Beethovens Taubheit

„Wie ein Verbannter muß ich leben“

Heftarchiv Gesellschaft
Eindringlich beschreibt der Komponist die charakteristische soziale Isolation des Schwerhörigen, die Schwerhörigkeit als Krankheit. Mit den Mitteln der modernen Medizin hätte man ihm wahrscheinlich helfen können.

„So bald ich tot bin, ..., so bittet ihn (seinen Arzt Professor J. Adam Schmidt) in meinem Namen, daß er meine Krankheit beschreibe, ... damit wenigstens soviel als möglich die Welt nach meinem Tode mit mir versöhnt werde ...“ Dies schrieb Ludwig van Beethoven 1802, gerade 32 Jahre alt, in sein Heiligenstädter Testament.

Beethoven war bereits als 28-Jähriger schwerhörig. Die letzten Jahre seines Lebens war er taub – ein Dornenweg für den hoch begabten Musiker. Hört man die 1798 zu Beginn seiner Schwerhörigkeit komponierte, schwer klingende Klaviersonate D-Dur (op. 10) „largo e mesto“, so glaubt man, etwas von der Ahnung dieses schweren Weges in der Musik wiederzufinden. 1801. Im Alter von 31 Jahren, schildert Beethoven seine Symptome: Schwerhörigkeit mit Hochtonverlust und Sprachverständlichkeitsverlust, quälende Ohrgeräusche (Tinnitus), Verzerrungen (Recruitment) und Überempfindlichkeit für Schall (Hyperakusis). In einem Brief an seinen Freund Dr. Franz Gerhard Wegeler (1765 bis 1848) vom 29. Juni beschreibt Beethoven die dissonante Kognition von Menschen und eigener Musik:

„Der neidische Dämon hat meiner Gesundheit einen schlimmen Streich gespielt, nämlich mein Gehör ist seit drei Jahren immer schwächer geworden (Schwerhörigkeit)... nur meine Ohren, die sausen und brausen Tag und Nacht fort (Tinnitus)... Ich bringe mein Leben elend zu. Seit zwei Jahren meide ich alle Gesellschaften, weils mir nicht möglich ist, den Leuten zu sagen, ich bin taub. Hätte ich irgend ein anderes Fach so gings noch eher, aber in meinem Fach ist es ein schrecklicher Zustand... Die hohen Töne von Instrumenten und Singstimmen höre ich nicht (Hochtonverlust), wenn ich etwas weit weg bin, auch die Bläser im Orchester nicht. Manchmal auch hör ich den Redner, der leise spricht, wohl, aber die Worte nicht (Sprachverständlichkeitsverlust), und doch, sobald jemand schreit, ist es mir unausstehlich (Hyperakusis).“

Es war Kant, der anmerkte, schlechtes Sehen trenne von den Dingen, Schwerhörigkeit hingegen trenne von den Menschen. Beethoven beschreibt die charakteristische, soziale Isolation des Schwerhörigen, die Schwerhörigkeit als Krankheit, die im wahrsten Sinne des Wortes doppelt unsichtbar ist: Man kann sie nicht sehen, und der Betroffene macht sich unsichtbar. Beethoven zieht sich aus der Welt der Hörenden zurück. Ein bestimmender Teil seines Menschseins geht Beethoven unaufhaltsam verloren.

Der kranke Beethoven hatte Suizidgedanken. Nur seine Kunst rettete ihn. Der Verlust des Hörens und kühne Kompositionsentwürfe – eigentlich ein Widerspruch in sich, und doch waren sie bei Beethoven vereinbar.

Sein damaliger Arzt, Professor J. Adam Schmidt (1759 bis 1808) vom Josefinum in Wien, hatte Beethoven die Kur in Heiligenstadt empfohlen. Ihm widmete Beethoven das Klaviertrio Wo0 38 (eine Bearbeitung von Opus 2). Er hatte es bereits 1791 geschrieben, noch bevor er schwerhörig wurde – ein fröhlich und unbeschwert klingendes Stück, so als wollte Beethoven seinem Arzt sagen, sein Gehör und sein Gemüt sollten wieder so werden wie ehedem. 1805 komponiert der 35-Jährige die ersten Skizzen für die 5. Sinfonie (Op. 67/1, 1807/8). Bekannt ist das Pochmotiv. Der Text dazu lautet: „So klopft das Schicksal an unsere Seele.“ Beethoven ist noch nicht taub – doch auf dem Weg dorthin.

