Fortbildungsteil 1/2002

Genetisch bedingte Fehlentwicklungen im Mund-Kiefer-Gesichts-Bereich

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Genetisch bedingt, das heißt auf genetischer Grundlage, auf der Wirkung von Genen beziehungsweise des Genoms beruhend. Gene in ihrer Gesamtheit steuern die Entwicklung des biologischen Substrates und damit die Ausbildung physiologischer und pathologischer Merkmale. Die intrauterine und postnatale Umwelt wirkt dabei modifizierend, etwa bei der Entstehung von Fehlbildungen in der Organogenese während der Embryonalperiode oder ab der 14. Schwangerschaftswoche bei der Entstehung von Dysplasien. Dadurch erklärt sich die variable und individualspezifische Ausbildung auch von Merkmalen, denen eine bestimmte einzelne Mutation zu Grunde liegt („variable Expression“). Aus dem komplexen Zusammenwirken der qualitativ oder quantitativ unterschiedlich wirkenden Gene und der spezifischen Umwelt entsteht ein jeweils einzigartiges und unverwechselbares Individuum mit seinen ihm eigenen Abnormitäten und Krankheitsneigungen.

Die erbliche, genetische Grundlage (Genotyp) gliedert sich in zwei Ebenen, die Gene mit ihren Mutationen und Polymorphismen und die Chromosomen mit ihren strukturellen und numerischen Aberrationen, die gewöhnlich Hunderte von Genen umfassen.

Fehlbildungen, Fehlbildungskomplexe, Dysplasien und Krankheiten (Phänotyp) kommen auf genetischer Grundlage meistens bei nur einem Mitglied einer Familie vor. Familiäres Vorkommen im Sinne eines Mendelschen autosomal dominanten oder rezessiven Erbganges ist die Ausnahme, bei autosomal dominanten Defekten, wenn sie eine Fortpflanzung ihrer Träger gestatten, bei autosomal rezessiven Defekten in ausreichend großen Geschwisterschaften und bei X-chromosomalen Krankheiten. Chromosomopathien (mit Ausnahme solcher, die auf familiärer Chromosomentranslokation beruhen), letale autosomal dominante und autosomal rezessive Störungen in Populationen mit vorwiegend Ein- bis Dreikinderehen treten sporadisch auf. Das widerspricht der traditionellen Auffassung von der Familiarität genetisch bedingter Störungen (irreführende Begriffe wie „ Erblichkeit“, „Erbkrankheit“) und erklärt, warum alles, was nicht familiär auftrat, zunächst einmal als umweltbedingt galt. Die Suche nach einer entsprechenden postulierten pathogenen Umweltkomponente hat die Wissenschaft und Populärwissenschaft Jahrzehnte lang absorbiert und teilweise absurde und auch nicht ganz ungefährliche Blüten getrieben. Diese Überschätzung der Umwelt ist erst in den letzten Jahrzehnten durch die Fortschritte auf genetischem Gebiet abgebaut worden. Gleichzeitig nahm die Anzahl der als genetisch bedingt anerkannten Störungen von zehn in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts auf gegenwärtig mehrere tausend zu.

