Ausrottung – Ziel und Realität
Dann kamen die Impfungen und in ihrer Folge eine beispiellose Wende: Die Zahl der Infektionen sank rapide. Waren 1988 weltweit noch 350 000 Fälle aufgetreten, wurden der Weltgesundheitsorganisation WHO 2001 nur noch 600 Fälle aus zehn Ländern gemeldet, vor allem aus Pakistan und Indien. Europa ist seit Juli letzten Jahres vollständig frei von einheimischen Poliofällen. Ist die Krankheit besiegt? Ist auch die Impfung nicht mehr notwendig? Mit diesen Fragen setzten sich jetzt der Heidelberger Tropenhygieniker Priv.-Doz. Dr. Oliver Razum und seine Bonner Kollegin Dipl.- Geogr. Angela Queste in der „Deutschen Medizinischen Wochenschrift“ auseinander.
„Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam“ – die Impfkampagne unter diesem Motto bot einen beeindruckenden Beweis für die Wirksamkeit von Impfungen. Paradoxerweise führte vor fünf Jahren gerade dieser Erfolg zur Abschaffung des süßen Schlucks und zum Wechsel zu einer Impfung mit der Spritze: Die Schluckimpfung (OPV) enthält nämlich abgeschwächte Lebendviren, die sich im Darm vermehren und eine zeitlang mit dem Stuhl abgehen. Sie können, wenn auch in extrem seltenen Fällen, zu einer „Impf-Polio“ führen. Das Risiko, an Impf-Polio zu erkranken, wurde auf einen Fall auf 4,5 Millionen Schluckimpfungen geschätzt. Bei der Injektions- Impfung (IPV) mit einem Tot-Impfstoff besteht selbst dieses extrem niedrige Risiko nicht mehr.
Schluckimpfung in der dritten Welt
In den armen Ländern wird allerdings weiterhin der Schluckimpfstoff eingesetzt, weil er erheblich preisgünstiger ist und wegen der oralen Gabe auch von ungeschultem Hilfspersonal verabreicht werden kann. Das bedeutet aber: Das vom Impfstoff abstammende Poliovirus kann auch dann weiter zirkulieren, wenn einige Monate lang weltweit keine einzige Erkrankung durch Polio- Wildviren mehr aufgetreten ist und die Krankheit deshalb für ausgerottet erklärt wird. Bei nachlassender Impffreudigkeit sind verhängnisvolle Folgen möglich. Als Beispiel für ein solches Szenario führen die beiden Hygieniker den Ausbruch von Kinderlähmung in den Jahren 2000 und 2001 in Haiti und der Dominikanischen Republik an. Dort erkrankten 21 Menschen an Polio, zwei von ihnen starben. Beide Länder waren zuvor mehr als zehn Jahre frei von Polio. Die Untersuchung ergab: Die Ursache lag keineswegs bei einer zunächst vermuteten Einschleppung von Polio-Wildviren. Die Auslöser der Erkrankung waren vom Impfstoff abstammende Viren, die durch Mutation erneut an Gefährlichkeit und Ansteckungsfähigkeit gewonnen haben. Derartige Fälle wären auch nach der erklärten Ausrottung der Kinderlähmung in Europa denkbar, warnen die beiden Experten: „Der inaktivierte Impfstoff IPV vermittelt zwar eine ausgezeichnete individuelle Schutzwirkung gegen eine Erkrankung, jedoch keine sichere Immunität der Darmschleimhaut. Damit wachsen nun erstmals Geburtskohorten auf, in denen sich trotz gutem individuellen Schutz eingeschleppte Polio-Viren vermehren und verbreiten können. Es lässt sich also nicht vollkommen ausschließen, dass mit zunehmender Zahl der mit IPV geimpften Menschen auch in Deutschland Polio-Viren eine zeitlang unbemerkt zirkulieren, bis sie in eine unzureichend geschützte Bevölkerungsgruppe vordringen und dort zu Erkrankungen führen. Mit einem Absinken der Durchimpfungsrate würde dieses Risiko stark zunehmen.“
Ziel zu hoch gesteckt
Das von der WHO formulierte Ziel der „Ausrottung“ der Kinderlähmung erscheint den beiden Wissenschaftlern auch aus einem anderen Grund als zu vollmundig: „Das Polio-Virus“ wird als mögliche Waffe von Bio-Terroristen angesehen. Sie könnten sich Polio-Viren aus tiefgefrorenen Laborproben beschaffen. Selbst vom nahezu überall auf der Welt in großen Mengen erhältlichen Lebendimpfstoff ginge nach Einstellung der Impfungen gegen Poliomyelitis eine Gefahr aus, denn durch ihn könnte das Impfvirus erneut in Umlauf gebracht werden. Eine wirkliche Ausrottung von Polio-Wildvirus und Impfvirus erscheint daher kaum möglich.“
Fazit: Die vollständige Ausrottung der Kinderlähmung war ein zu optimistisches Ziel. An der langfristigen Fortführung der Impfungen führt kein Weg vorbei. Angesichts der künftigen Situation müssten die Anstrengungen zur Impfung bisher nur schlecht geschützter Bevölkerungsgruppen sogar verstärkt werden, konstatierten die beiden Autoren in der „Deutschen Medizinischen Wochenschrift“.
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