Der Einfluss der Konsistenz der Nahrung auf die dentofaziale Entwicklung
Im Zeitalter des „Fast- und Designer-Food“ der westlichen Industrieländer werden raffinierte und exotisch aufbereitete Lebensmittel jederzeit und allerorts verfügbar. Die Weiterverarbeitung der Nahrungsmittel führt zu einer Abnahme der Konsistenz der Nahrung (Abb. 1). Gleichzeitig nehmen skelettale und dentale Anomalien im Bereich des Gesichtsschädels zu, die häufig aufwändig und für den Patienten belastend kieferorthopädisch behandelt werden müssen.
Zivilisatorische Einflüsse
Eine eventuell vorliegende Beziehung zwischen der zivilisatorischen Aufbereitung der Nahrung und der damit einhergehenden Reduzierung der funktionellen Beanspruchung des stomatognathen Systems und daraus resultierenden dentalen sowie skelettalen Anomalien wurde bereits in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts von Waugh [1937] intensiv untersucht. In mehreren Studienreisen nach Alaska führte er anthropologischen Untersuchungen durch. An den Gebissen der dort lebenden Bevölkerung (Eskimos), die noch nicht den zivilisatorischen Einflüssen der US-Amerikaner unterlagen, wies Waugh nach, dass diese damals breite, kräftige, gut entwickelte Kiefer mit breiten harmonisch ausgeformten Zahnbögen und stark abradierten Zähnen aufwiesen, die in einer stabilen Okklusion, zumeist in einer Angle Klasse I- beziehungsweise in einer Angle Klasse III-Beziehung zueinander standen. Die Frontzähne befanden sich häufig in einer Kopfbisssituation zueinander. Eskimos, deren Ernährungsgewohnheiten denen der US-Amerikaner angepasst waren, zeigten bereits in der folgenden Generation gehäuft dentale und skelettale Anomalien, wie ausgeprägte Schmalstände der Zahnbögen, frontale Engstände, Kreuzbisse, Außen- und Hochstände der Oberkiefereckzähne, eine negative Frontzahnstufe und vermehrt Karies. Auffällig war der Befund, dass Eskimofrauen im Oberkiefer durchschnittlich breitere Zahnbögen im Vergleich zu ihren Männern aufwiesen. Dieser Befund lässt sich über eine vermehrte funktionelle Beanspruchung der Kiefer hinreichend erklären. Die Lederverarbeitung wurde bei den Eskimos von weiblichen Mitgliedern einer Familie ausgeübt. Ein Arbeitsschritt bestand darin das Leder mit dem Mund weich zu kauen. In einer weiteren Untersuchung, die ebenfalls den kraniofazialen Status der Inuit untersuchte, wurde von einer gleichzeitigen Unterentwicklungen des mittleren und unteren Gesichtsdrittels berichtet [Price 1936].
Als Hauptursache für die neu aufgetretenen Malokklusionen werden die kariogenen Auswirkungen der raffinierten Nahrung und die daran nicht angepasste Mundhygiene mit vorzeitigen Milchzahnverlusten und einer daraus resultierenden veränderten Reihenfolge des physiologischen Zahndurchbruchs benannt [Price 1936, Waugh 1937, Wedel et al. 2003].
Gleichgerichtete Befunde zeigten sich bei einem Vergleich von Skeletten australischer Ureinwohner mit der weißen australischen Bevölkerung in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts [Begg 1954]. Während in der weißen Bevölkerung Malokklusionen bei zirka 58 Prozent der Population auftraten, waren bei den Aborigines lediglich zirka 24 Prozent der Bevölkerung betroffen. Die Ureinwohner wiesen gleichfalls morphologisch größere Kiefer sowohl im Ober- als auch im Unterkiefer auf. Gleichzeitig waren die Zahnbögen bereits im frühen Erwachsenenalter aufgrund von Abrasionen in anterior- posteriorer Richtung um mehr als elf Millimeter verkürzt. Dies entspricht mehr als der mesio-distalen Länge eines durchschnittlichen Weisheitszahnes. Ähnliche Befunde zeigen paläoodontologische Untersuchungen an Grabgelegen in Europa. Beispielhaft veranschaulicht dieses Abbildung 2 eines harmonischen Zahnbogens eines Unterkiefers einer 40- bis 50-jährigen Person aus einem Hünengrab bei Mengen. In vergleichenden Untersuchungen der Entwicklung von Bissanomalien in Europa vom Neolithikum bis zur Gegenwart wurde eine kontinuierliche Veränderung zu vermehrtem Auftreten orthodontischer Anomalien festgestellt; ein dramatischer Anstieg zeigte sich jedoch vor 150 bis 200 Jahren in Folge der raffinierten Kohlenhydrate und der weicheren Nahrung [Andrik 1963].
