Ein Parodontologie-Kongress der Superlative
1998 erhielt die Deutsche Gesellschaft für Parodontologie auf einer Vorstandssitzung der European Federation of Periodontology (EFP) den Zuschlag für die Organisation einer der weltweit größten Fachtagungen auf dem Gebiet der Parodontologie: Europerio 4. Professor Dr. Jörg Meyle, damals noch frischgebackener Präsident der DGP, hatte sich dafür – unterstützt durch seinen Vorstand – eingesetzt. Auf ihn und sein Organisationsteam (Prof. Dr. Pierre Baehni, Genf, Dr. Jean-Louis Giovannoli, Paris, und Prof. Dr. Maurizio Tonetti, London) kamen fünf harte Jahre zu.
Die vorausgegangenen Europerio-Veranstaltungen in Paris, Florenz und Genf waren ohne Ausnahme sowohl von der Teilnehmer-Zahl als auch vom wissenschaftlichen Aspekt betrachtet, äußerst erfolgreiche Veranstaltungen gewesen. Umso größer der Druck, der auf den Initiatoren und auch auf der DGP als Gastgeber lastete. Damals nicht voraussehbare Ereignisse wie der 11. September 2001 und eine lahmende Konjunktur in Europa trugen nicht dazu bei, dass die Veranstaltung ein „Selbstläufer“ wurde. Bis zum letzten Tag wurden daher alle nur erdenklichen Anstrengungen unternommen, Europerio 4 zu einem Erfolg werden zu lassen. In diesem Zusammenhang sei an dieser Stelle nicht nur der Industrie gedankt, sondern auch den Kassenzahnärztlichen Vereinigungen und Landeszahnärztekammern, die durch Versenden von Programminformationen dazu beigetragen haben, den Kongress publik zu machen.
Die Anstrengungen wurden belohnt: Etwa 3 500 Teilnehmer aus praktisch allen Teilen der Welt fanden sich in Berlin im Internationalen Congress Center (ICC) zu einem wahren Kongress der Superlative zusammen. Knapp 100 verschiedene Hauptvorträge, dazu Videopräsentationen, Seminare, Industrieworkshops, Spezialistenforen, Kurzvorträge und umfangreiche Posterdemonstrationen machten für die Teilnehmer häufig die Wahl zur Qual. Spezielle Veranstaltungen für das Praxisteam wurden zusätzlich angeboten.
Natürlich würde es den Umfang dieses Kurzberichtes sprengen, wollte man auch nur im Ansatz den Inhalt der zahlreichen Vorträge wiedergeben. Dies wird in einer Sonderpublikation geschehen (Infos beim DGP Büro in Regensburg Tel.: 0941 270 493). An dieser Stelle sei nur ein kursorischer Überblick über die Vielfalt der Themen gegeben.
In einem ersten Vortragskomplex widmeten sich verschiedene Referenten dem Thema „Implantaterfolg und Knochenqualität“. Als zukünftige Kerngebiete implantologischer Forschung wurden verkürzte Einheilzeit und kürzere Implantate herausgestellt. Interessante Zusammenhänge zwischen der Implantatoberfläche und dem Knochenstoffwechsel lassen hier auf Entwicklungen hoffen.
Genetik bestimmt die Zukunft der Parodontologie
Das Thema „Genetik und die Zukunft der Zahnheilkunde“ bildete einen weiteren hoch interessanten Bereich, über den referiert wurde. Einmal mehr wurde deutlich: Die chronische Parodontitis muss als komplexe Erkrankung mit multiplen pathogenetischen Mechanismen betrachtet werden. Unterschiedliche genetische Varianten (Genpolymorphismen) können alle Bereiche der Pathogenese, wie antibakterielle Mechanismen, Immun- und Entzündungsreaktionen sowie Prozesse der Gewebedestruktion, beeinflussen. Bezüglich der Frage der Regeneration wurde dargestellt, dass bis heute die meisten der molekularen Mechanismen der Zelldifferenzierung noch weitestgehend unklar sind. Durch ein besseres Verständnis dieser Prozesse könnten bedeutende Fortschritte bei der Behandlung der Parodontitis erzielt und ein Beitrag zur Entwicklung erfolgreicher regenerativer Therapien geleistet werden.
Parodontitis und allgemeine Gesundheit
Ausführlich widmete man sich dem Thema „Der Nutzen der Parodontitistherapie für die allgemeine Gesundheit“, das in den letzten Monaten und Jahren intensiv bereits in der zahnärztlichen Öffentlichkeit diskutiert wurde. Auch wenn viele Zusammenhänge zwischen Parodontitis und Allgemeinerkrankungen evident sind, ist auch hier noch viel Forschungsarbeit notwendig, um auf diesem für die Zahnheilkunde insgesamt wichtigen Feld weiterzukommen. Solange großangelegte randomisierte klinische Studien fehlen, so Prof. Dr. Robert Genco, muss zwangsläufig vieles weiter spekulativ bleiben. Genco hielt daher anhand der vorliegenden Ergebnisse aus Beobachtungsstudien ein Plädoyer für solche randomisierte klinische Studien. Dabei machte er auch auf die enormen Kosten solcher Studien aufmerksam, zeigte sich aber zuversichtlich, dass öffentliche Geldgeber in den USA solcherart Studien in naher Zukunft finanzieren werden.
Natürlich widmete man sich bei Europerio 4 den speziellen Therapiestrategien für den parodontitisanfälligen Patienten. Die Suche nach genetischen Markern oder Kandidatengenen ist eine vorrangige Aufgabe aktueller wissenschaftlicher Untersuchungen. Als potenziell mit der Parodontitis assoziierte Kandidatengene kommen all jene in Betracht, die Proteine codieren, welche in die Parodontitispathogenese involviert sind oder für die eine Assoziation mit anderen entzündlichen Erkrankungen bekannt ist.
