Armes Deutschland
Wer rechnen kann und den Überblick behalten hat, dem ist bewusst: Bei den realen, um die Inflation bereinigten Bruttound Nettoeinkommen hat sich während der vergangenen zehn Jahre in Deutschland nennenswert nichts verändert. Auch die Statistik belegt: Die Bruttolöhne und -gehälter der Arbeitnehmer stagnierten im Durchschnitt bei etwa 24 000 Euro im Jahr. Netto blieben davon gut 15 000 Euro.
Das wäre weiter nicht tragisch, wenn sich in allen anderen industrialisierten Ländern dieser Welt ebenfalls Stagnation breit gemacht hätte. Das aber ist keineswegs der Fall, wenn man beispielsweise das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen der führenden Nationen der Europäischen Union mit dem der führenden Wirtschaftsnation der Welt, den Vereinigten Staaten von Amerika, vergleicht.
1980 hatte Deutschland mit jährlichen Sprüngen von rund fünf Prozent beim Wirtschaftswachstum etwa 85 Prozent des amerikanischen Wohlstandsniveaus erreicht. Die nachfolgenden Dänen und Franzosen lagen damals bei knapp unter 80 Prozent, die Niederländer bei unter 75 Prozent und die stolzen Briten nur bei etwa 68 Prozent. Das notorisch arme Irland erreichte gerade mal gut 45 Prozent des US-Niveaus.
Heute zeigt sich das Wohlstandsgefüge von damals im Vergleich zum Maßstab USA diametral verkehrt: Irland ist in Europa Spitzenreiter beim inflationsbereinigten Pro-Kopf-Einkommen. Es hat rund 90 Prozent des US-Niveaus erreicht. Dann folgen mit einigem Abstand Dänemark, die Niederlande und Österreich mit jeweils um die 80 Prozent. Die Briten haben, nicht zuletzt dank der Radikalreformen ihrer langjährigen Premierministerin Margret Thatcher, bis auf gut 75 Prozent aufgeschlossen.
Frankreich landet bei knapp unter 75 Prozent, Deutschland ist bei knapp über 70 Prozent angekommen, im Vergleich zu 1980 um rund 15 Prozentpunkte zurückgefallen. Damit ist die größte Wirtschaftsnation der EU nicht nur beim derzeit allseits beklagten Wirtschaftswachstum, sondern auch beim Einkommensvergleich unter den führenden EU-Nationen zum Schlusslicht degradiert. Hätte es 1980 und dann noch einmal 1990 keinen gravierenden Knick nach unten gegeben, könnte Deutschland heute mit dem Spitzenreiter Irland zumindest gleichziehen.
Noch 1990 waren die Deutschen im europäischen Einkommensvergleich unter den maßgeblichen EU-Nationen mit einem Abstand von knapp zehn Prozent zum Zweitplatzierten Dänemark unangefochten der absolute Spitzenreiter. Erst danach ging es rapide bergab. Dass heute die Bevölkerung des einstigen Armenhauses Irland rund 20 Prozent mehr Einkommen in der Tasche hat als die ehedem reichen Deutschen, hängt zwar auch mit der deutschen Wiedervereinigung zusammen. Aber dieser finanzielle Kraftakt ist nicht ausschlaggebend für die nachhaltige Verarmung der deutschen Nation, wie eine Studie der Europäischen Kommission beweist. Ausschlaggebend für das jeweilige Wohlstandswachstum in den 15 EU-Nationen war und ist die Intensität und Radikalität, mit der die Wirtschafts- und Arbeitswelten der einzelnen Länder liberalisiert worden sind.
Sanierungsfall
In dem Maße, wie einzelne EULänder von der staatlichen Bevormundung befreit wurden, stieg auch der Wohlstand ihrer Bürger und damit die Zufriedenheit mit den Lebensumständen – so eine aktuelle, internationale Umfrage von Harris Poll. Rund 50 Prozent der Iren, Schweden, Amerikaner, Dänen, Niederländer und Briten sind der Meinung, dass sich in den vergangenen fünf Jahren ihre Lebensumstände deutlich verbessert hätten. Aber nur 23 Prozent der Deutschen teilen diese Meinung. Der EU-Durchschnitt liegt bei 36 Prozent. Die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung bestätigt somit als erlebte Erfahrung, was die Statistiken beweisen: Ihr Land ist, was Wirtschaft und Wohlstand betrifft, zu einem Sanierungsfall geworden.