Diese rein deskriptiven Untersuchungen beschreiben die bekannte Tatsache, dass die morphologische Entwicklung des Schädels und der okklusalen Beziehungen nicht rein genetisch festgelegt ist, sondern ebenso durch lokale und allgemeine epigenetische Faktoren und lokale und allgemeine Umweltfaktoren mitbestimmt wird [Andrik 1963, Rakosi und Jonas 1989].
Aus diesen anthropologischen Untersuchungen lässt sich rückschließen, dass eine verstärkte postnatale Beanspruchung des Kausystems zu einem größeren Platzangebot für die Zähne durch morphologische Veränderung der Kieferbasen und zu einer verstärkten Zahnabrasion in mesio-distaler Richtung führt. Beide Faktoren beeinflussen den physiologischen Zahndurchbruch und damit die Position der Zähne im Zahnbogen sowie die okklusale Beziehung. Voraussetzung hierfür ist die Gewährleistung einer optimalen Mundhygiene, im Idealfall mit einem kariesfreien Milchgebiss.
Trainingseffekte
Neben den dentalen und skelettalen Veränderungen führt die funktionelle Beanspruchung des Kausystems außerdem zu einer muskulären Adaptation durch Muskelhypertrophie. Diesbezüglich wiesen die Arbeiten von Kiliaridis [Kiliaridis et al. 1999] und die von uns durchgeführte Untersuchung [Regber 2002], in denen Probanden eine besonders harte Kaumasse eine Stunde am Tag kauten, eine messbare Hypertrophie der Kaumuskulatur, insbesondere des Muskulus masseters, nach. Gleichzeitig zeigt Kiliaridis einen Anstieg der maximalen Kaukraft um zirka ein Drittel und eine Anpassung des EMG-Musters der Kaumuskulatur. Wurde das Training der Kaumuskulatur eingestellt, ließ der Effekt nach und die Hypertrophie entwickelte sich innerhalb von drei Wochen zurück.
Die Bedeutung der Beschaffenheit der Nahrung unabhängig vom physiologischen Nährwert wurde neuerlich in verschiedenen tierexperimentellen Untersuchungen belegt [Kiliaridis 1995, Ciochon et al. 1997, Wagner 1997, Kiliaridis et al. 1999]. Hierzu wurden heranwachsende Tiere mit Nahrung unterschiedlicher Konsistenz, wie harte Peletts oder Pulver, aufgezogen. Bei der Tiergruppe, die mit weicher Nahrung aufgezogen wurde, war nach dem Wachstumsabschluss der gesamte Gesichtsschädel in allen drei Raumebenen, im Vergleich zur Tiergruppe, die mit harter Kost aufwuchs, verkleinert. Hauptsächlich betraf dieses die Unterkiefer-, aber auch der Oberkieferentwicklung, insbesondere die Entwicklung in transversaler Richtung. Abbildungen 3a und 3b zeigen beispielhaft Ausschnitte aus dem proximalen Teil des aufsteigenden Unterkieferastes zweier Ratten, die mit Nahrung unterschiedlicher Konsistenz aufgezogen wurden. Abbildung 3a zeigt die Knochenstruktur eines Tieres, welches während der Wachstumsphase ausschließlich mit einer weichen Nahrung und Abbildung 3b den gleichen Ausschnitt eines Tieres, welches mit harter Nahrung gefüttert wurde. Die dimensionalen und strukturellen Unterschiede sind deutlich zu erkennen. Beide Tiergruppen wiesen eine gleiche allgemeine Gewichtsentwicklung auf. Die bereits in den anthropologischen Untersuchungen bei Menschen [Price 1936, Waugh 1937, Wedel et al. 2003] beschriebenen dentalen Befunde einer verstärkten distalen Bisslage des Unterkiefers, eines Schmalkiefers, dentaler Engstände und vermehrter Durchbruchstörungen von Einzelzähnen wurden auch in Tiergruppen, die mit weicher Nahrung aufwuchsen, gefunden [Wagner 1997]. Die Bedeutung einer funktionellen Beanspruchung des stomatognathen Systems, insbesondere auf die Oberkieferbreitenentwicklung, wird durch weitere Studien bekräftigt, beispielsweise korreliert die Ausprägung des Muskulus masseters mit der Oberkieferbreite [Kiliaridis et al. 2003]. Hinweise deuten weiterhin darauf, dass die meisten Effekte einer funktionellen Beanspruchung vor beziehungsweise während des Durchbruches der bleibenden Zähne zu erwarten sind [Katsaros et al. 2002].