Ein entsprechendes Umdenken findet auch in der Zahnmedizin statt. Die Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte (LKG-Spalte) zum Beispiel galt lange Zeit als exogen bedingt, da sie meistens sporadisch auftritt. Vielfältige, kostenaufwändige und Versuchstier konsumierende Experimente sind durchgeführt worden, um eine äußere Ursache, von Erschrecken der Schwangeren bis zu Giften (Medikamenten) oder Mangelerscheinungen, herauszufinden. Bis auf eine vielleicht modifizierende Komponente des Folat- und des Vitaminstoffwechsels wurde nichts ermittelt. Dagegen lässt sich eine steigende Anzahl von Genen erkennen, deren Mutationen sich in Fehlbildungen, einschließlich der Spalten im Lippen-Kiefer-Gaumen-Bereich, manifestieren. Die isolierte Spaltbildung erweist sich als Extrem eines Spektrums, innerhalb dessen die Mutation eines von mehreren Genen auf jeweils individuellem biologisch-genetischem Hintergrund wirkt. Erkennbar ist das zum Beispiel an dem autosomal dominant bedingten Komplex der LKG-Spalte und/oder Unterlippenfisteln. Umschreibend wird die unterschiedliche klinische Manifestation einer Mutation variable Expression genannt. Der erwähnte Komplex aus Spalte mit Unterlippenfisteln, Van der Woude-Syndrom genannt, zeigt sich intrafamiliär mit unterschiedlichen Teilsymptomen: LKG-Spalte mit oder ohne Unterlippenfisteln, nur Gaumen-Spalte mit Fisteln, nur Unterlippenfisteln. Die Fisteln sind zudem teilweise sehr dezent ausgeprägt und damit leicht zu übersehen. Als Hinweiszeichen auf das Syndrom beziehungsweise auf das Risiko für die volle Ausprägung des Fehlbildungskomplexes bei Verwandten ist die Wahrnehmung der Unterlippenfisteln jedoch sehr wichtig (Abbildung 1a, 1b).

Mit neuen Erkenntnissen über die Fehlbildungsentwicklung entfallen die alten Hoffnungen auf eine einfache Prophylaxe nach dem Motto „ Umweltgift erkennen – eliminieren – erfolgreich vermeiden“. Stattdessen können weder Sicherheiten noch einigermaßen genaue Risiken und die Schwere eines befürchteten Defektes vorausschauend gegeben werden. Das trifft für die Mehrzahl der Defekte und Krankheiten zu, die in die Hände der Zahnärzte kommen und reicht bis hin zur individuellen Kariesneigung, Infektanfälligkeit, Wundheilungstendenz, Zahn- und Kieferstellung, Gaumenmorphologie unter anderem.

Monogene Erbgänge

Die Gruppe der auf einer klar erkannten genetischen Grundlage basierenden familiären Malformationen, komplexen Fehlbildungen und Chromosomopathien ist relativ klein.

Am leichtesten erkennbar sind X-chromosomal bedingte Merkmale, da sie geschlechtsunterschiedlich vorkommen und die Fortpflanzungsfähigkeit des weniger oder gar nicht betroffenen Geschlechtes einen monogenen Erbgang erkennbar macht. Beispiele sind das Bloch-Sulzberger-Syndrom und das Oro-Fazio-Digitale-Syndrom 1.

Das Bloch-Sulzberger-Syndrom (Incontinentia pigmenti) wird nur bei Frauen beobachtet, männliche Embryonen sind so schwer geschädigt, dass sie nicht überleben. Die Fazies der Betroffenen ist unauffällig, bis auf fast immer vorliegende, auch sichtbare Augenveränderungen, wie Strabismus, Katarakt, Optikusatrophie, Pseudogliome oder Hyperpigmentierung von Iris oder Retina. Haar- und Nagelwachstumsstörungen sowie neurologische Auffälligkeiten (Lähmungen, Anfälle) und leichte geistige Behinderung sind möglich. Von diagnostischer Bedeutung sind Hypodontie in beiden Dentitionen und – noch wichtiger – stiftförmig oder konisch gestaltete und wie auf einer Seite abgeschnitten erscheinende Zahnkronen (Abbildung 2a, 2b). Im Kindes- und Jugendalter wird die Diagnose anhand charakteristischer streifenförmiger Pigmentstörungen der Haut seitlich am Stamm und in den Oberschenkelbeugen entlang der Blaschko-Linien als Spätfolge vorausgegangener schwerer neonataler entzündlicher Effloreszenzen gestellt. Da diese aber im Laufe der Zeit weiter abblassen, kann die sorgfältig vom Zahnarzt ermittelte orale Symptomatik ein wichtiger verbleibender Hinweis auf das Krankheitsbild sein und damit schwere Nachteile für die Patienten verhindern: Mit der Diagnose steht die Familienprognose fest. Die Frauen bekommen nur gesunde Söhne, und von den Mädchen haben 50 Prozent das Syndrom.

