufen und kann in der Mehrzahl der Fälle durch lokale Maßnahmen beherrscht werden. Dieses Risiko ist geringer einzustufen als das Risiko einer Thromboembolie nach Unterbrechung der Antikoagulation.  

Die Unterbrechung der Antikoagulation vor zahnärztlich-chirurgischen Eingriffen ohne gesicherte Evidenz für die Notwendigkeit dieser Maßnahme stellt für den Patienten ein unnötiges, lebensbedrohliches Risiko dar.  

Prof. Dr. Dr. Rainer Schmelzeisen

Klinik und Poliklinik für Mund-,

Kiefer- und Gesichtschirurgie

Hugstetter Str. 55

79106 Freiburg

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