Aber Deutschland hat nicht nur beim Wohlstandsvergleich erheblich verloren. Auch beim internationalen Vergleich der sozialen Wohlstandsfaktoren hinkt das Land inzwischen weit hinterher, was man angesichts der hohen Sozialausgaben und der ausufernden Sozialdefizite eigentlich nicht glauben möchte. Doch der aktuelle „Human Development Index“ (HDI), Anfang Juli2003 von den Vereinten Nationen veröffentlicht, liefert den Beweis. Der HDI misst die Lebensqualität in 175 Nationen. Die Lebensqualität umfasst die Wirtschaftsleistung, die Lebenserwartung (die primär Umfang und Qualität der ärztlichen Versorgung widerspiegelt) sowie die Bildungsbeteiligung. Unter Bildungsbeteiligung versteht der Index den Anteil der Bevölkerung, der primäre und weiterführende Schulen wie auch Hochschulen absolviert hat.
Beim Gesamtindex erreicht Norwegen den Spitzenplatz, Island liegt auf dem zweiten Rang. Deutschland erreicht hinter allen namhaften Wohlstandsnationen dieser Welt nur den 18. Rang, gefolgt von Spanien. Aufgegliedert nach der Lebenserwartung ist Japan Spitzenreiter, gefolgt von Schweden. Deutschland liegt hier sogar auf Rang 21, eine Stelle hinter Malta. Bei der Bildungsbeteiligung sieht es, wie bereits aus den Pisa-Studien bekannt, noch trüber aus: Australien und Schweden liegen vorn, Deutschland erreicht zwischen Estland und Polen Platz 25. Das ist die Quittung einer seit langem schon schlampigen, primär aufs Sparen ausgerichteten Schulpolitik. In der Kategorie Wirtschaftsleistung sind Luxemburg und die USA führend. Deutschland erreicht immerhin noch, zwischen Australien und Japan, Rang 13, muss sich aber Ländern wie Österreich, Island, Norwegen oder Kanada geschlagen geben.
Das kanadische Fraser Institute publiziert alljährlich den Report „Economic Freedom Of The World“. Der renommierte Report untersucht die wirtschaftliche Freiheit in 123 Nationen. Er ordnet jedem Land auf einer Skala einen Wert von null (gänzlich unfrei) bis zehn (relativ frei) zu. Deutschland kommt in dem zur Jahresmitte veröffentlichten Report auf einen Indexwert von 7,3. Das ist ein Abstieg auf den Wert von 1970. Der Unterschied zu heute: Damals brachte diese Indexierung den Deutschen in Sachen Wirtschaftsfreiheit noch den sechsten Rang ein, heute nur noch Platz 20 – eine Position, die im Vergleich zu den führenden Wirtschaftsnationen dieser Welt wiederum ein „unter ferner liefen“ bedeutet. In Sachen Wirtschaftsfreiheit führen die USA, gefolgt von Großbritannien und Irland. Die heute zweitplatzierten Briten lagen 1970 noch auf Rang 36. Ein Wunder, wenn man bedenkt, dass die „englische Krankheit“ als unheilbar galt.
Restriktionen
Im Jahr 1970, als in Deutschland mit dem Abebben des Wirtschaftswunders ein Trend zur wirtschaftlichen Restriktion eingeläutet wurde, beendete die damals neu gewählte sozial-liberale Regierung die Wirtschaftsliberalität der legendären ErhardÄra. Die erstmals regierenden Sozialdemokraten begannen, die Arbeitswelt und das Wirtschaftsleben zu „demokratisieren“. Einige noch heute gültige Kernpunkte dieses Programms sind ein stark reglementierendes Betriebsverfassungsgesetz, die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei betrieblichem Eigentum, extremer Kündigungsschutz und opulente Arbeitslosenunterstützung wie auch die volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (für immerhin sechs Wochen).
Eindrucksvoll belegt die Fraser-Studie des Jahres 2003, dass „wirtschaftliche Freiheit“ und Wohlstand, gemessen am Pro-Kopf-Einkommen, eng miteinander korrelieren. Staaten, die nicht zuletzt durch rigide Sozialreformen ihrer Geschäftswelt einen größeren, unreglementierten Spielraum zur Verfügung gestellt haben (in Europa beispielsweise Dänemark, Irland, Schweden, die Niederlande, Großbritannien oder die Schweiz), sind auch auf der Wohlstandsskala markant aufgestiegen. Staaten hingegen, die Wirtschafts- und Sozialreformen verweigerten oder nicht die politische Kraft zu einer umfassenden Deregulation aufbrachten wie etwa Deutschland, Frankreich oder Italien, mussten bei der Wohlstandsentwicklung deutliche Rückschritte in Kauf nehmen.
