Qualität statt Gier
Noch im März des dritten Baissejahres 2003 sahen die Weltbörsen nur Ruinen. Der Irak-Krieg war noch nicht ausgebrochen, da lagen die Aktienkurse perforiert und detoniert am Boden. Von vielen Titeln, auch ehrenwerten Qualitätsaktien, waren nur noch Bruchteile ihres angestammten, also keineswegs übertriebenen Wertes übrig geblieben. Die Wertvernichtung war maßlos. Neben der berechtigten Entzauberung einer maßlos überzogenen Hausse, die im März des Jahres 2000 ihren Höhepunkt erreicht hatte, sorgten immer wieder wirtschaftsfremde Ereignisse dafür, dass eine aufkeimende Hausse-Stimmung unterminiert wurde und alsbald zu einem noch größeren Trümmerhaufen in sich zusammenfiel.
Dann kam der Irak-Krieg, dessen Androhung ein Jahr lang die Weltwirtschaft und damit auch die Börsen gleichsam paralysiert hatte. Als sich ein schnelles Ende dieses Krieges abzeichnete, änderte sich schlagartig die Stimmung. Die Börsen machte plötzlich Bocksprünge nach oben. Die Pessimisten nutzen anfangs noch hektische Hausse-Tage, um weiter zu verkaufen. Doch im späten Frühjahr, und erst recht im Sommer wie auch im Frühherbst bekamen die Haussiers wohl definitiv Oberwasser. Die zm-Leser bekamen im März dieses Jahres (zm 5, 1.3.2003) punktgenau den Hinweis, mitten im „Kanonendonner“ ein Aktienengagement zu wagen („Eine Geldanlage in Aktien ist wieder überlegenswert“).
Trendwende
Doch auch jetzt, ein halbes Jahr nach der Trendwende, ist es noch nicht zu spät zum Einsteigen. Auch wenn sogar honorige Titel inzwischen im Kurs hochprozentig angesprungen sind, käme ein Neueinsteiger nicht zu spät. Denn der geneigte Investor sollte bedenken: Ein markanter Kursanstieg aus dem Baisse-Tal kommt von der Talsohle. Von hier aus gemessen sind beispielsweise 50 Prozent lediglich eine Bestätigung dafür, dass tatsächlich eine Trendwende vollzogen wurde. Dahinter steckt somit nicht in erster Linie eine verpasste Chance, sondern die Sicherheit, dass wohl eine Bodenbildung stattgefunden hat. Das dürfte in der Tat der Fall sein. „Fachleute sind sich einig: Die Baisse ist vorüber“, so überschrieb das „Handelsblatt“ am 8. September eine breit angelegte Umfrage unter Banken.
Was hat sich nun seit Anfang April dieses Jahres geändert, dass die Börsianer jetzt in Jubelstimmung ausgebrochen sind? Die Antwort ist, wie so vieles im Börsenumfeld, irrational: Die Stimmung hat sich gebessert. Die Fakten sind nach wie vor deprimierend. Denn nach dem Irak-Krieg herrscht hier jetzt Guerilla-Krieg. Der Weltterrorist Osama Bin Laden ist nach wie vor nicht gefasst und weiterhin aktiv. Nicht einmal Saddam Hussein konnte in seinem eroberten Land außer Gefecht gesetzt werden. Der Ölpreis (pro Barrel) pendelt wie vor dem Irak-Krieg an der 30-Dollar-Schwelle. Und die US-Regierung türmte binnen kurzer Zeit einen bedrohlichen Schuldenberg auf, der auch schon seinen Preis anzeigt: höhere Zinsen. Aber die sind auf lange Sicht ein lähmendes Gift für Unternehmen, die investieren wollen. Und dieses Zinsgift lähmt letztlich auch die Aktienbörsen.
Absolute Gewissheit für die Standfestigkeit eines Börsentrends gibt es nicht. Ein erneuter Terrorschlag oder ein anderes unverhofftes Ereignis kann die aufgehellte Börsenstimmung schlagartig wieder verdunkeln. Dennoch: Drei Jahre Darben und Bangen sind genug, so sagen sich offenbar die Akteure, die von Berufs wegen ihr eigenes Geld oder das ihrer Klienten vermehren wollen. Sie nutzen die Chance, die Aktien ihrer Wahl immer noch zu absoluten Ausverkaufspreisen erwerben zu können – eine Chance, die sich nicht alle Tage, sondern nur ein- oder zweimal im Jahrzehnt bietet.
