Die Lingualtechnik
Das Interesse Erwachsener an einer kieferorthopädischen Behandlung nimmt zu. Für viele sind allerdings die ästhetischen Beeinträchtigungen durch labiale Brackets aus beruflichen oder privaten Gründen nicht akzeptabel [Fritz et al. 2002, Hohoff et al. 2003b], auch zahnfarbene Brackets haben wenig daran ändern können. Mit der Lingualtechnik steht eine „unsichtbare“ Behandlungsapparatur zur Verfügung. Diese Methode ist keineswegs neu: Bereits in den frühen 70er Jahren wurde erstmals versucht, Brackets auf der oralen Seite der Zähne zu befestigen, 1976 kamen hierfür die ersten speziellen Brackets auf den Markt [Kurz und Romano 1998]. Zunächst wurde die neue Methode besonders in den USA enthusiastisch aufgenommen, ein breites Medienecho führte in den 80er Jahren zu einem regelrechten Boom. Sowohl aufgrund damaliger technischer Probleme als auch falscher Anwendung kehrte sich dieser Trend jedoch zunächst ins Gegenteil um [Scuzzo und Takemoto 2003].
Heute ist die Lingualtechnik eine erprobte und etablierte Behandlungsmethode, deren Verbreitung weltweit, besonders in Europa und Japan, kontinuierlich zunimmt [Scuzzo und Takemoto 2003]. Etwa zehn Prozent der Kieferorthopäden in Deutschland bieten ihren Patienten diese Technik an. Die Weiterentwicklung insbesondere der Laborabläufe, aber auch Verbesserungen des Bracketdesigns sowie die Einführung neuer Adhäsiv- und Bogenmaterialien haben eine Ausdehnung der Lingualtechnik auf ein breites Behandlungsspektrum ermöglicht. Sie konnte ihre Effektivität bei der Therapie einer Vielzahl von Dysgnathien beweisen, das Indikationsspektrum entspricht dem labialer Straight-wire-Apparaturen, die Ergebnisse sind vergleichbar [Gorman und Smith 1991].
Gegenüber labial geklebten Brackets sind jedoch die Laborarbeiten und die klinische Handhabung deutlich aufwändiger [Artun 1987]. Die große Variabilität der lingualen Kronenflächen verhindert das direkte Kleben vorjustierter Brackets, wie dies bei konventionellen Apparaturen üblich ist. Dies erfordert für die Lingualtechnik ind rektes Kleben sowie eine präzise Labortechnik. Aufgrund der lingualen Kronenmorphologie führen bereits geringe Abweichungen der Bracketposition zu vergleichsweise großen Zahnbewegungen. Die exakte Platzierung der Brackets und ihre Übertragung vom Modell in den Mund sind daher besonders kritisch [Creekmore 1989]. Hierzu wurde eine Vielzahl unterschiedlicher Labortechniken entwickelt (zum Beispiel CLASS, TARG, TOP, BAS, Hiro-Technik und Modifikationen, IIBT und MBP, Ray Set, Orthorobot [Fillion 1998, Gunawan et al. 2001, Hiro und Takemoto 1998, Huge 1998, Kyung et al. 2003, Scuzzo und Takemoto 2003, Silli und Silli 2000, Wiechmann 1999a, 1999b, 2000a und 2000b]).
Nachfolgend soll zunächst anhand eines Patientenbeispiels das eigene Vorgehen beschrieben werden. Im Weiteren werden die neuesten Entwicklungen der Lingualtechnik vorgestellt sowie Vor- und Nachteile abgewogen.
Patientenbeispiel
Die erwachsene Patientin wurde bereits als Kind alio loco kieferorthopädisch behandelt. Es lagen ein umgekehrter Überbiss, eine mesiale Kieferlagebeziehung sowie ein bimaxillärer Engstand vor (Abbildungen 1a bis c). Wunsch der Patientin war es, ohne ästhetische Beeinträchtigung oder stärkere äußere Veränderungen ihre Zahnfehlstellung zu korrigieren. Der benötigte Platz zur harmonischen Ausformung der Zahnbögen sollte durch approximale Schmelzreduktion (ASR) im Seitenzahngebiet und Protrusion der Schneidezähne gewonnen werden. Mit einer Zug- und Druckmechanik (Druckfedern und elastische Ketten) wurden nach ASR die Prämolaren distalisiert, so dass der Engstand aufgelöst werden konnte (Abbildungen 2a bis c).
Zur Retention wurden sowohl im Ober- als auch im Unterkiefer linguale Drahtretainer eingegliedert (Abbildungen 2b und ).