Auch das Rauchen stand im Fokus des Interesses. Raucher weisen ein zwei- bis 25-mal höheres Risiko an Parodontitis zu erkranken auf als Nichtraucher und die zirka 30 Prozent Raucher der gesamten europäischen Bevölkerung machen rund 70 Prozent all unserer Patienten aus.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass bei Rauchern kurzfristig zwar nur etwas schlechtere Therapieergebnisse erzielt werden, aber langfristig mit wesentlich ungünstigeren Resultaten zu rechnen ist als bei Nichtrauchern.
Video-Sessions als Kongressattraktion
Zu den meistbesuchten Veranstaltungen gehörten die Video-Sessions, in denen vor allem das operative Vorgehen bei den unterschiedlichsten Eingriffen demonstriert und diskutiert wurde. Die nicht gerade kleinen Vortragssäle des ICC waren brechend voll und auch die Seminare waren äußerst gut besucht. Hier wurde Grundlagenwissen auf neustem Stand übermittelt und Themen aus Randgebieten behandelt.
Ebenfalls guten Zuspruch hatten die Spezialistenforen. Erkrankungen der Mundschleimhaut waren ebenso Thema wie fortgeschrittene operative Techniken aus dem Bereich der plastischen Parodontalchirurgie. In einer Gemeinschaftsveranstaltung der Multinational Association for Supportive Care in Cancer (MASCC) und der International Society of Oral Oncology (ISOO) widmete man sich gingivalen und parodontalen Aspekten bei Tumorpatienten und den akuten und Langzeitfolgen bei bestrahlten Patienten mit Tumoren im Kopf-Hals-Bereich.
In zahlreichen und gut frequentierten Workshops und Innovationsforen der Industrie kamen zahlreiche renommierte Referenten zu Wort, die ohne Ausnahme für gut besuchte Vortragssäle sorgten.
Einer der Höhepunkte von Europerio 4 war ein gemeinsam von der EFP und der amerikanischen Schwestergesellschaft AAP durchgeführtes Symposium zu Ehren von Sture Nyman, das sich der Regeneration mit Membranen widmete.
Wissenschaftliche Highlights
Zu den wissenschaftlichen Highlights zählten die Kurzvorträge und Posterdemonstrationen. An allen drei Veranstaltungstagen fanden Präsentationen von Kurzvorträgen statt, die Forschungsergebnisse aus allen Gebieten der Parodontologie/Implantologie zum Inhalt hatten und zur Diskussion anregten.
Über 300 Poster in der Eingangsebene des ICC boten eine zusätzliche Möglichkeit neueste wissenschaftliche Ergebnisse vorzustellen. Zu 35 verschiedenen Themenkomplexen wurden Poster ausgestellt und die Kongressteilnehmer machten regen Gebrauch von der Möglichkeit, sich über aktuelle Forschungsergebnisse zu informieren und diese am Freitag in der Poster-Session zu diskutieren.
Nanotechnologie als Festvortrag
Ein besonderes „Schmankerl“ hatten sich die Veranstalter für den Festvortrag ausgedacht, der zum Abschluss des ersten Kongresstages gehalten wurde. Darin widmete sich Professor Wolfgang M. Heckl, München, der Nanotechnologie. Ausgestattet mit der Gabe, Kompliziertes verständlich auszudrücken und einem überragenden Redetalent fesselte der Festredner die Zuhörer von der ersten Minute an mit diesem Thema, das für die meisten Anwesenden Neuland war.
Die Abschlussveranstaltung von Eroperio 4 fand als Expertendiskussion zu kontroversen Therapiestrategien in einer für das Auditorium einmaligen Form und unter Einbeziehung der zahlreichen Zuhörer statt. Von Prof. Dr. Mariano Sanz, Spanien, moderiert wurden drei klinische Fälle vorgestellt und das Publikum war aufgefordert, sich zwischen verschiedenen möglichen Therapievarianten zu entscheiden. Zur Debatte standen Initialtherapie mit oder ohne Antibiotika, nicht chirurgische versus chirurgische Therapie mit und ohne GTR beziehungsweise konventionelle Brückenversorgung oder Implantattherapie. Das elektronisch ermittelte Umfrageergebnis konnte sofort mit Hilfe multimedialer Technik grafisch dargestellt werden. Im Anschluss verteidigten namhafte international anerkannte Wissenschaftler die einzelnen Therapiemöglichkeiten und das Auditorium hatte die Chance, sich von den einen oder anderen Argumenten überzeugen zu lassen und seine Meinung zu revidieren. Dabei zeigte sich, dass wir es in der klinischen Praxis häufig mit Grenzfällen zu tun haben, bei denen für verschiedene Therapievarianten evidenz-basierte Argumente vorliegen, was die Entscheidungsfindung nicht immer erleichtert. Eine lebhafte Abschlussdiskussion mit den Experten rundete die äußerst gelungene Veranstaltung ab und setzte einen brillanten Schlusspunkt unter Europerio 4, einer Veranstaltung, die sicher zu den wissenschaftlichen Höhepunkten der zahnmedizinischen Welt für das Jahr 2003 gezählt werden kann.
Den Mitgliedern des Organisationsteams (Meyle, Baehni, Giovannoli und Tonetti) dankte die Deutsche Gesellschaft für Parodontologie für ihren weit über das Normale hinausgehenden Einsatz, der auch zu einer Steigerung der internationalen Anerkennung der DGP geführt hat, durch Verleihung der Ehrenmitgliedschaft der DGP.
Man darf sich schon jetzt auf Europerio 5 im Jahre 2006 in Madrid freuen.
Dr. Wolfgang BengelDarmstädter Straße 190 A64625 Bensheim