Gastkommentar

Tohuwabohu

234030-flexible-1900
Überfordert vom Reformdruck denken Politiker und Beamte nicht weit genug. Das GMG ist handwerklich unzulänglich. Nachbesserungshektik und eine Rolle rückwärts in der Pflegeversicherung drohen die unverzichtbare Nachhaltigkeit in den Sozialsystemen zu überdecken.

Dr. Rudi Mews,
Freier Korrespondent in Berlin

Wüst und leer ist die Erde am Beginn des biblischen Schöpfungsberichts. Hebräisch heißt das Tohuwabohu. Das Wort drängt sich dem Chronisten immer wieder auf, wenn er nach Begriffen zur gesellschaftspolitischen Lage 2004 sucht. Im BMGS, im Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, war letztere offensichtlich durchgeknallt. Ausgelöst von den wütenden Reaktionen auf das GKV-Modernisierungsgesetz (GMG). Mitte Januar ergab eine Umfrage des „stern“, dass vier von fünf Bundesbürgern der Regierung die Schuld am Durcheinander gaben. Vier von zehn Befragten sahen die Krankenkassen als Verantwortliche, nur 31 Prozent die Opposition, und die Ärzte kamen mit 19 Prozent am besten weg.

Die BMGS-Ministerialen rangen nach Fassung. In Telefonaktionen versuchte Ministerin Ulla Schmidt (SPD) persönlich zusammen mit den Spitzen des neuen gemeinsamen Bundesausschusses (GemBA) eine Öffentlichkeitsarbeit nachzuholen, welche zuvor in bunten Broschüren und Zeitungs- Anzeigen die Bevölkerung offensichtlich nicht erreicht hatte. Indessen belegt eine aktuelle Umfrage des Wissenschaftlichen Instituts der AOK ein gewachsenes Problembewusstsein gegenüber den Finanzierungsproblemen des Gesundheitssystems. Zusatzversicherungen werden beispielsweise überwiegend positiv bewertet. 70 Prozent der Deutschen sind nach einer Forsa-Umfrage für Selbstbeteiligungen bei Arzneien und einzelnen medizinischen Leistungen. Fast ein Drittel würde sogar bei allen Behandlungen zuzahlen. Dieses gewachsene Verständnis – das übrigens dem Verhalten vieler europäischer Nachbarn der Deutschen entspricht – hätte regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit konsequenter instrumentalisieren können. Der Gesetzestext war seit September öffentlich. Eine nervös gewordene Gesundheitsministerin warf der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen vor, das GMG nicht konsequent umzusetzen. Diese Vorwürfe fielen jedoch Ulla Schmidts eigenen Beamten, den Machern des GMG, vor die Füße zurück.

Aufgeschreckt von den miesesten Umfragewerten seit langem stellte Bundeskanzler Gerhard Schröder auch noch seine Ressortchefin bloß, als er ihre fast fertigen Finanzierungspläne für die Reform der Pflegeversicherung kippte. Ulla Schmidt hatte die Pflegereformvorschläge der Rürup-Kommission sowie die Auflage des Bundesverfassungsgerichts, bis Ende 2004 Eltern bei den Pflege- Beiträgen besser zu stellen, kombiniert und im Umkehrschluss über einen zusätzlichen Obolus für nicht Erziehende finanzieren wollen. Eher eine Verlegenheitslösung aus Finanznot. Aber wenn Eltern jetzt besser gestellt werden, um wenigstens die höchstrichterliche Auflage zu erfüllen, bleibt die Finanzierung der Pflege im Ganzen weiter unklar. Prof. Bert Rürup im Originalton: „Die Regierung hat sich ein bisschen Zeit gekauft, aber der Reformbedarf wird größer.“ Jeder Zeitverlust erhöht die Belastung für alle Beteiligten.

Überdies stehen noch das Präventionsgesetz und die GKV-Strukturreform auf der Agenda 2004, respektive 2010. Von der ebenfalls geplanten Rentenreform (Alterseinkünftegesetz) gar nicht zu reden. Nicht nur die Pflegeversicherung ist zu reformieren, bevor sie pleite ist. Auch die Krankenversicherung wartet auf eine echte Reform. Das GMG erfüllt als Kostendämpfungsgesetz noch nicht einmal die versprochenen Beitragssenkungen. Die Politik aber hat nicht die Kraft zu mehr. Horst Seehofer (CSU) räumte dies als erster schon ein, als er im vorigen Sommer nach „einer der schöneren Nächte seines Lebens“ mit Ulla Schmidt zusammen den gemeinsamen GMG-Kompromiss präsentierte. Nachträgliche Weichmacher im GMG und eine Rolle rückwärts in der Pflegeversicherung legen nur die Beschränktheit der Politik vor den nächsten Wahlen offen.

Mit Konzeptionslosigkeit aber überzeugt die Agenda 2010 des Kanzlers weder seine eigenen Genossen noch die Wirtschaft, die auf die versprochene Senkung der Lohnnebenkosten wartet. Erschwerend kommt hinzu, dass ein diskursives Palaver über das Tohuwabohu auch noch das eigentliche, das viel wichtigere Thema aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt: Die Politik ist an erster Stelle herausgefordert, für Nachhaltigkeit in den Sozialsystemen zu sorgen.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.