Privatanleger stehen den Börsen immer noch recht skeptisch gegenüber. Doch wer einen Anlagehorizont von einigen Jahren hat, sollte nicht länger zögern, jetzt auf den angefahrenen Zug aufzuspringen. Zum Trost: Die Börsenlokomotive läuft nie kontinuierlich „rund“, das heißt in die gewünschte Richtung. Mal beschleunigt sie rasant, dann aber gerät sie auch wieder ins Stottern oder legt gar den Rückwärtsgang ein. Wer den Mut hat, in solchen Abwärts-Situationen in den Börsenzug einzusteigen, kommt mit Geduld und Ausdauer wahrscheinlich immer noch an ein sein Renditeziel: 50 Prozent Kursgewinn bei schwergewichtigen Titeln und 100 Prozent bei riskanteren Aktien mit starker Wachstumsdynamik. Weniger wäre auch nicht zu verachten. Aber für zehn oder 20 Prozent Kursgewinn – das sollte sich der Privatmann strategisch nüchtern vor Augen halten – lohnen sich die Spesen und das Risiko nicht.
Ist die Bereitschaft da, stellt sich die schwere Frage nach den Aktientiteln. Für die persönliche Aktienauswahl sollte man sich aber besser nicht an einen Bankberater wenden. Denn in Fachkreisen ist bekannt, dass der sich in aller Regel an eine zentral ausgegebenen Empfehlungsliste halten muss. Auf dieser Liste stehen Titel, die von der Bank zumeist aus ganz eigennützigen Gründen „promotet“ werden.
Wer sich nicht unfreiwillig in den Dienst einer Bank stellen möchte, sollte auf deren Beratung lieber verzichten und auf einen 50-prozentigen Rabatt bei den Börsenspesen bestehen. Denn Beratung kostet schließlich Geld, das sich die Bank bei bewusstem Beratungsverzicht erspart. Aber ohne Bank kann man in Deutschland (leider) keine Aktien kaufen. Sie verfügen über ein Handelsmonopol.
Börsengurus
Bei der eigenen Suche nach geeigneten Aktien hält man sich am besten an die erprobten Rezepte der weltweit anerkannten Börsengurus. Das ist zum einen der unvergessene Amerikaner Benjamin Graham. Er starb 1976. Etwa 20 Jahre, von 1936 bis 1956, also in schweren Kriegs- und ungewissen Nachkriegsjahren, hatte er den Graham-Newman-Investmentfonds gemanagt, mit einer durchschnittlichen Jahresrendite von 14,7 Prozent. Doch in Warren Buffet hat er einen emphatischen Jünger gefunden, der heute als der erfolgreichste unter den lebenden Aktieninvestoren gilt. Buffet ist nach dem Microsoft- Gründer William Gates der zweitreichste Mann der Welt. Doch Buffet, 72 Jahre alt und immer noch aktiv, lebt seinen Reichtum nicht aus. Sein Geldvermögen steckt überwiegend in dem von ihm gegründeten Investmenthaus Berkshire Hathaway.
Dieses Unternehmen ging hervor aus einem von Buffet erworbenen Textilhersteller. Er war und ist börsennotiert. Die Geschäftstätigkeit von Berkshire Hathaway besteht heute darin, Aktien von relativ wenigen, aber grundsoliden und ertragreichen Unternehmen zu kaufen – und steigen zu lassen. In dem Maße, wie das Portfolio im Wert zunimmt, steigt auch die Aktie von Birkshire Hathaway. Die klassische A-Aktie kostet immerhin rund 69 000 US-Dollar. Buffetts Anlagestrategie ist ganz simpel: „Ich kaufe nur Aktien, die ich verstehe.“ So verwundert es nicht, dass in seinem Berkshire-Portfolio Titel dominieren, die jeder kennt: General Electric etwa oder Coca Cola. Nicht die Gier nach rasanten Kursgewinnen bestimmt seine Anlagestrategie, sondern die Qualität der relativ wenigen, aber sorgsam ausgewählten Unternehmen.