Um Beethovens Schwerhörigkeit und spätere Taubheit zu verstehen, muss man wissen, wie das Ohr funktioniert. Das Ohr ist das empfindlichste und schnellste Sinnesorgan des Menschen. Die große Empfindlichkeit des menschlichen Ohrs kann man ermessen, wenn man bedenkt, dass der soeben wahrnehmbare Schalldruck im Innenohr zu Auslenkungen von nur etwa 10-10 m, also ungefähr vom Durchmesser eines Wasserstoffatoms, führt. Zeitlich können mehr als 1 000 hintereinander auftretende Ereignisse pro Sekunde aufgelöst werden. Vom Trommelfell wird das Schallsignal durch Schwingungen der Mittelohrknöchelchen auf den Steigbügel und von dort durch Einund Auswärtsbewegungen seiner Fußplatte auf das Innenohr übertragen. Ein Schallsignal führt dazu, dass der Steigbügel im Mittelohr vibriert, wodurch im flüssigkeitsgefüllten Innenohr eine Welle erzeugt wird. Diese wandert durch das Innenohr (daher ihr Name „Wanderwelle“: sie ähnelt einer Meereswelle am Strand), strandet schließlich und reizt an dieser Stelle einige bestimmte Haarzellen. Es wird angenommen, dass die Wanderwelle dabei die Sinneshärchen der Haarzellen (Grafik siehe Seite 130) umbiegt und diese Abscherung der Stereozilien die Öffnung von Ionenkanälen in den Zellmembranen an der Spitze der Zilien hervorruft. Interessanterweise ziehen kleine Fäden von den Spitzen der meisten Sinneshärchen zur Wandung der dahinter stehenden Zilie. Werden die Stereozilien in Erregungsrichtung umgebogen, so werden die Spitzenfäden gespannt. Man stellt sich vor, dass durch den Zug K+-durchlässige Ionenkanäle geöffnet werden und dass durch diese Kanäle positiv geladene K+-Ionen in die Haarzelle einströmen. Das Innere der Haarzelle wird dadurch elektrisch positiver. Auf diese Weise wird das mechanische Schallsignal in ein körpereigenes elektrisches Signal überführt. Man spricht von der mechano-elektrischen Transduktion.

Das gesunde Ohr hat eine erstaunlich gute Fähigkeit, Tonhöhen zu unterscheiden. Ohne diese Fähigkeit wäre Beethovens Musik nur Schallbrei. Ohne diese Fähigkeit kann der Kranke auch Sprache kaum noch verstehen. Für die Ausbildung der Tonhöhenselektivität besitzt das Innenohr einen raffinierten zweistufigen Mechanismus. Für die Beschreibung der ersten Stufe erhielt der im Dritten Reich aus Deutschland vertriebene Georg von Békésy 1961 den Nobelpreis. Die bereits erwähnte Wanderwelle hat nämlich zwei wichtige Eigenschaften. In Abhängigkeit von der Tonhöhe strandet sie jeweils an einem ganz bestimmten Ort entlang dem Innenohr: Bei hohen Tönen strandet sie am Anfang, bei mittleren in der Mitte und bei tiefen Tönen am Ende des Innenohres. Und dann ganz anders als bei einer Meereswelle: Unmittelbar bevor sie strandet, wird sie an dieser Stelle plötzlich wie von einer Hand ergriffen, bis zu 1 000fach verstärkt und mit einer sehr scharfen Spitze versehen, bevor sie anschließend sofort in sich zusammenfällt. Die Spitze der 1 000fach verstärkten Wanderwelle stimuliert exklusiv die an diesem Ort vorhandenen wenigen, für diese Tonhöhe verantwortlichen inneren Haarzellen, die anschließend Transmitter an einige afferente Hörnervenfasern weitergeben. Damit bei einer bestimmten Tonhöhe wirklich nur die wenigen inneren Sinneszellen exklusiv gereizt werden, braucht die Wanderwelle eine scharfe Spitze. Dreimal häufiger als innere Sinneszellen sind für diese Spitze die äußeren Haarzellen verantwortlich.

