„Toll-Collect“ im Gesundheitswesen
Gerade ist Silvia Markowski (34) nach Nürnberg umgezogen – und prompt erkrankt. Nun sitzt sie bei ihrem neuen Hausarzt und drückt ihm ihre elektronische Gesundheitskarte in die Hand. Frau Markowski hat freiwillig wichtige Gesundheitsdaten .... der letzten Jahre abspeichern lassen – auch ihre Allergie gegen Penicillin .... Ihr Hausarzt .... verschreibt ihr deshalb nach Verbindung ihrer Kartendaten mit einem Arzneimittel-Informationssystem ein Antibiotikum mit einem anderen Wirkstoff. Ihre Patienten-Akte vom alten Arzt braucht der neue erst gar nicht umständlich per Post anfordern. Die Gesundheitskarte macht das überflüssig, denn sie ermöglicht eine elektronische Übermittlung. ....“
Schöne neue Welt? Nein, Werbung auf der Homepage des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS) für die ab 2006 laut GMG geltende elektronische Gesundheitskarte. Denn Aufklärung ist – zumindest darin scheinen die Beteiligten am bisher größten Elektronik-Projekt des deutschen Gesundheitswesens zurzeit noch einig – bitter nötig, so man dem aufwändigen System die erforderliche Compliance von 80 Millionen Deutschen verschaffen will. „Wenn Sie die Bevölkerung nicht mit in Ihre elektronische Kathedrale nehmen“, warnte der Behindertenbeauftragte des Bundestages Karl Hermann Haack im vergangenen September auf dem e-Health Kongress in Dresden, „werden Sie sich die Orgelmusik dort alleine anhören müssen“.
Was „Silvia Markowski“ aus der BMGS-Werbung allerdings nicht weiß: Dieses Konzert wird teuer. Die neue E-Kassenkarte – sie soll die bisherige Krankenversichertenkarte ablösen – ist Teil einer umfassenden Umstrukturierung, bei der Deutschlands Informations- und Kommunikationswirtschaft Morgenluft wittern muss.
Chip Chip Hurra
Die Karte soll, so das BMGS, über 80 Millionen Patienten mit rund 270 000 Ärzten, 77 000 Zahnärzten, 2 000 Krankenhäusern, 22 000 Apotheken und über 300 Krankenkassen verbinden. „Chip Chip Hurra“? Zumindest ist das eine Größenordnung, bei der sich jeder Industrie-Unternehmer die Hände reiben muss.
Vorsichtige Schätzungen gehen von Gesamtinvestitionen in Höhe von rund 2,2 Milliarden Euro aus – für die Karte selbst, für die Infrastruktur wie Programmier- und Lesegeräte, für Software und Trustcenter. Gegen diese Summe scheint der 5,3 Millionen Euro-Etat des BMGS für die Konzeption des so genannten „Bit4Health“-Projektes – der bisher größte Etatansatz des Ministeriums in diesem Bereich –, fast schon als die in der Kapitalwelt sprichwörtlichen „Peanuts“.
Teilnehmer der vom Ministerium eingesetzten Planungsgruppe „Bit4Health“ sind – neben dem Fraunhofer-Institut für Arbeitswissenschaft und Organisation (IAO) – die Technologie-Unternehmen IBM-Deutschland GmbH, SAP Deutschland AG & Co KG, InterComponentWare AG und ORGA-Kartensysteme GmbH. Diese Unternehmen ziehen mit dem BMGS an einem Strang, gehen mit den Interessen der per Gesetz betroffenen Selbstverwaltungen dagegen wenig zimperlich um: „Die bisherigen Erfahrungen mit der Selbstverwaltung (schlechtes Projektmanagement, Nichteinhaltung von Fristen) werden als Risiko für eine fristgerechte Einführung der Gesundheitskarte in 2006 gesehen“, heißt es in einem im Internet veröffentlichten Protokoll der Planungsgruppe zum Workshop „Praxis-Software- Anbieter“, der im Oktober 2003 mit BMGS-Vertretern, aber ohne Selbstverwaltungsorganisationen stattfand.
