Gastkommentar

Hasardeurspiele

Nicht kurzzeitige, sondern nachhaltige Unordnung zeichnet die deutsche Sozialversicherung aus. Regierungspolitik entwickelt sich mehr und mehr zum Hasardeurspiel.

Rainer Vollmer
Gesundheitspolitischer Fachjournalist

Die deutsche Sozialversicherung ist kräftig in Unordnung geraten. Nun meinen einige Politiker immer noch, das sei nur „kurzfristig aufgrund der Veränderungen durch das Gesundheitsreformgesetz“, wie im Deutschen Bundestag so herrlich die Tatsachen negierend parliert wird.

Nein, es ist keine kurzzeitige Unordnung. Sie zeigt auf, dass hier ein System auf dem Wege ist, im Chaos zu versinken. In der Krankenversicherung macht sich das seit 1977 deutlich, seit dem ersten Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz. In der Rentenversicherung ist es systembedingt seit den 50er Jahren. Schon damals hatten einige kluge Politiker ausrechnen lassen, dass die Rentenversicherung mindestens alle zehn Jahre in finanzielle Unordnung geraten würde. Zwei Hauptübel machen das soziale Sicherungssystem zum Hasardeurspiel der mehr oder minder aktiven, meist nur agilen Politiker:

■ Die Grundstruktur der Kranken- und Rentenversicherung ist auf Wachstum angelegt. Eine Utopie, die keine Wirtschaft der Welt dauerhaft leisten kann. Darum gerät das System finanziell ins Schleudern. Alle Jahre wieder.

■ Das Ordnungsprinzip „soziale und solidarische Versicherung“ ist durch ständige Eingriffe, durch permanentes atemloses Gegensteuern aus allen Fugen geraten. Die Prinzipien „sozial“, „solidarisch“ und „Versicherung“ sind zum Homunkulus mutiert. Jeder legt sie so aus, wie sie ihm gerade in die eigene, meist egoistische Argumentation passen.

Ein Beispiel aus der Rentenversicherung: Vor etwa 90 Jahren wurde das Prinzip der Hinterbliebenenversorgung eingeführt. Rund 30 Prozent der Beiträge müssen dafür aufgebracht werden, auch heute noch. Die Hinterbliebenenrente sollte den Frauen eine Rente ohne Beitragszahlung sichern. Diese soziale Tat geriet aus den Fugen: Das saarländische Verfassungsgericht verbot die Diskriminierung der Männer und sprach ihnen auch eine Hinterbliebenenrente zu. Gleichzeitig gab es zusätzliche Anerkennung von Erziehungszeiten für das Kinderkriegen. Mit dem Erfolg, dass das austarierte System der Rentenversicherung so nicht mehr finanzierbar ist.

In der Krankenversicherung hat es gleiche Erosionen gegeben: Der Begriff „sozial“ ist nicht mehr für die heutige Zeit definiert. Sozial wird von den Bürgern im Wohlfahrtsstaat Deutschland als „Nimm was du kriegen kannst“ ausgelegt. Der Begriff „Solidarität“ ist pervertiert worden. Der „Reiche für den Armen“ wird so oft malträtiert, dass der Reiche von immer weniger immer mehr gibt. Nur Irrgläubige können noch darauf vertrauen, dass Mitglieder einer Krankenkasse mit sieben Millionen Versicherten Solidarität üben. Es gibt eine Zwangsumverteilung, die sprachlich kaschiert wird: Der Arbeitsfähige( willige) für den Arbeitsunfähigen( unwilligen). Welch haarsträubende Ungerechtigkeit.

Schließlich ist das Ordnungsprinzip „Versicherung“ zerfleddert worden wie Europa nach dem 30-jährigen Krieg. Ständige Eingriffe der Politik haben es unmöglich gemacht, dieses Ordnungsprinzip – kalkulierbares Risiko – anzuwenden. Da gibt es für die Krankenversicherung weniger Beiträge von der Rentenversicherung, weil die finanziell leidet. Da muss der Krankenversicherte Beiträge für gesellschaftspolitische Aufgaben aufbringen, die nicht in eine Versicherung gehören. Da werden durch mafiöse Rechentricks die Beitragsbemessungsgrenzen zu hoch angesetzt – auch in diesem Jahr zahlen die Gutverdienenden rund 500 Millionen Euro zuviel Beiträge.

Und dann diese Gesundheitsreform. Seit Jahren hämmerten die Sozialdemokraten den Bürgern ein, Zuzahlungen würden den Kranken und den Armen schädigen. Dann werden Zuzahlungen im Jahre 2000 heruntergefahren, aber 2004 exorbitant angehoben. Da wird 2000 der demografische Faktor aus der Rentenversicherungsmathematik herausgenommen und 2003 mit dem „Nachhaltigkeitsfaktor“ wieder eingeführt. Der Bürger staunt, er wird missgestimmt. Und er wirft sein missbrauchtes Vertrauen über Bord. Mit unabsehbaren Folgen.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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