Kanzlerrede: Ankündigung statt Aufbruch
Dr. Rudi Mews,
Freier Korrespondent in Berlin
So viele mögliche Einschnitte in Besitzstände hat noch kein Bundeskanzler vor ihm angekündigt wie Gerhard Schröder (SPD) am 14. März 2003. Offen ließ er, ob und wann das Gesundheitswesen für alle Beteiligten Klarheit und Kalkulierbarkeit erlangt. Die direkte Antwort von Angela Merkel mit ihrem Gewicht als CDU-Vorsitzende und zugleich Unionsfraktionsvorsitzende im Bundestag ließ Möglichkeiten der Zusammenarbeit offen. Die Widerworte der Oppositionsführerin fielen im Zeitrahmen der Bundestagsdebatte aber kaum weniger global aus als die Ausführungen des Regierungschefs.
Beide großen Volksparteien wissen angesichts ihrer konträren Mehrheiten in beiden Häusern des Parlaments, dass sie die Linien ihrer Reformansätze zusammenführen müssen. Anders wird es keine umfassende Gesundheitsreform geben. Beide haben jedoch immer noch internen Klärungsbedarf. Gewerkschaftsnahe SPD-Abgeordnete verweigern Einschnitte beim Krankenund Arbeitslosengeld; DGB-Chef Michael Sommer und IG-Bau-Chef Klaus Wiesehügel (Mitglied der Rürup-Kommission) haben rechtliche Schritte bis zur Verfassungsklage angekündigt. Dabei hat der Kanzler nur erwogen und meist offen gelassen, was er im Detail wirklich machen will.
In den Unionsparteien gab es nach der Bundestagsdebatte einen heftigen Streit über die gemeinsame Wirtschafts- und Sozialpolitik und offene Kritik von Horst Seehofer (CSU) an seinem Parteivorsitzenden Edmund Stoiber. Er war während der Debatte wie ein Husarengeneral vorangeprescht, ohne sich zuvor mit seiner Infanterie abzustimmen.
Erschwerend kommt hinzu, dass beide großen Parteien auf ihre jeweiligen Expertengruppen verweisen. Deren Erkenntnisse können jedoch frühestens im Herbst zusammengeführt werden. Wo bleibt bei Regierung wie Opposition die Gesundheitspolitik? Sie ist in die Kommissionen abgewandert. Noch deutlicher gesagt: Sie versteckt sich hinter den Kommissionen. Für die größere Regierungspartei schlägt sich das in niederschmetternden Umfragezahlen nieder. Erst sie haben dem Kanzler seinen Mut zu Veränderungen eingeflößt, nicht eine sozial- und wirtschaftspolitische Grundidee, wie sie seine Parteifreunde, die Gewerkschaften und nicht zuletzt die Wähler seit langem erwarten. Hat vor der Bundestagswahl gar kein schlüssiges und durchsetzungsfähiges gesundheitspolitisches Konzept in der Kanzler-Schublade gelegen? War es beim Unionskandidaten wesentlich anders? – Indessen streifte der Kanzler die Banalität, als er sagte, die Strategie der Kostendämpfung wäre an ihre Grenzen gestoßen. Nein, sie hat sich über zweieinhalb Jahrzehnte hinweg als untauglich erwiesen. Die Finanzierbarkeit des Gesundheitswesens leidet mehr unter den wegbrechenden Einnahmen als unter der Kostensteigerung, die sich in dem selben Zeitraum ähnlich entwickelt haben wie das Bruttosozialprodukt im Ganzen.
Was die Zahnärzte im Besonderen betrifft, so ist schwer einzuschätzen, ob ihre Enttäuschung über die Rede Gerhard Schröders im Ganzen größer ist als die Enttäuschung des linken Flügels seiner Partei. Unter anderem Gesichtswinkel natürlich. In den Gewerkschaften, die dem Kanzler ein zweites Mal in den Sessel verholfen haben, geht der Vorwurf bis zum Wahlbetrug. Schwer wiegt ihre Kritik, der Kanzler suche jeweils nur den Mainstream, statt eine eigene Programmatik kämpferisch durchzusetzen. Dabei ist gewiss die Unionsmehrheit im Bundesrat nicht zu übersehen. Die Krankenversicherten haben sich in einer Emnid- Umfrage zu 82 Prozent für eine tiefgreifende Gesundheitsreform ausgesprochen und sind in der selben (unerwartet hohen) Größenordnung bereit, mehr Eigenverantwortung zu tragen und sogar eine höhere Eigenbeteiligung in Kauf zu nehmen. Könnte das in den Mainstream einfließen? Und stell’ dir vor, die Rürup- und die Herzog-Kommission zeitigten kompatible Ergebnisse und erzeugten damit einen Sog, dem sich weder Bundestag noch Bundesrat entziehen könnten.
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