Ein ungerechtfertigter, sogar gefährlicher Vorwurf, warnt Dr. Günther E. Buchholz, für den Telematik-Bereich zuständiges Mitglied im Vorstand der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV): „Abgesehen davon, dass das BMGS mit diesem Vorgehen ganz konkret in Zuständigkeiten der Selbstverwaltung eingreift, erhalten die Software- Anbieter noch dazu Informationen, die mit der eigentlich zuständigen Selbstverwaltung nicht konsentiert sind.“ Eine Planung ohne kontinuierliche Einbeziehung der Selbstverwaltungen ist, so Buchholz, „nicht nur ein Vorgehen, das den Ausführungen des GMG widerspricht. Es hat auch fatale Folgen für eine praktikable Umsetzung des Projektes“.
Das Ministerium hat versucht, diesen Fauxpas durch Einrichtung eines Jour fixe „Telematik“, an dem die Selbstverwaltungen teilnehmen, zu korrigieren. Dennoch hat das bisherige Vorgehen den Anschein, dass das BMGS lieber einen Alleingang mit der euphorisch wirkenden Industrie wagen will als mit den auf Lösung praktischer Umsetzungsprobleme pochenden Selbstverwaltungsorganisationen – trotz ursprünglich anderer Zusage.
Kassen-Begehrlichkeiten
Kein Wunder, trägt den Gesetzgeber – im Gegensatz zur diversen Haltung innerhalb der Selbstverwaltung – bei diesem Projekt doch wieder einmal die Hoffnung, dass die neue Struktur, so § 291 a des SGB V, „der Verbesserung von Wirtschaftlichkeit, Qualität und Transparenz der Behandlung“ dienen wird. Das BMGS beziffert die jährlichen Einsparungen auf „bis zu einer Milliarde Euro“, fußend auf den Spar-Möglichkeiten durch elektronische Rezepte – sie rationalisieren laut AOK-Chef Hans Jürgen Ahrens 20 Milliarden Euro für mehr als 600 Millionen Rezepte auf Papier – sowie zusätzlichen Euros aus den Spar-Ergebnissen durch elektronische Arztbriefe und Patientenakten. Ergo eine Amortisationszeit von zwei bis drei Jahren, mutmaßt der AOK-Vorstandsvorsitzende.
Eine mehr als riskante Spekulation, meint der amtierende KZBV-Vorstandsvorsitzende Dr. Jürgen Fedderwitz: „Die Spannbreite der Amortisation schwankt, je nach Expertenschätzung, zwischen zwei und 200 Prozent.“ Im „worst case“ wäre damit eine Refinanzierung bis zum Jahr 2053 möglich.
Deutschlands Zahnärzteschaft verfolgt das Vorgehen in Sachen E-Karte seit geraumer Zeit mit deutlicher Skepsis und sieht kein vernünftiges Kosten-Nutzen-Verhältnis für dieses Mammut-Projekt. Jürgen Herbert, Präsident der Zahnärztekammer Brandenburg, im Vorstand der Bundeszahnärztekammer zuständig für Telematik-Fragen: „Die elektronische Gesundheitskarte mit den Funktionalitäten E-Rezept und E-Arztbrief hat für die Zahnärzteschaft einen sehr beschränkten Nutzen, ebenso die später hinzukommenden Funktionalitäten.“ Die Investitionen für neue Lesegeräte, Karten, Software und eventuell notwendige neue Computer-Hardware werden mögliche Rationalisierungseffekte in der Rezeptierung keinesfalls aufwiegen.
Das vom BMGS für die neue E-Plattform aus Gesundheitskarte, Heilberufsausweis, E-Rezept, elektronischer Patientenakte und anderem mehr herausgestellte Sparvolumen birgt in der Tat die Gefahr neuer Ungleichgewichte im Gesundheitswesen.