Wanderwelle im Innenohr

Äußere Haarzellen erzeugen nämlich kräftige mikromechanische Schwingungen in der Schallfrequenz. Dazu können sich äußere Haarzellen bis zu 20 000-mal pro Sekunde (20 kHz) verkürzen und verlängern. Dadurch wirken sie wie Servomotoren, die die strandende Wanderwelle ergreifen und sie bis zu 1 000fach verstärken. Die zusätzliche Schwingungsenergie entsteht nur an dem für die jeweilige Tonhöhe charakteristischen, eng umschriebenen Ort des Innenohres. Die Spitze der so erzeugten starken Welle wird scharf lokalisiert an wenige innere Haarzellen abgegeben. Durch diese so genannte cochleäre Verstärkung (Cochlear amplifier) wird die hohe Frequenzselektivität des gesunden Ohres – Voraussetzung für Sprachverständnis und Musikhören – erreicht.

Beethovens Symptome lassen vermuten, dass auch bei ihm – wie bei vielen Innenohrschwerhörigen – die scharfe Frequenzabbildung in der Cochlea nicht mehr vorhanden war. Als Folge litt er insbesondere an der von ihm geschilderten Einschränkung der Sprachverständlichkeit. Die drastische Verstärkung der Wanderwelle, die zur scharfen Spitze und damit erst zur Frequenzselektivität führt, fehlte bei ihm offenbar. Dieser grundlegende Unterschied kann heute am ehesten auf den Ausfall der äußeren Haarzellen zurückgeführt werden. Wenn eine äußere Hörsinneszelle sich nicht mehr bewegt, dann fehlt die Spitze der Wanderwelle. Dann nimmt man wahr, wie Beethoven wahrgenommen hat: „Hör ich ... wohl ..., aber verstehe die Worte nicht.“ Aufgrund Beethovens Beschreibungen kann man annehmen, dass seine Schwerhörigkeit damit begann, dass er sukzessive äußere Hörsinneszellen verlor.

Sukzessiver Hörverlust

Störungen oder Funktionsverluste der Motilität äußerer Haarzellen sind eine außerordentlich häufige Ursache der Innenohrschwerhörigkeit. Klinisch erkennt man sie am positiven „Recruitment“ oder/ und am Amplitudenabfall/-verlust der TEOAE (transient evoked otoacoustic emission). Bei niedrigen Schalldruckpegeln wird die Wanderwelle nicht mehr aktiv verstärkt, sodass der Schall erst oberhalb der schlechteren physiologischen Schwelle der äußeren Haarzelle, nämlich ab etwa 50 bis 70 dB, gehört wird. Also: Innere Haarzellen hören ohne äußere Haarzellen an der Schwelle nichts, sondern erst ab 50 bis 70 dB. Klinisch resultiert eine Schwellenanhebung im Tonaudiogramm von maximal 50 bis 70 dB. Darüber hinaus geht die durch die Verstärkung erzeugte scharfe Spitze der Wanderwelle, die für die Frequenzselektivität von Bedeutung ist, verloren. Dies kann einen Verlust der Sprachdiskrimination im Sprachaudiogramm erklären. Weiterhin tritt ein Recruitment auf, und die Amplitude transitorisch evozierbarer otoakustischer Emissionen nimmt ab oder geht verloren. Die TEOAE messen nämlich direkt die Mobilität äußerer Haarzellen. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass binaurale Hörleistungen wie laterales räumliches Hören und Signalerkennung vor Hintergrundgeräuschen deutlich eingeschränkt sind.

Die Behandlung von Beethovens Ohrenleiden begann 1800. Mandelöl-Ohrentropfen und Meerrettich-Baumwolle wurden angewandt, danach bestimmte Teesorten, aber auch so genannte Vesikatorien, die zu Blasen auf der Haut führten; man hoffte, dass mit Verschwinden der Blasen auch die Krankheit vergehe. Was heute fremd anmutet, war typisch für die damalige Zeit. Schließlich wurden ihm lauwarme Donaubäder verschrieben, die ihm bei seinem Ohrgeräusch etwas geholfen haben sollen.