Vorgehen
Nach eingehender Diagnostik und Planung werden von beiden Kiefern Abformungen mit additionsvernetzendem Silikon genommen. Die hiernach hergestellten Superhartgipsmodelle werden für das spätere Setup mit einer Wachsbasis versehen und einartikuliert. Nun stellt der Techniker nach den Vorgaben des Behandlungsplanes das Setup her. Auf diese Modelle werden dann die Brackets mit Hilfe eines slotfüllenden Idealbogens als Schablone geklebt und die Spalten zwischen Zahn und Bracketbasis mit Komposit aufgefüllt, wodurch individualisierte Bracketbasen entstehen. Die Bracketposition wird mit Einzelzahnkäppchen in den Mund übertragen. Sollten sich während der Behandlung Brackets lösen, können sie mit den Einzelzahnkäppchen präzise wieder befestigt werden.
Der slotfüllende Idealbogen ist gleichzeitig der Zielbogen am Ende der Behandlung. Zur Nivellierung werden überwiegend vorgeformte Copper-Ni-Ti-Bögen eingesetzt, die Größe wird passend zum Zielbogen ausgesucht. So können auch umfangreiche Behandlungen mit nur wenigen Bogenwechseln durchgeführt werden; die Verwendung (weitgehend gerader) Idealbögen lässt den Einsatz von Gleitmechaniken zu. Die von uns angewandte Labortechnik, die eine Modifikation der Hiro- Technik darstellt [Gunawan et al. 2001, Hiro und Takemoto 1998, Müller-Hartwich et al.], ermöglicht linguale Kieferorthopädie ohne teure Laborausrüstung. Nachteil sind hierbei die relativ dicken Bracketbasen, wodurch der Zungenraum zusätzlich eingeengt wird. Andere Techniken verlagern die Informationen durch den Einsatz von CAD/CAM von der Bracketbasis in den Bogen (Abbildungen 3 und 4) [Jost-Brinkmann et al. 1998, Wiechmann 2002].
Indikationen
Für die Lingualtechnik gelten heute die gleichen Indikationen (und auch Kontraindikationen) wie für labiale Straight-wire-Apparaturen [Scuzzo und Takemoto 2003]: Stark parodontal geschädigte Gebisse erfordern angepasste orthodontische Mechaniken, wie sie nur mit Segmentbogentechniken zu erreichen sind [Diedrich 1990]. Einfache Straight-wire-Mechaniken mit unkontrollierten Kräftesystemen, ob labial oder lingual, sind hier kontraindiziert. Fontenelle hat gezeigt, dass solche Mechaniken bei einem lingualen Kraftangriff möglich sind [Fontenelle 1991].
Auch kombiniert kieferorthopädisch-kieferchirurgische Behandlungen sind mit lingualen Multibracketapparaturen möglich und erprobt [Hugo et al. 2000].
Bei tiefen Bissen erleichtern die Aufbissplateaus die Bisshebung, daher lassen sich Patienten mit einem Deckbiss in der Regel gut mit lingualen Brackets behandeln. Entgegen früheren Ansichten ist der Einsatz der Lingualtechnik auch zur Korrektur offener Bisse möglich, obwohl Brackets mit Aufbissplateau eine Überkorrektur des Overbite verhindern [Gerkhardt 2000].
Einen weiteren Indikationsbereich bilden Blechbläser. Fortschreitende Zahnstellungsänderungen können bei einem Berufsmusiker sogar zur Arbeitsunfähigkeit führen. Labiale Brackets sind aus den gleichen Gründen nicht einsetzbar, weshalb hier als Multibracketapparatur nur die Lingualtechnik in Frage kommt [Jost-Brinkmann et al. 2003].
Eine unzureichende Höhe der klinischen Krone, wie sie besonders bei Jugendlichen im Unterkieferseitenzahngebiet anzutreffen ist, kann die Verwendung lingualer Brackets einschränken [Kelly 1982]; eine Kombination mit vestibulären Brackets im Seitenzahnbereich ist jedoch möglich.
Die seit zwei Jahren auch in Deutschland angebotene Invisalign-Technik und die Lingualtechnik stehen nicht in Konkurrenz zueinander, sondern ergänzen sich. Während Invisalign insbesondere für die Korrektur frontaler Engstände bei Erwachsenen durch Protrusion oder approximale Schmelzreduktion eine Alternative darstellen kann, verlangen komplizierte Zahnbewegungen, wie Extrusionen, umfangreiche körperliche Bewegungen oder auch Rotationen runder Zähne, den Einsatz lingualer Brackets, sofern die Apparatur „unsichtbar“ sein soll.