Unzweifelhaft attraktiv ist das Projekt letztlich wieder einmal für die gesetzlichen Krankenkassen, und das nicht nur wegen der erhofften Einsparungen. Die Kassen erhoffen sich eine „zufrieden stellende Aktualität der Daten, eine ausreichende Basis für mehr Arzneimittelsicherheit und gegen Arzneimittelmanipulationen“, so der Leiter des Geschäftsbereichs Ärzte der AOK-Rheinland, Klaus Limpinsel. Und: „Unter Wahrung der Datenhoheit der Patienten soll das Speichern der medizinischen Daten dazu beitragen, die Qualität der medizinischen Versorgung von Patienten zu verbessern.“ Direkt damit verbunden ist also auch die Begehrlichkeit der Kassen „zur Optimierung von Arbeitsprozessen und der Bereitstellung von aktuellen gesundheitsstatistischen Informationen“.
Der Datenschutzbeauftragte der Bundesregierung hat dem Projekt seinen Segen inzwischen zwar erteilt, warnt aber immer noch – wie Deutschlands Zahnärzteschaft – vor möglichem Missbrauch durch Datensammlungen in zentral gesteuerten Servern oder Datenpools. Eine Mahnung an den Gesetzgeber, deren Gewicht Dr. Manfred Kinner, Vorsitzender des Datenschutzkontrollausschusses der KZBV-Vertreterversammlung ausdrücklich hervorhebt: „Eine zentrale Datensammlung von Patientendaten, deren Umsetzung mit dem GMG bereits eingeleitet ist, lehnen wir aus maßgeblichen Datenschutzgründen energisch ab.“
BZÄK-Vorstandsmitglied Jürgen Herbert insistiert: Alle erforderlichen Daten gehören, wenn schon, direkt auf die Chipkarte. Die mit der gegenwärtig vom BMGS geplanten Architektur notwendige ständige Internetverbindung aller Praxis-Computer sehe ich zudem als ein völlig unkalkulierbares Risiko an.“
Kein Nutzen für die Zahnärzte
Die Voraussetzungen für eine den aktuellen Erfordernissen entsprechende sichere Systeminfrastruktur für vertrauliche elektronische Kommunikation hat die Zahnärzteschaft unter Federführung der KZBV unter dem Namen „Zahnärzte Online Deutschland (ZOD)“ ohnehin schon geschaffen. KZBV-Vorstandsmitglied Dr. Buchholz: „Die im Rahmen dieses Projektes ausgegebenen Karten sind mit ähnlichen Sicherheitsstrukturen wie die Health Professional Card (HPC) ausgestattet, wurden jedoch in einigen Funktionalitäten aus Kostengründen vereinfacht. Diese ZOD-Karten können bei Einführung einer berufsgruppenspezifischen, übergreifend einzuführenden HPC durch fließenden Austausch der Karten – wie beim Ablauf der ECKarten – ausgetauscht werden.“ Die Vorteile der elektronischen Datenübermittlung, zum Beispiel den vertraulichen, sicheren Datenaustausch, biete auch die ZOD-Systematik. „Die mit der Gesundheitskarte geplanten umfangreichen Datenerhebungen bieten dagegen für den Zahnarzt keine messbaren Vorteile“, so Buchholz.
Aber sie kostet viel Geld. Wer die Kosten für die Feldversuche und die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte nach Ansicht des Ministeriums tragen soll, bleibt nebulös. Die Fragen der Ärzte- und Zahnärzteschaft zur Finanzierung ließ das Ministerium in einer Besprechung der Planungsbeteiligten am 3. Februar in Berlin – trotz mehrfach mit Nachdruck betriebener Nachfrage seitens KZBVVertreter Buchholz – schlicht unbeantwortet. Buchholz: „Da herrschte im Ministerium eisiges Schweigen.“
Deutschlands Informations- und Kommunikationsindustrie zeigt sich hingegen weit optimistischer. Der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (BITKOM) winkte dem Ministerium im vergangenen November sogar mit einer möglichen Einsparung von 1,3 Milliarden Euro pro Jahr.
