Zwei-Tarif-Modell: Mehr Wettbewerb um Qualität
Das Recht der Patienten auf freie Arztwahl sieht der Erste Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Dr. Manfred Richter-Reichhelm, durch die Pläne der Bundesregierung gefährdet. „Wir stehen vor einer Grundsatzfrage in der Gesundheitspolitik: soll weiterhin der einzelne Bürger freie Entscheidungen treffen können oder ein staatlicher Dirigismus einkehren?“, stellt er zur Diskussion.
Der KBV-Chef bezieht sich damit unter anderem auf die Pläne der Bundesregierung zu einem Primärarztsystem, in dem der Hausarzt für die Einhaltung politisch vorgegebener Budgets sorgen soll (Hausarztmodell). Jeder gesetzlich Versicherte soll sich danach künftig bei einem Hausarzt einschreiben, den er im Krankheitsfall zuerst ansteuert. Ausgenommen sollen Besuche bei Kinder-, Frauen-, Augen- und Zahnärzten sein. Wer künftig direkt einen beliebigen Facharzt aufsuchen will, soll eine Praxisgebühr von 15 Euro entrichten. Außerdem zahlt er für Medikamente doppelt so hohe Zuzahlungen wie andere Patienten. Der niedergelassene Facharzt soll abgeschafft werden. Statt der vertragsärztlichen Zulassung soll die Krankenkasse die Ärzte auswählen.
Das seien amerikanische Verhältnisse, merkt Dr. Dominik Graf von Stillfried von der KBV in der jüngsten Ausgabe des „KBVKlartext“ (7/2003) kritisch an. „Wie in Amerika werden Patienten künftig fragen müssen, bei welchem Arzt die Krankenkasse welche Kosten übernimmt“.
Doch die Kritik der KBV an den Reformplänen der Regierung geht noch weiter. Der GMG-Entwurf setze sich Ziele und Lösungen, die mit den darin vorgesehenen Vorschriften nicht erreicht, sondern teilweise geradezu in ihr Gegenteil verkehrt würden, heißt es bei der KBV:
• Er lege die Axt an die Wurzel der Freiberuflichkeit von Vertragsärzten und zerstöre damit eine der tragenden Säulen des Gesundheitswesens.
• Er führe durch systematische Verlagerung der fachärztlichen Versorgung in das Krankenhaus zur Wartelistenmedizin.
• Der eröffnete Vertragswettbewerb der Kassen zerstöre die Solidarität der GKV und führe durch staatliche Kontrollen und Vorgaben direkt in eine staatlich gelenkte Kassenmedizin.
• Er zergliedere die GKV in eine Vielfalt miteinander im Wettbewerb konkurrierender Kassen-, Leistungserbringer-, Versorgungs- und Vergütungsstrukturen und werde das deutsche Gesundheitswesen damit in ein nicht mehr beherrschbares Chaos führen.
Mehr Effizienz
All dem hat die KBV ein eigenes Konzept zur Strukturreform in der GKV entgegengesetzt. Es setzt auf mehr Flexibiliät in der Vertragsgestaltung zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern. Die Suche nach effizienten Steuerungsmechanismen im Gesundheitswesen soll durch Wettbewerb unterschiedlicher Vertragstypen entschieden werden.
Versicherte und Patienten sollen mehr Wahlmöglichkeiten erhalten. Voraussetzung ist für die KBV der unabhängige Arzt, der als Leistungsanbieter gegenüber den Patienten in Wettbewerb treten müsse. Kontrakproduktiv sei deshalb, wenn Krankenkassen mit Ärzten und Krankenhäusern Einzelverträge abschließen. Dadurch könnten „schlechte Risiken“ rationiert und Versorgungsangebote für „gute Risiken“ gefördert werden. Wichtig sei, dass sich der Arzt durch seine Leistungen bewähre und nicht beim Kampf um Verträge. Der Patient, nicht die Krankenkasse solle den Arzt frei wählen.