Spekuliert wird nur in Maßen. Hat Buffett sich nach reiflicher Überlegung für einen Aktientitel entschieden, behält er diesen oft über Jahrzehnte. Er verkauft selbst in Haussen nur relativ selten. Aber in Baissen stockt er unbeirrt seine zerbombten Qualitätstitel zu Discountpreisen weiter auf. Als die Technologie – vom Computerchip bis zur Biotechnologie – die letzte Hausse bis zum Zerplatzen aufgeblasen hatte, stand Buffett auf der Verliererseite. Weil er von Elektronik, Internet oder Gentechnik keine Ahnung hatte, war er hier gemäß seines Credos nicht engagiert. Doch dann platzte die Technologie-Blase. Und Buffett war mit seinen werthaltigen Qualitätsaktien wieder unangefochten der ungekrönte König der Aktieninvestoren. Den Spott, einem fulminanten Börsenboom als Verlierer hinterherzulaufen, hatte er kommentarlos ignoriert. Seine Qualitätskriterien hat Buffett von seinem Lehrmeister Graham übernommen. Qualität bedeutet für ihn in erster Linie Wert – „Value“, wie es in der Börsenfachsprache heißt. Der aktuelle Marktwert einer Aktiengesellschaft lässt sich einfach ermitteln: Tageskurs mal der Zahl der ausgegebenen Aktien. Doch der Value-Stratege interessiert sich mehr für den „inneren Wert“, den Buchwert eines Unternehmens. Den muss der Aktieninvestor aufwändig errechnen und aus dem Geschäftsbericht eruieren. Doch die Berech- nungsformel basiert auf den Grundrechenarten: Der Kassenbestand plus die noch ausstehenden Forderungen und den ausgewiesenen Wert des Firmeninventars (all diese Positionen sind im Regelfall im Geschäftsbericht dokumentiert) ergeben addiert das „Umlaufvermögen“. Hiervon werden die Schulden abgezogen. Der verbleibende Wert ist das Nettoumlaufvermögen.
Notierten nun die Aktien eines anvisierten Unternehmens um etwa ein Drittel unter dem Wert des Nettoumlaufvermögens, dann wertete Graham dies als Kaufsignal. Daran hält sich auch Warren Buffett. So kauften und kaufen beide Wert unter Wert. Wie die Marktlage gerade war oder ist, interessiert die beiden Gurus nicht. Denn der Aktienmarkt ist für Graham und Buffett „neurotisch“. Eine durchaus zutreffende Einschätzung, die Buffett wie folgt begründet: „Wer fragt schon einen Psychopathen täglich nach seinem Befinden?“ Damit setzt sich Buffett von all jenen ab, die immer nur mit dem Trend gleichziehen, dadurch beim Kaufen vielfach zu spät, beim Verkaufen oft zu früh agieren und deshalb keine oder nur magere Gewinne erzielen. Wenn die Value-Strategen unter Wert zugreifen, sind die ohnehin schon tiefen, aber werthaltigen Kurse nach unten vor weiterem Wertverfall relativ gut abgesichert. Und auf steigende Kurse müssen sie nur so lange warten, bis auch andere Investoren den wahren inneren Wert eines Titels entdeckt haben und kaufen.
Der kluge und weitsichtige Aktienkäufer weiß auch: Der innere Wert eines Unternehmens ist kein Geschenk des Himmels. Er muss erarbeitet werden – von einem fähigen Management und motivierten Mitarbeitern. Beide sind ein Gespann, das nicht nur auf eine blitzsaubere Bilanz, sondern auch auf Wachstum eingeschworen sein sollte. Wachstum bedeutet: Innovative, marktgerechte Produkte entwickeln und vermarkten, auf die nach Möglichkeit viele Millionen Menschen auf der ganzen Welt angewiesen sind. Und den Globus als Absatzmarkt sollte nach Buffetts Vorstellungen ein Qualitätsunternehmen mit möglichst weltbekannten Markennamen schon im Visier haben.
Ein nicht unwesentliches Qualitätsmerkmal ist auch, dass ein Unternehmen während der vergangenen zehn Jahre kontinuierlich einen Gewinn, am besten einen jährlich steigenden, erwirtschaftet und dementsprechend auch eine Dividende ausgeschüttet hat. Die kann in Konkurrenz zur Festzinsrendite im Notfall ebenfalls einen Kursverfall nach unten absichern. Ist etwa eine Dividendenrendite höher als eine Festzinsrendite, wäre es finanziell schädlich, diese Aktie zu verkaufen.
Wenn nun deutsche Aktienkäufer den Deutschen Aktienindex DAX mit seinen 30 Kandidaten nach Grahams und Buffetts Qualitätskriterien durchforsten, so ist kein uneingeschränkt überzeugender Kaufkandidat aufzustöbern. Die deutsche Daimler-Chrysler AG, das größte Unternehmen der Bundesrepublik, ist nach Buffetts Auswahlregeln alles andere als ein werthaltiges Qualitätsunternehmen, eher das Spielcasino eines egomanen Vorstandsvorsitzenden. Auch Siemens, Volkswagen und erst recht die Deutsche Telekom AG (zu hohe Schulden bei zu geringem Wachstum) fielen durch sein Raster. Die ehedem reiche Allianz Versicherung kann beim Management nicht überzeugen (unnötige und unergiebige Fusion mit der Dresdner Bank). Zwar ist die Deutsche Bank ein respektables, international ausgerichtetes Geldinstitut. Doch im Vergleich zur Weltkonkurrenz ist diese große und an Substanz sehr reiche Bank beim erwirtschafteten Gewinn pro Aktie eher ein „Armenhaus“, das seine Kosten und Kreditrisiken (noch) nicht im Griff hat. Commerzund Hypovereinsbank sind Titel, über die ein Wert-Stratege nicht einmal nachdenken würde.