Wie im Straßenverkehr
Die elektronische Gesundheitskarte mache nur Sinn, so die deutsche Informations- und Kommunikationswirtschaft, wenn eine „einheitliche, den technischen und organisatorischen Anforderungen“ gewachsene und durchgängige Informationstechnologische Kommunikations-Architektur geschaffen wird“, so Andreas Bernhardt, Mitglied des BITKOM-Hauptvorstandes. Der Mitte letzten Jahres an Ulla Schmidt übergebene Expertenbericht empfiehlt eine „Rahmenarchitektur“, die dafür sorgt, „dass alle Systeme – ähnlich der Straßenverkehrsordnung im Autoverkehr – nach den gleichen Regeln und Anforderungen arbeiten“. Ähnlichkeiten zur Einführung der „Mautgebühr“ von „Toll-Collect“ und dem im Zeitplan so arg getäuschten Verkehrsminister Manfred Stolpe sind denn auch rein zufällig, wenn BMGS-Staatssekretär Klaus Theo Schröder von einer Systematik schwärmt, die „deutsche Telematikinfrastuktur zu einem Exportschlager zu machen, der von anderen Ländern aufgegriffen wird“.
Zu knappes Zeitraster
Immerhin handelt es sich, so Industriesprecher Bernhardt, um eines „der größten ITKProjekte in Europa“. Für die notwendigen rund 70 Millionen Gesundheitskarten müssen innerhalb des dafür vorgesehenen Jahres pro Werktag 350 000 Chipkarten produziert, personalisiert und mit einem Passbild versehen werden. Die Abstimmung der Systemstruktur muss bis März erfolgen, dann soll das Pflichtenheft stehen, nach erfolgter Prüfung muss die Software entwickelt, eine Musterkarte erstellt, ein Konzept für die notwendige Trust-Center-Lösung entwickelt werden. Ende offen, Zeit knapp. Ralf Sjuts, Vorstandsvorsitzender der Deutschen BKK, damit einer der Nutznießer der neuen Lösung, sieht für das Zeitraster schwarz: „Ich sehe das mit zwei, drei Jahren Verzögerung, ich glaube nicht, dass das 2006 kommt.“
Laut Plan soll die noch nicht fertige Systematik ab Juli dieses Jahres im Feldversuch getestet werden. Aber nicht flächendeckend, so die ministerialen Vorstellungen, dem das neue Paar Schuh aus Zeitund Geldnot langsam drückt. An Bewerbungen der Länder herrscht kein Mangel.
Bisher haben Nordrhein Westfalen, Bayern und Bremen getrommelt, die Bremer sogar mit Paukenschlag in Form einer Pressekonferenz. Interessant: Sowohl das Bremer- wie auch das NRW-Projekt laufen unter Mitwirkung der ebenfalls an der „Toll Collect“- Maut-Flaute beteiligten Telekom-Tochter T-Systems.
Das Konzept des Industrie-Konsortiums soll Ende Februar fertig sein. Parallel dazu hat die Selbstverwaltung einen Planungsauftrag für die flächendeckende Einführung des elektronischen Rezeptes und den Aufbau der erforderlichen Infrastruktur erteilt. Die Ergebnisse sollen im März vorliegen. Auch dort mit im Boot: IBM-Deutschland und Orga-Kartensysteme.
Die Organisationen der Selbstverwaltung haben sich – organisiert im Aktionsforum Telematik im Gesundheitswesen (ATG) – je nach spezifischen Notwendigkeiten und zwangsläufig unterschiedlichen Interessensansätzen schon lange vor dem offiziell bekundeten Interesse des BMGS mit der Entwicklung der Telematik im Gesundheitswesen befasst. So reichen die Analysen zur Einführung eines elektronischen Arztausweises weit in die 90er Jahre zurück.
Das ATG wurde im Jahr 2000 gegründet, angesiedelt unter dem Dach der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung (GVG). Dieses Gremium, getragen von den Einrichtungen der Selbstverwaltung des Gesundheitswesens unter Einbeziehung von Institutionen und Personen aus Industrie, Forschung, Ministerien und anderen Einrichtungen, dient dem Aufbau einer Telematikplattform und den darauf basierenden Anwendungen. Angesichts des eng gesetzten Zeitrahmens befürchten Insider mangels konkreter Durchführungsbestimmungen ähnliche Probleme wie bei der desaströsen Umsetzung der „Krankenkassen- Gebühr“. Die „System-Architektur“ der elektronischen Gesundheitskarte – ein im doppel-ten Sinne des Wortes „programmiertes“ Chaos?