Allerdings war von Heilung keine Rede, und so war Beethovens Ärzte-Hopping kein Wunder. Aber die besten Ärzte seiner Zeit konnten ihm alle nicht helfen. Und doch hat Beethoven in den Jahren bis 1812 acht seiner neun Sinfonien abgeschlossen. Es war Johann Melzel, der Erfinder des Metronoms, der Beethoven 1814 eine kleine Hilfe zukommen ließ: ein Hörrohr.Eine weitere Unterstützung war ein an seinem Erard-Flügel befestigter Holzstab, den Beethoven zwischen seine Zähne nahm. Auf diese Weise hatte er ein Vibrationsempfinden.

Doch selbst diese kleinen Fortschritte wurden sofort zunichte gemacht. Ab 1814 verschlimmerte sich Beethovens Schwerhörigkeit zunehmend. Die Indizien: 1814 war sein letzter öffentlicher Auftritt als Pianist. Danach spielte er nur noch im Freundeskreis oder für sich alleine. Der Musiker Tomaschek beschrieb Beethoven als sehr taub („taub“ bedeutete damals auch schwerhörig). Ein Jahr später (1815) meinten Neate und Simrock, englischer Pianist der eine und sein Verleger der andere, wenn überhaupt noch ein Restverstehen vorhanden sei, dann nur noch auf dem linken Ohr. Von seiner rechten Seite angesprochen, verstehe Beethoven nichts mehr. 1816, so Simrock, sei Persönliches nur noch schriftlich vermittelbar gewesen. Seit 1818 wurden Gespräche mit Beethoven ausschließlich schriftlich geführt. Überliefert sind rund 400 so genannte Konversationshefte. Vergleicht man Beethovens Porträts aus den Jahren 1812, 1815 und 1818, so gewinnt man den Eindruck, sein Antlitz sei in diesen sechs Jahren fast 20 Jahre älter geworden. Es spiegelt offensichtlich die furchtbare Erfahrung Beethovens wider.

Es sollte noch schlimmer kommen. 1819 schrieb der schwedische Dichter Atterbom, Beethoven sei, was man „stocktaub“ nenne. Ludwig Spohr beobachtete 1821, dass Beethoven beim Piano die Tasten nicht mehr anschlug.

Am 7. Mai 1824 wurde Beethoven als Dirigent eines Konzertabends angekündigt. Von der Ouvertüre „Die Weihe des Hauses“ über eine Teilaufführung der Großen Messe (Kyrie, Credo, Agnus dei) bis zur 9. Sinfonie war ein umfangreiches Programm zu hören. Beethoven war zwar formal Dirigent, tatsächlich folgte das Orchester Michael Umlauf, dem „assistierenden“ Dirigenten. Frenetischen Beifall gab es bereits nach dem Kyrie. Beethoven wandte sich jedoch nicht zum applaudierenden Publikum. Man nahm ihn bei den Schultern und drehte ihn sanft um, damit er den Beifall in Empfang nehmen könne. Offensichtlich war Beethoven taub. Nach allem, was wir heute wissen, kann man vermuten, dass 1824 nicht nur Beethovens äußere Hörsinneszellen, sondern auch seine inneren Hörsinneszellen ihre Funktion aufgegeben hatten.

Was hat Beethoven zu jener Zeit seiner vollständigen Ertaubung komponiert? Die Missa solemnis mit ihrem Kyrie (Op. 123), nach dessen Erklingen die Ertaubung evident wurde. Aber der vom sozialen Rückzug Betroffene komponierte auch: „Seid umschlungen Millionen“ und: „Alle Menschen werden Brüder“ (9. Sinfonie, op. 125, 1823/24). Vielleicht wollte er mit seiner glanzvollen Musik etwas über sich sagen, was der Ertaubte mit Sprache allein nicht mehr ausdrücken konnte.

Auch ohne Schwerhörigkeit und Taubheit war Beethoven ein kranker Mann. Er hatte Masern, aber auch Pocken gehabt. Die von Franz Klein 1812 erstellte Gesichtsmaske Beethovens zeigt charakteristische Pockennarben. Alois Weizenbach, Chirurgie-Professor in Salzburg, notierte einen Typhus vor 1798. 1797 bis 1802 wurden von seinem damaligen Arzt Professor Schmidt rheumatische Beschwerden genannt. Ob diese mit unseren heutigen medizinischen Begriffen übereinstimmen, bleibt unklar. Ab 1802 litt er immer wieder an Infekten der Nase, an Nasenbluten und an einem Asthma bronchiale. 1810 ist er offenbar schwer auf den Kopf gestürzt. Beethoven war ausgeprägt kurzsichtig. Er trug Sehgläser zwischen 1,5 bis vier Dioptrien.