Hohe Staatsquote
Die steigende Staatsverschuldung ist der Hauptgrund dafür, dass die deutsche Politik, gleichgültig welcher Couleur, vor allem während der vergangenen zwölf Jahre in ihrer Reformfreudigkeit immer stärker eingeschränkt wurde. Die amtierende Regierung konnte und kann die Staatsquote von rund 50 Prozent nicht nennenswert absenken, weil sie der arbeitenden Bevölkerung im Schnitt rund 50 Prozent vom verdienten Einkommen abnehmen muss, um über die Runden zu kommen. Was sich nicht direkt aus den Taschen der Zahlbürger ziehen ließ, knöpft Berlin den Ländern und Kommunen ab. Viele von ihnen stehen am Rande der Zahlungsunfähigkeit. Für die Bundesbürger bedeutet dies: Zum einen nimmt der Staat individuelle Kaufkraft, um seine Verpflichtungen zu erfüllen. Zum anderen verschlechtert er durch die finanzielle Belastung von Ländern und Gemeinden die Infrastruktur und den kommunalen Komfort. So spiegelt auch das öffentliche Leben die eingeschlichene Armut wider.
Die Verschuldung nahezu aller öffentlichen Hände stieg von 40 Prozent (gemessen am Bruttoinlandsprodukt) Mitte der 80er Jahre auf derzeit 62 und demnächst 66 Prozent. Der Grund liegt im Wesentlichen in der falsch gemanagten deutschen Wiedervereinigung. Sie sollte eigentlich durch den Verkauf der ehemaligen DDR-Firmen an „kapitalistische“ Investoren bezahlt werden. Doch statt Geld in die Staatskasse flossen etwa 200 Milliarden Mark in Form von Subventionen an die Aufkäufer (Stichwort: Leuna), damit diese sich (vielfach nur auf dem Papier) bereit erklärten, die maroden DDR-Unternehmen zu sanieren und weiterzuführen. Noch heute fließen rund vier Prozent der westdeutschen Wirtschaftsleistung in das Projekt Wiedervereinigung, überwiegend in Form von Zinsen für den aufgelaufenen Schuldenberg.
Zum anderen ließen sich die damals amtierenden Politiker bei der Festsetzung des Euro-Kurses über den Tisch ziehen. Der Euro war zu diesem Zeitpunkt keine 1,95583 Mark wert. Dieser Kurs dokumentiert vielmehr eine Überbewertung von rund zehn Prozent. Der Euro hätte, als er Anfang 1999 als Girogeld eingeführt wurde, bestenfalls knapp unter 1,80 Mark kosten dürfen. Heute wäre ein Preis von unter 1,70 Mark angemessen. Die hohe Euro-Bewertung hatte zur Folge, dass auch der damals schon enorme Schuldenberg der Deutschen per definitionem um rund zehn Prozent zunahm. Schlimmer noch: Die deutsche Exportwirtschaft büßte rund zehn Prozent ihrer Wettbewerbsfähigkeit ein und leidet derzeit immer noch an der verdeckten Mark-Aufwertung. Diese hat somit einen – bislang leider undiskutierten – maßgeblichen Anteil an der aktuellen Wirtschaftsschwäche der deutschen Nation.
Dreh- und Angelpunkt des deutschen Wirtschafts- und Wohlstandsabstiegs ist aber die hohe Staatsquote von 50 Prozent an der gesamten volkswirtschaftlichen Leistung. Wissenschaftliche Studien, unter anderem vom renommierten Klier Institut für Weltwirtschaft, belegen aber, dass die vorherrschende Staatsquote und das langfristige Wirtschaftswachstum eng miteinander verzahnt sind. Wird die Staatsquote um ein Prozent gesenkt, erhöht sich das Wachstum um etwa 0,1 Prozent. Würde die Staatsquote, wie geplant, auf 40 Prozent abgesenkt, hätte das erwiesenermaßen ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von jährlich rund einem Prozent zur Folge. Ein enormer Impuls für eine ausgewachsene Volkswirtschaft wie die deutsche, die sich derzeit mit Nullwachstum, sprich Stagnation, begnügen muss.
Illusorisch
Interessant, aber illusorisch ist eine Berechnung des Internationalen Währungsfonds: Würden in Europa der Kündigungsschutz, die Arbeitslosenunterstützung und die Einkommensteuer auf amerikanisches Niveau heruntergefahren, würde die Arbeitslosigkeit in der Euro-Zone alsbald um durchschnittlich drei Prozentpunkte sinken und die Wirtschaftsleistung um etwa fünf Prozent steigen. Und würde man auch die Regulierung der Gütermärkte dem USStandard (vor der Bush-Präsidentschaft) anpassen, ließe sich dieser Effekt sogar verdoppeln.
Doch diese kecke Kalkulation wird wohl für immer eine Illusion bleiben.
Der langjährige Autor unserer Rubrik „Finanzen“ (früher Altersvorsorge) ist gerne bereit, unter der Telefon-Nr. 089/64 28 91 50 Fragen zu seinen Berichten zu beantworten.
Dr. Joachim KirchmannHarthauser Straße 2581545 München