Vor- und Nachteile
Für die überlegene Ästhetik muss der Patient funktionelle Einschränkungen in Kauf nehmen. Insbesondere in der Anfangsphase kann die Phonetik gestört sein, wobei je nach Bracketsystem eher die Brackets in der Oberkieferfront oder die im Seitenzahnbereich des Unterkiefers als hinderlich empfunden werden. Die Eingewöhnungszeit kann stark variieren: Etwa jeder zweite Patient benötigt weniger als einen Monat, einige jedoch mehr als drei Monate [Nezhat et al. 2003]. Auch objektive Messungen der Lautbildung bestätigten diese Ergebnisse [Hohoff et al. 2003a]. Andere Autoren stellten überwiegend kürzere Gewöhnungsphasen fest [Fritz et al. 2002]. Die Deutsche Gesellschaft für Linguale Orthodontie (DGLO) bietet auf ihrer Homepage (www.dglo.org) Sprechproben von Patienten an, deren Stimmen vor und sofort nach dem Einsetzen der lingualen Apparatur sowie nach einer Eingewöhnungsphase aufgezeichnet wurden. Patientenhaben so eine Möglichkeit, sich vorab über die zu erwartenden Probleme zu informieren.
Der schlechtere Komfort lingualer Brackets ist bei Patienten mit Zungenpressen ein Vorteil, da sie die Umstellung der Dyskinesie erzwingen [Fadel und Miethke 1994]. Diese Wirkung wird als „Fence-Effect“ bezeichnet [Hugo et al. 2000, Takemoto 1998].
Die Aufbissplateaus der oberen Frontzahnbrackets führen in der Regel zu einer sofortigen Disklusion der Seitenzähne. Zahnbewegungen, insbesondere die Korrektur tiefer Bisse, werden hierdurch erleichtert; für den Patienten bedeutet dies jedoch zu Beginn der Nivellierungsphase Schwierigkeiten bei der Nahrungszerkleinerung.
Die Biomechanik unterscheidet sich bei lingualen und konventionellen Multibracketapparaturen durch eine andere Lage des Kraftangriffs zum Widerstandszentrum des Zahnes [Jost-Brinkmann et al. 1993]. Die geringere Interbracketdistanz macht den Einsatz hochelastischer Materialien erforderlich [Moran 1987], wodurch apikale Wurzelresorptionen nicht häufiger auftreten als mit labialen Multibracketapparaturen [Fritz und Diedrich 2002].
Da die Labialflächen nicht durch Teile der Apparatur verdeckt werden, hat der Behandler eine bessere Übersicht über die Zahnbewegungen, ferner sind Veränderungen des Lippenprofils besser zu beurteilen [Creekmore 1989]. Aus dem gleichen Grund besteht keine Gefahr der Entstehung sichtbarer White Spots, so dass linguale Apparaturen auch bei bereits bestehenden Schäden der Labialflächen einsetzbar sind, da die Lingualflächen weniger anfällig für Karies sind [Gorelick et al. 1982, Hugo et al. 2000, Kelly 1982].
Die Behandlungsdauer entspricht der mit konventionellen Multibracketapparaturen. Allerdings führen die schwierigere und mit größerem Zeitaufwand verbundene Handhabung sowie der stärkere Laboraufwand zu höheren Behandlungskosten.
Zusammenfassung
Ein zunehmender Anteil erwachsener Patienten und hohe ästhetische Ansprüche haben zur heutigen Verbreitung der Lingualtechnik beigetragen. Das Indikationsspektrum entspricht dem labialer Straight-wire- Apparaturen, die Ergebnisse sind vergleichbar. Die Anwendung lingualer Brackets setzt präzise Laborarbeiten und indirektes Kleben voraus. Um der großen Variabilität der Lingualflächen Rechnung zu tragen, werden die Brackets oder die Bracketbasen individualisiert. Den ästhetischen Vorteilen stehen durch höheren Arbeitsaufwand gesteigerte Kosten sowie durch die orale Befestigung der Brackets verursachte Eingewöhnungsschwierigkeiten gegenüber.
Priv.-Doz. Dr. Paul-Georg Jost-BrinkmannRalf Müller-HartwichCharité – Universitätsmedizin BerlinGemeinsame Einrichtung von Freier UniversitätBerlin und Humboldt-Universität zuBerlinCampus Virchow-KlinikumZentrum für Zahnmedizin, Abteilung fürKieferorthopädie und OrthodontieAugustenburger Platz 113353 Berlin