In seinen Briefen beschreibt er nicht nur seine Schwerhörigkeit, sondern auch Unterleibskrämpfe und Unterleibserkrankungen. Die Bäder in der Donau, von denen die Rede war, dienten nicht nur dazu, sein Ohrenleiden zu lindern, sondern auch sein Unterleibsleiden zu behandeln. Heutige Erkenntnisse lassen auf eine Pankreatitis schließen. In seinen letzten Lebensjahren (ab 1821) kamen ein Ikterus und Hämoptoen (ab 1825) hinzu.

„Matt und elend lag er da, zuweilen tief seufzend . . .“

Im Krankenzimmer herrschte während Beethovens letzten Lebenswochen reger Betrieb. Der Kranke erlebte soziale Zuwendung, von der er sich mehr als 15 Jahre ausgeschlossen hatte. Nicht nur kamen täglich mindestens zwei Ärzte zur Visite, sondern auch Freunde und Bekannte stellten sich regelmäßig ein. Der spätere Komponist und Schriftsteller Ferdinand Hiller war zusammen mit seinem Kompositionslehrer, Johann Nepumuk Hummel, in den letzten Tagen bei Beethoven. Er besuchte ihn im März 1827, also unmittelbar vor seinem Tod, dreimal und war am 8. März „nicht wenig erstaunt, den Meister dem Anschein nach behaglich am Fenster sitzend zu finden“. Beim zweiten Besuch, am 13. März, war Beethoven bereits bettlägrig. Er stöhnte zuweilen tief, habe aber noch viel und lebhaft gesprochen. Und über den Besuch am 23. März schreibt Hiller: „Matt und elend lag er da, zuweilen tief seufzend, kein Wort mehr entfiel seinen Lippen – der Schweiß stand ihm auf der Stirn.“ Am selben Tag unterschrieb Beethoven sein letztes Testament – nach von Breuning im Halbschlummer. Am 24. März 1827 tobte nachmittags ein Gewitter über Wien – und Beethoven starb.

Beethovens Leichnam blieb bis zur Obduktion, die übrigens in seinem Haus stattfand, in seinem Bett liegen. Begraben wurde er am 29. März. Andenkenjäger hatten ihm bis dahin fast das gesamte Kopfhaar abgeschnitten. Die Obduktion nahm Dr. Johann Wagner, Assistent am Pathologischen Museum, vor. Sein Gehilfe war der später berühmte Dr. Karl von Rokitansky.

Am ehesten wird man heute meinen, dass Beethoven an einer so genannten chronischen Innenohrschwerhörigkeit gelitten hat. Seit 1798 wies Beethoven mit voranschreitendem Hochtonverlust, Sprachverständlichkeitsverlust, Tinnitus und Hyperakusis sehr charakteristische Zeichen dieses Leidens auf. In diesem Fall wäre es zunächst zum Funktionsverlust und Untergang der äußeren Haarzellen – und mit der Ertaubung auch der inneren Haarzellen – gekommen. Nach Untergang der inneren Haarzellen kann auch der Hörnerv zum Teil zugrunde gehen. Im Sektionsprotokoll steht, dass der Hörnerv deutlich zu dünn gewesen sei, zusammengeschrumpft und marklos. Wagner und Rokitansky bemühten sich, bei dem hochberühmten Mann, der an einer Taubheit gelitten hatte, das Gehör mit den damals zur Verfügung stehenden Mitteln zu beschreiben. Die Haarzellen waren noch nicht entdeckt, ein Mikroskop gab es nicht. Nur das bloße Auge stand zur Verfügung. So ist die Beschreibung der zu dünnen Hörnerven Zeichen damaliger größtmöglicher Präzision.