Physiologie des Kauens
Der Kauvorgang bereitet den Bissen zum Schlucken und zur erleichterten Verdauung vor, dabei wird feste Nahrung vor dem Schlucken auf wenige mm2 zermahlen.
Die Strukturen, die am Kauvorgang beteiligt sind, umfassen den Ober- und Unterkiefer mit den Zähnen, die Kaumuskulatur, die Zunge, die Wangen, den Mundboden und den Gaumen. Beim Kauzyklus wird mit den Frontzähnen die Nahrung zerschnitten beziehungsweise zerrissen, der Bissen wird nach distal befördert und dort mit den Molaren zermahlen. Der Bolus wird gleichzeitig eingespeichelt und mit Enzymen versetzt. Hierbei verbessert die Oberflächenvergrößerung die enzymatische Aufschlüsselung der Nahrung. Bei einer gewissen Konsistenz wird mit der Zunge ein Bolus geformt und dieser reflektorisch geschluckt. Der Kauvorgang erfolgt primär willkürlich, dann weitgehend unbewusst. Die Berührungsreize der Speisepartikel an Gaumen und Zähnen steuern unwillkürlich die Kaubewegungen. Ein Kauzyklus nimmt etwa. 0,6 bis 0,8 Sekunden in Anspruch, dabei werden Kräfte bis zu 1900 N, gemessen im Molarenbereich, entwickelt. Die durchschnittliche Beanspruchung beträgt etwa 300 bis 700 N. Die Kräfte werden als Zugkräfte über die Parodontalfasern auf den Knochen weitergeleitet. Dies führt zu einer direkten Belastung des Knochens insbesondere des Alveolarkammes. Gleichzeitig erfolgt eine funktionelle Beanspruchung des stomatognathen Systems über die Muskulatur. Die Umwandlung der physikalischen Belastung auf eine zelluläre Reaktion wird als Mechanotransduktion bezeichnet [Mao 2002]. Die Mechanotransduktion wird auf molekularer Ebene gegenwärtig nur unvollständig verstanden; die Erforschung steht jedoch im wissenschaftlichen Fokus verschiedener Arbeitsgruppen.
Die Konsistenz der Nahrung beeinflusst die notwendige aufzubringende Kauleistung [Thexton 1992].
Die Kauleistung wird über die Dauer des Kauens, die benötigt wird einen Bissen zu zermahlen, durch die aufzubringenden Kräfte im Molarenbereich und durch das Ausmaß der Unterkieferexkursionen, beschrieben. So konnte gezeigt werden, dass bei einem Anstieg der Konsistenz der Nahrung, wie bei Früchten, Brot und Karotten, die Unterkieferexkursionen, insbesondere die Lateralbewegungen und der Vorschub, signifikant zunehmen [Filipic und Keros 2002]; eine gleiche Beziehung gilt für die Größe des aufgenommenen Nahrungsstückes [Peyron 1997].
Über die Konsistenz zur Prophylaxe?
Will man im Rahmen eines prophylaktischen Ansatzes zur Vermeidung von dentalen und skelettalen Anomalien die Konsistenz der Nahrung gezielt einsetzen, sind einige Überlegungen zu dieser Eigenschaft notwendig. In der Ernährungswissenschaft beschreibt die Konsistenz ein Stoffgefüge von Lebensmitteln welches durch Berührung, Sehen und Hören wahrgenommen wird. Mehr Bedeutung hat der Begriff der Textur eines Lebensmittels. Dieses wird mit dem Tastsinn und der Muskelspannung beurteilt. Die physikalischen Eigenschaften eines Nahrungsmittels können über eine Beschreibung der externen physikalischen Eigenschaften, wie Form und Größe der Partikel, die Rauigkeit der Oberfläche und die Zähigkeit, sowie über eine Bestimmung der internen mechanischen Eigenschaften eines Nahrungsmittelpartikels erfolgen. Ein für die Effizienz der Kauleistung relevanter Parameter ergibt sich aus der Quadratwurzel des Quotienten der Zähigkeit und des Elastizitätsmoduls eines Lebensmittels [Agrawal et al. 1997]. Mit dieser Beziehung werden unterschiedliche Lebensmittel, wie ein Stück Parmesankäse und eine Karotte bezüglich der aufzubringenden Kauleistung vergleichbar (Tabelle 1). Jedem Lebensmittel kann somit ein Indexwert zugewiesen werden. Dieser Index steht in Beziehung mit der Zerkleinerungsrate des Lebensmittels bei einem einmaligen Zusammenbeißen im Bereich der Molaren, mit der aufzubringenden Kraft, die benötigt wird, um den definierten Bissen zu zermahlen, und mit dem im EMG gemessenen Aktivitätsmuster der betroffenen Muskulatur [Agrawal et al. 1998].