Es ist wichtig zu wissen, dass die zunächst dramatisch erscheinenden entzündlichen Veränderungen des Neugeborenen nicht behandlungsbedürftig sind und schnell abheilen und später, dass es sich bei den Schatten im Auge nicht um bösartige Gliome handelt.

Auch beim Oro-Fazio-Digitalen Syndrom 1 (Papillon-Leage-Psaume-Syndrom) sind nur weibliche Patienten bekannt mit der eben geschilderten Familienprognose. In voller Ausprägung des Syndroms sind zahlreiche hyperplastische Frenula im Vestibulum, Zungenlappungen, Hamartome des Zungenrückens, Hyper- und Hypodontie, Schmelzstrukturstörungen und typische faziale Dysmorphien zu erwarten (Abbildung 3). Zusätzliche Befunde sind Brachy-, Klino-, Syndaktylie der Finger und Zehen, Nierenzysten sowie geistige Behinderung auf der Grundlage unterschiedlicher neurologischer Auffälligkeiten. Ein isoliertes Auftreten derber Bindegewebsstränge im Vestibulum an untypischen Stellen kann möglicherweise als oligosymptomatisch gewertet werden.

Autosomal rezessive Störungen, häufig Stoffwechseldefekte, treten definitionsgemäß bei Homozygoten auf. Die Eltern sind dann jeweils heterozygot und klinisch unauffällig. Das Erkrankungsrisiko eines jeden Kindes heterozygoter Eltern ist 1:4, die Wahrscheinlichkeit für Geschwistererkrankungen bleibt somit in Kleinfamilien gering. Beispiel für eine autosomal rezessive Störung mit bekanntem Genort (11q14) ist das

Papillon-Lefèvre-Syndrom

, eine Parodontitis mit Destruktion des Parodontiums bereits im Milch- und Wechselgebiss in Kombination mit einer Form der Keratosis palmoplantaris (Abbildung 4a, 4b). Durch Einbeziehung der extraoralen Symptomatik kann als erster der Zahnarzt die Diagnose stellen. Wegen Beteiligung von Immundefekten (HL-A-Assoziation) oder wegen einer Neutrophileninsuffizienz auf Grund verminderter Peptidstimulierbarkeit muss weitere fachärztliche Untersuchung veranlasst werden. Eine genetische Beratung des Patienten und seiner Eltern bezüglich des Wiederholungsrisikos ist notwendig. Bei Familienangehörigen kann eine leichte Symptomatik im Sinne einer Heterozygotenmanifestation erkennbar sein.

Ein Beispiel für autosomal dominanten Erbgang wurde bereits mit dem

Van der Woude-Syndrom

gegeben. Diesem Erbgang folgen auch eine Form der Hypodontie und eine Form der Ektodermalen Dysplasie. Autosomal dominante nicht entzündliche Gingivadysplasien treten isoliert oder mit unterschiedlichen anderen Symptomen zu durchweg sehr seltenen Syndromen kombiniert auf (Crowden-Syndrom, Jones-Syndrom, Rutherford-Syndrom). Die Verantwortung des Zahnarztes besteht darin, die möglicherweise hinter einer scheinbar harmlosen Gingiva-Fibromatose verdeckte umfangreichere Diagnose selbst oder unter Zuhilfenahme weiterer Fachdisziplinen zu stellen sowie eine spezifische Therapie und eine genetische Beratung zu veranlassen.

Chromosomenaberrationen

Von den auf zahlenmäßigen Chromosomenaberrationen beruhenden Syndromen macht der Zahnarzt oder Kieferorthopäde höchstens bei den neonatal bereits schwer geschädigten und gewöhnlich nicht lebensfähigen Kindern mit

Pätau-Syndrom

(Trisomie 13) wegen der meist doppelseitigen LKG-Spalte und mit dem Down-Syndrom bei Trisomie 21 Bekanntschaft. Bei ersterem wirkt ein Komplex weiterer schwerer Fehlbildungen lebensbegrenzend, so dass bei Nachweis der Chromosomenaberration dem Kind eine präoperative kieferorthopädische Behandlung nicht zugemutet werden muss. Beim

Down-Syndrom

besteht eine Indikation für eine kieferorthopädische Einflussnahme wegen vorgetäuschter Makroglossie durch muskuläre Hypotonie und Anteposition der Zunge. Diese führt zu dentalen und skelettalen Fehlentwicklungen mit offenem Biss und/ oder Progenie. In Kenntnis dieser ursächlichen Zusammenhänge ist es notwendig, bereits im Säuglingsalter mit einer Stimulationsplatte vorbeugend Zungenlage und -funktion zu beeinflussen und im Wechselgebissalter eine kieferorthopädische Behandlung durchzuführen (Abbildung 5a, 5b).

