Beitragssatzfetischismus
Hartwig Broll
Gesundheitspolitischer Fachjournalist in Berlin
Bereits 1996 hatte die damalige CDU/CSUFDP-Koalition im Rahmen des seinerzeit aufgelegten Sparpaketes der Bundesregierung eine gesetzliche Absenkung der Beitragssätze beschlossen. Durch das „Beitragsentlastungsgesetz“ wurde neben einer Vielzahl von Leistungseinschränkungen und Zuzahlungserhöhungen die generelle Absenkung der Beiträge zum 1. Januar 1997 um 0,4 Prozentpunkte gesetzlich vorgeschrieben – zusammen mit einer Beitragsfestschreibung bereits für das laufende Jahr 1996.
Nicht wenige Beobachter datieren den Beginn der chronischen Unterfinanzierung der GKV mit diesem Gesetz – trotz der vielfältigen Kniffe, mit denen das Moratorium sowie die Beitragssatzabsenkung damals unterlaufen werden sollten. Wer erinnert sich nicht etwa an jene „juristische Sekunde“ zwischen dem 31. Dezember 1996 und dem 1. Januar 1997, in der die Beitragssatzfestschreibung nicht mehr und die Beitragssatzabsenkung noch nicht gegolten haben soll? Zwar hätten die Kassen ab dem 2. Januar ihre Beiträge wieder erhöhen können, dann aber unter den Bedingungen des 1. GKV-Neuordnungsgesetzes, also einer gleichzeitigen Zuzahlungserhöhung um eine DM je 0,1 Prozentpunkte Beitragsanhebung – eine im Kassenwettbewerb nicht gerade attraktive Option.
Man muss dem Gesetzgeber des Jahres 2004 zugute halten, dass der mit einer derartigen Stringenz nicht vorgegangen ist. Zwar enthält das „Gesetz zur Anpassung der Finanzierung von Zahnersatz“ ebenfalls eine gesetzliche Beitragssatzabsenkung, die mit 0,9 Prozentpunkten – dem Volumen der Umfinanzierung von Zahnersatz und Krankengeld – sogar fast doppelt so hoch ist wie 1996. Allerdings fehlen diesmal eine Beitragsfestschreibung ebenso wie eine Koppelung zwischen Beitragserhöhungen und Zuzahlungen. Aber erneut nimmt der Gesetzgeber keinerlei Rücksicht auf die unterschiedliche Situation bei den Einzelkassen – nicht auf die tatsächlichen Ausgaben in beiden Leistungsbereichen, und auch nicht auf die mittlerweile doch recht unterschiedlichen Ausgangsbedingungen hinsichtlich der Verschuldung.
Damit dürfte für solche Kassen, die bei ihren Senkungsbeschlüssen des Jahres 2004 den pauschalen, von den Mitgliedern allein zu zahlenden Zahnersatzbeitrag schon ab dem 1. Januar 2004 zumindest im Hinterkopf gehabt haben, die Lage im Laufe des nächsten Jahres eng werden. Aus den Beitragssatzsenkungsphantasien zum 1. Januar ist die Luft jedenfalls raus. Und bei denjenigen Kassen, die ob des Drucks aus der Politik, die Beiträge schnell und deutlich zu senken, ihren Haushalt bereits jetzt „auf Kante genäht“ haben, dürften vielleicht schon vor dem 1. Juli nächsten Jahres, zu dem die gesetzliche Absenkung wirksam wird, auch Beitragssatzerhöhungen nicht ausgeschlossen sein.
Für den Gesundheitsminister des Jahres 1996, Horst Seehofer, war die Beitragssatzstabilität das Kriterium für Erfolg oder Misserfolg, und er hat diesen Beitragssatzfetischismus offensichtlich bruchlos auf seine Nachfolgerinnen vererbt. Auch bei Ulla Schmidt herrscht offensichtlich ein unverbrüchlicher Glaube an die arbeitsmarktwirksame Bedeutung der GKV-Beiträge – auch wenn ein jüngst vom Berliner IGES-Institut erstelltes Gutachten dies nachhaltig infrage stellen kann. Die gesetzlich festgeschriebenen Gesundheitskosten, die durch die Arbeitgeber zu leisten sind, sind danach ein viel zu kleiner Hebel, um allein positive Arbeitsmarkteffekte zu evozieren. Bleibt abzuwarten, wie lange die Politik der Argumentation, insbesondere der Arbeitgeber, unverbrüchlich folgen wird. Nachhaltig positive Effekte auf den Arbeitsmarkt hat jedenfalls auch die Gewaltaktion des Jahres 1996 nicht erreicht.
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