Das KBV-Modell setzt auf Eigenverantwortung der Versicherten und Transparenz im Leistungsgeschehen. Der Versicherte soll eine aktive Wahlentscheidung zwischen zwei Tarifen treffen:
• Wer im Sachleistungssystem verbleiben will, wählt ein Hausarztsystem. Fachärztliche Versorgung nimmt er nur auf Überweisung in Anspruch.
• Wer sich für einen Kostenerstattungstarif entscheidet, kann auch die fachärztliche Versorgung direkt in Anspruch nehmen. Er beteiligt sich jedoch an allen Kosten mit einer prozentualen Selbstbeteiligung.
Für den jeweiligen Tarif erhält der Versicherte jeweils eine geeignete Chipkarte.
Damit, so erklärt Richter-Reichhelm, stehe im KBV-Modell das Prinzip der Kostenerstattung allen Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung offen. Bisher könnten sich nur freiwillig Versicherte für die Kostenerstattung entscheiden.
Wer auch im Sachleistungssystem mehr Wettbewerb um Qualität will, muss den Kollektivvertrag reformieren, fordert die KBV. Damit auch im Hausarztsystem Innovation möglich ist, dürfen die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) nicht geschwächt werden, sondern müssen Herausforderungen erhalten, um sich im Wettbewerb zu behaupten.
Zur Reform des Kollektivvertrags sind für die KBV zwei Schritte notwendig:
• Die Partner der Gesamtverträge vereinbaren künftig den Versorgungsauftrag für die Versicherten der beteiligen Krankenkassen. Der Versorgungsauftrag definiert Art und Menge der notwendigen vertragsärztlichen Leistungen unter Berücksichtigung der Morbiditätsstruktur der Versicherten. Die erwarteten Leistungsmengen werden in Regelleistungsvolumen je Arztpraxis konkretisiert. Soweit der Arzt diese nicht überschreitet, erhält er eine feste Vergütung nach der Systematik des neuen Einheitlichen Bewertungsmaßstabes (EBM).
• Zur Förderung des Qualitätswettbewerbs vereinbaren die Gesamtvertragspartner besondere Qualitätsanforderungen, insbesondere in der fachärztlichen Versorgung. Ärzte, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, können entsprechende Leistungen nicht abrechnen.
Zur Überwindung der sektoralen Trennung tragen drei weitere Reformschritte bei: Bereits im Zulassungsverfahren definieren die Gesamtvertragspartner Anforderungen an bestimmte Kooperationsformen, wie etwa die Zulassung am Krankenhaus. Krankenhausärzte, die die Qualitätsmerkmale erfüllen, werden durch Ermächtigung berechtigt, ambulante Leistungen zu erbringen. Schließlich sollte es Krankenhäusern freigestellt werden, für ambulante Leistungen Versorgungsaufträge gemeinsam mit der KV zu verhandeln und zu vereinbaren.
Einzelverträge bei integrierter Versorgung
Ein so reformierter Kollektivvertrag könne seine Leistungfähigkeit im Wettbewerb unter Beweis stellen, so die KBV. Krankenkassen sollten deshalb konkurrierend mit dem Kollektivvertragssystem Einzelverträge über integrierte Versorgung abschließen. Dazu gehören Verträge mit Verbünden von Arztpraxen und Krankenhäusern, die besondere Absprachen der Beteiligten (Beispiel: zur gemeinsamen Nutzung von Räumlichkeiten oder zur medizinischen Arbeitsteilung) ermöglichen. Kommt es dabei zu Einsparungen, können diese an die Versicherten weitergegeben werden.
Die Versicherten im Hausarztsystem haben dann nach dem KBV-Modell die Wahl zwischen zwei Komplettangeboten, eines kollektivvertaglich, eines einzelvertraglich organisiert. Ihre Wahl entscheidet also darüber, welches Versorgungssystem sich letztlich durchsetzt.
Richter-Reichhelm erläutert: „Das Zwei-Tarif-Modell ist in der Vertreterversammlung der KBV im Mai sowohl von den fachärztlichen als auch von den hausärztlichen Verbänden getragen worden. Es zeigt, dass Hausarztmodell und freie Arztwahl kombinierbar sind.“