Wie die numerischen manifestieren sich die strukturellen Chromosomenaberrationen in Fehlbildungskomplexen, innerhalb derer die zahnärztliche Symptomatik eine wesentliche, auch diagnostische Rolle spielen kann. Die Strukturanomalien, die jedes Chromosom an jeder Stelle betreffen können und deshalb in unübersehbarer Vielfalt auftreten, entstehen durch Umlagerungen (Translokationen), meist ohne Verlust oder Zugewinn. In dieser balancierten Form sind sie klinisch unauffällig und über unauffällige Translokationsträger vererbbar.

Erst durch Verlust der Balance, wenn in der Meiose nur eins der zwei an der Translokation beteiligten Chromosomen in eine Gamete gelangt, entsteht ein Zuviel oder Zuwenig und damit eine Fehlentwicklung des entstehenden Embryos, die sich meistens in einem Komplex unspezifischer, auch stomatologischer Symptome äußert. Wegen der Vererbung der strukturellen Chromosomenaberration über unauffällige Merkmalsträger und der häufig bereits frühembryonalen Letalität unbalancierter Aberrationen ist eine Familiarität und das genetische Risiko vielfach nicht zu erkennen. Deshalb ist eine Chromosomenanalyse bei allen komplexen Fehlbildungs-Syndromen, die sich nicht in eines der bekannten Krankheitsbilder einordnen lassen, angebracht.

Mikrodeletionen

Eine Zwischenstellung nehmen Syndrome ein, die auf nur mit zytogenetischen Spezialmethoden erkennbaren, mehrere nebeneinander liegende Gene umfassenden Mikrodeletionen bestimmter Chromosomenabschnitte beruhen (Contiguous gene syndrome). Beim

Wiedemann-Beckwith-Syndrom

(WBS) zum Beispiel sind verschiedene, zum Teil noch unbekannte Gene in der Region 11p15.5 betroffen, unter anderem ein Tumorsuppressor-Gen, das Gen für das Insulin und Gene für einen Wachstumsfaktor-Komplex. Symptome der Erkrankung sind Gigantismus bei der Geburt, Viszeromegalie, Omphalozele, Akzeleration des Knochenalters und Tendenz zu Neoplasmen. Im orofazialen Bereich ist die Makroglossie mit den Folgen eines offenen Bisses und einer Progenie das wichtigste Merkmal (Abbildung 6).

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Zusammenfassend ergibt sich auch für den scheinbar bei der modernen raschen Entwicklung humangenetischer Kenntnisse etwas beiseite stehenden Zahnarzt,

• dass er sich der genetischen Grundlagen der von ihm betreuten und behandelten Krankheiten bewusst sein sollte,

• dass er auf Grund seiner Spezialkenntnisse über die Symptomatik im oralen Bereich wesentliche Hinweise zur Ätiologie und Diagnostik und damit auch zur Therapie komplexer genetisch bedingter Syndrome geben kann und

• dass er dem Patienten gegenüber fundiert für Fragen der Entstehungsweise und zur Problematik des Wiederholungsrisikos zur Verfügung stehen sollte.

Univ.-Prof. Dr. Charlotte Opitz

Zentrum für Zahnmedizin

Abt. für Kieferorthopädie und Orthodontie

Humboldt Universität Berlin

Augustenburger Platz 1

13353 Berlin

Univ.-Prof. Dr. Regine Witkowski

Institut für Medizinische Genetik

Charité-Campus Mitte

Schumannstr. 21

10117 Berlin

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