Zu welchem Zeitpunkt der Entwicklung im Sinne einer prophylaktischen Anwendung einer Kontrolle der Nahrungskonsistenz verstärkt Beachtung geschenkt werden sollte, ist derzeit wissenschaftlich nicht völlig geklärt. Beim Menschen findet der Zahndurchbruch im Alter von etwa sieben Monaten bis zur Einstellung der Weisheitszähne mit etwa 20 bis 25 Jahren statt. Das Wachstum und auch der Zahndurchbruch erfolgen nicht kontinuierlich, sondern in Schüben. Aus kieferorthopädischer Sicht wird die Umstellung der Nahrung von weicher auf feste Kost mit der Einstellung der ersten Milchmolaren mit etwa zwölf bis 14 Monaten empfohlen. Bekannt ist, dass die transversale Entwicklung des Unterkiefers mit dem Durchbruch der bleibenden Unterkiefereckzähne mit etwa neun Jahren fixiert ist. Aus dieser Überlegung heraus sollte ein prophylaktischer Einsatz von fester Nahrung vor diesem Zeitpunkt konsequent betrieben werden, eine anschließende dauerhafte transversale Dimensionsveränderung im anterioren Unterkiefer ist eher unwahrscheinlich. Die sagittale und die vertikale Entwicklung des Gesichtsschädels ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht festgelegt und kann weiterhin beeinflusst werden. Mit dem Durchbruch der Prämolaren und der Ausformung der adulten Zahnbögen kommt der Abrasion in mesio-distaler Richtung mehr Bedeutung zu.
Kauen ist anstrengend
Bei der prophylaktischen Empfehlung von Lebensmitteln mit einer höheren Konsistenz ist zu berücksichtigen, dass aufgrund der größeren Kauleistung die Verwendung von harten Lebensmitteln mit einer größeren Anstrengung für das Individuum verbunden ist. Bei einem Angebot verschiedener Nahrungsmittel mit unterschiedlicher Textur führte dies zu einer Vermeidungsreaktion des kauintensiveren Lebensmittels. Ein Verhalten, dass im Tierversuch bestätigt wurde. Tiere, die mit weicher Kost gefüttert wurden, nahmen die Nahrung gleichmäßig über den Tag verteilt auf, während Tiere, die mit einer harten Nahrung vorlieb nehmen mussten, die Nahrung in Intervallen zu sich nahmen; also eine größere Vermeidungshaltung zur Nahrung einhielten (von Cube 1999).
Schlussbemerkung
Die funktionelle Beanspruchung des Kauorgans durch Nahrung mit einer erhöhten Konsistenz führt zu einer morphologischen Anpassung des stomatognathen Systems mit einer Reduktion von skelettalen und dentalen Anomalien. Die morphologischen Veränderungen betreffen das gesamte Kausystem; neben einer gesteigerten, physiologischen Abrasion der Zähne kommt es gleichfalls zu dimensionalen Veränderungen im Bereich des Gesichtsschädels und zu einer Hypertrophie der Muskulatur. Zukünftig könnte der Beschreibung der Lebensmittel bezüglich ihrer Konsistenz über einen einheitlichen Index für einen kontrollierten prophylaktischen Einsatz im Bereich des stomatognathen Systems Bedeutung zukommen.
Priv.-Doz. Dr. Dr. Edmund RoseAbt. für KieferorthopädieKlinik für Zahn-, Mund- und KieferheilkundeUniversitätsklinikum Freiburg79106 Freiburg i. Br.E-Mail:rose@zmk2.ukl.uni-freiburg.de