Wachstumskrise
Zumindest in Erwägung, womöglich sogar in die engere Auswahl käme BMW wegen seines guten Managements, seiner hoch motivierten Belegschaft, seiner bekannten, auf Werthaltigkeit ausgerichteten Marke und nicht zuletzt seiner guten Gewinne dank durchrationalisierter Produktion. Das Kurs- /Gewinnverhältnis (KGV) liegt bei den Bayern für 2004 bei knapp über zehn, womit der Aktienkurs mit dem (nur) elffachen Gewinn pro Aktie bezahlt ist. Auch der neuorganisierte Energiekonzern E.ON (vormals Veba) hat sich über die Jahre hinweg kontinuierlich auf Wachstumskurs fortentwickelt und ist mit einem für 2004 erwarteten KGV von derzeit 9,5 nicht überbewertet, aber auch nicht wesentlich unter Wert zu haben. Der Pharmakonzern Schering macht seit Jahrzehnten an der Börse eine gute Figur, ist als innovativ zu werten und trotz des relativ geringen Umsatzes von rund 7,5 Milliarden Euro ein Weltunternehmen der Pharmazie. Aber: Mit einem KGV von knapp 16 ist Schering gut bezahlt und kein werthaltiges Schnäppchen mehr. Das gleiche gilt für den DAX-Neuling und Pharma-Kollegen Altana, der in den letzten drei Flautejahren seinen Gewinn pro Aktie immerhin verdoppeln konnte – ein überzeugendes Indiz für ein Qualitäts-Management.
Auf internationalem Parkett gibt es weitaus mehr kaufenswerte Value-Unternehmen als in Deutschland. Hier wird, vor allem wegen geringerer Arbeitsund Sozialkosten wie auch einer moderateren Steuerbelastung im Schnitt mehr pro Aktie verdient. Das trifft vor allem für schweizerische, britische, niederländische und amerikanische Großunternehmen zu. Doch wer sich von vornherein (auch wegen der Risikostreuung und Chancenwahrnehmung) international ausrichten und sich das nicht gerade einfache Aufspüren von preiswerten Qualitätsunternehmen ersparen will, der sollte sich in einen international und auf Value ausgerichteten Aktienfonds einkaufen.
Trittbrettfahrer
Leider fehlt es auch in Deutschland an international investierenden Fonds mit einer klaren, unabänderlichen Ausrichtung auf Substanzwert. Die großen und bekannten Fonds der internationalen Kategorie wie etwa der DWS Vermögensbildungsfonds I, der DWS Akkumula (beide gehören zur Deutschen Bank) oder der UniGlobal (Volksund Raiffeisenbanken) setzen primär auf das Trittbrettfahren mit dem vorherrschenden Trend. So waren diese Fonds in der verflossenen Hausse in nicht unbeträchtlichem Maße in Wachstumsaktien engagiert und konnten in dieser Zeit die für den Kaufanreiz hohen Jahresrenditen erwirtschaften. Dafür aber mussten sie in der nachfolgenden Baisse hohe Wertverluste um die 40 Prozent einstecken. Denn auch den ach so klugen Fondsmanagern gelang es damals und gelingt es auch heute in der Regel nicht, rechtzeitig aus einem Modetrend wieder auszusteigen.
Aktienfonds mit klassischer, das heißt auch streng festgeschriebener Value-Strategie gibt es aber im internationalen Angebot.
In Deutschland zum Vertrieb zugelassen sind beispielsweise der Templeton Growth Fund, der wohl am deutlichsten und erfolgreichsten den Graham- und Buffett-Prinzipien am nächsten kommt. Klassiker unter den Value-Fonds sind auch der Morgan Stanley Global Value wie auch der ACM Bernstein Global Value Fund.
Fonds-Interessenten sollten nicht bei ihrer Depotbank oder von einer Internet-Plattform ihren Fondsfavoriten blind ordern. Sie sollte sich vielmehr umfassend und am besten von einem bankneutralen Berater (in der Regel kostenfrei) über die Unterschiede bei den internationalen Value-Fonds aufklären lassen. Denn auch Wissen und Aufklärung zählen zu den Maximen der Graham-Schule: „Der Erfolg einer Aktieninvestition hängt wesentlich von der Zeit und der Mühe ab, die der Investor bereit ist, hierfür zu investieren“, so predigte Benjamin Graham einst den Anlegern, die ihm ihr Geld anvertrauten.
Joachim Kirchmann