Untergang der Sinneszellen

Schwer zu beantworten ist die Frage, warum die Sinneszellen untergingen. Eine Lues, die man Beethoven später andichtete, war offensichtlich nicht die Ursache. Unwahrscheinlich ist, dass eine Lues einzig und allein das Gehör betraf und ansonsten völlig folgenlos an seinem Körper vorüberging. Bei der damaligen Häufigkeit der Lues haben die beiden Sektionsärzte sicher nach Zeichen einer Lues gesucht. Die Schädelverletzung kann auch nicht Ursache des Hörverlustes gewesen sein, denn es fehlt der zeitliche Zusammenhang. Typhus scheidet ebenfalls als Ursache aus. Auch hier wird man einen engen zeitlichen Zusammenhang mit der Ertaubung fordern: Zu dem Zeitpunkt, als der Typhus auftrat, müsste auch die Ertaubung aufgetreten sein. Dies war nicht der Fall. Für eine Altersschwerhörigkeit ist Beethoven nicht alt genug geworden. Auch eine Bleivergiftung macht nicht schwerhörig: Arbeiter von Bleibergwerken, etwa in Südamerika, leiden zu Tausenden an Bleivergiftungen. Schwerhörig sind sie nicht. Man findet Angaben, dass Beethoven an einer Otosklerose, einer Knochenkrankheit des Ohres, gelitten haben soll. Das verbesserte Hören mit dem Holzstab am Klavier wird als Indiz aufgefasst. Allerdings macht eine Otosklerose außerordentlich selten völlig gehörlos. In 30-jähriger klinischer Tätigkeit hat der Autor eine beidseitige Ertaubung durch Otosklerose noch nicht erlebt. Auf Fotos von Beethovens Schädel glaubt man eine Knochenverdickung zu sehen, wie sie für eine Pagetsche Krankheit typisch ist. Allerdings ist der von Fotos bekannte Schädel Beethovens ein Gipsabdruck, der nach Beethovens Exhumierung im Jahr 1863 angefertigt wurde. Damals war Beethovens Schädel in neun Teile zerfallen. Nachdem diese neun Teile von Alois Wittmann zusammengefügt worden waren, stellte er davon einen Gipsabdruck her. Die beim Gipsabdruck sichtbare Verdickung kann also auch auf einen Abdruck- oder Rekonstruktionsfehler zurückgehen.

Die moderne Medizin hätte Beethoven zwar nicht heilen – sie hätte ihm jedoch helfen können. Vermutlich hätte er seine Musik noch viele Jahre lang mit modernen Hörgeräten hören können. Später hätte man ihm möglicherweise ein modernes Hörimplantat operativ ins Mittelohr einpflanzen können. Durch Mikrovibrationen reizt es die inneren Hörsinneszellen, wenn die äußeren zerstört sind. Nach dem Untergang der inneren Haarzellen hätte man Beethoven ein Cochlear-Implantat in die Hörschnecke einsetzen können. Ein Cochlear-Implantat wirkt, wenn das gesamte Innenohr einschließlich der inneren Hörsinneszellen nicht mehr funktioniert, aber der Hörnerv noch intakt ist.

Selbst wenn – wie bei Beethoven der Fall – schließlich die Hörnerven ebenfalls betroffen sind, gibt es heute Hilfe, nämlich in Form eines Hirnstammimplantats. Das Implantat reizt das Gehirn direkt. Der Hörnerv wird nicht gebraucht. Allerdings funktionieren Cochlear-Implantat und Hirnstamm-Implantat nicht so perfekt wie das normale Hörvermögen. Sie ermöglichen jedoch in vielen Fällen eine sprachliche Kommunikation. Einschränkend muss man sagen, dass diese Implantate ausdrücklich nicht dafür konzipiert sind, Musik besonders gut zu hören. Vielmehr besitzen diese Implantate einen hoch spezialisierten Computer, der vor allem Sprache verarbeitet und diese in ganz bestimmte elektrische Signale zerlegt. Diese werden vom Hörnerven oder dem Gehirn aufgenommen und an das Sprachzentrum weitergegeben. Beethovens Musik klingt daher mit einem Cochlear- oder Hirnstamm-Implantat nicht unbedingt elegant, aber er hätte sie vermutlich hören können.

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Ärzteverlages aus: Dtsch Arztebl 2002; 99: A 2762–2766 (Heft 42)

Anschrift des Verfassers:Prof. Dr. med. Dr. h. c. mult. Hans-Peter ZennerÄrztlicher DirektorUniversitäts-Hals-Nasen-Ohren-KlinikElfriede-Aulhorn-Straße 572076 Tübingen

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