Auch in Russland kann man heute den Mund aufmachen
Die diesjährige Referentin und Russland-Expertin der amerikanischen Carnegie-Stiftung in Moskau Lilia Shevtsova sprach vor 1 200 Gästen zum Thema „Putins Russland – Neue globale und innere Herausforderungen einer früheren Weltmacht“. Shevtsova, die vor kurzem ihr Buch „Putin’s Russia“ auf Englisch veröffentlichte, genießt nicht nur als Autorin, sondern auch als politische Beraterin die Wertschätzung internationaler Politgrößen, wie des ehemaligen Chefs der Sowjetunion Michail Gorbatschow und des früheren US-Außenministers Henry Kissinger. Grund genug, so fand Prof. Dr. Michael Heners, im Zeitalter der Ost-Erweiterung gerade diese Referentin nach Karlsruhe zu holen, um von ihr mehr Details rund um die internen Belange, Strategien oder auch Nichtstrategien Russlands zu erfahren und den richtungweisenden Weg des Landes aufzuzeigen, das als graue Eminenz Jahrzehnte einen Ruf genossen hat, der sich sicherlich nun ändern wird.
Zukunftsvisionen für Brüderchen Russland
Zwei Wochen nach seiner Wiederwahl forderte die Russland-Expertin Lilia Shevtsova den russischen Präsidenten Wladimir Putin auf, mit viel Mut ein neues Kapitel in der russischen Geschichte aufzuschlagen. Denn, wenn Putin jetzt den Mut aufbringe, könne er in die russische Geschichte als der führende Umgestalter einziehen, so die 56-jährige Referentin und Politik-Analytikerin in ihrem Vortrag.
Denn die Zeichen der Zeit stehen günstig. Ost-Erweiterung, Wiedervereinigung und vieles mehr, können das riesige Russland dem Westen näher bringen und auch politisch diese Annäherung umsetzen, die auf wirtschaftlicher Ebene bereits längst vollzogen wurde. Russland habe in naher Zukunft allerdings ein Problem zu lösen: Das riesige Land müsse einen friedlichen und gesetzmäßigen Übergang der Macht von Wladimir Putin auf seinen demokratisch gewählten späteren Nachfolger, strategisch richtig auf die Beine stellen.
Die Referentin stellte in den Raum, dass derzeit erst beobachtet werden müsse, ob Putin als jetziges Staatsoberhaupt zur Durchführung des Umbruchs fähig sei. Denn er müsse sich schließlich vom Stabilisierer des Systems zu seinem eigenen Umgestalter wandeln. „Um damit erfolgreich zu sein, muss er bald handeln, auch, wenn das Ziel noch in weiter Ferne liegt“, sagte Shevtsova. Strebe er dies nicht an, werde er ein totalitärer Führer und setze dann eine Konfrontation mit dem Westen aufs Spiel.
Russland hat jetzt gute Karten
In Putins zweiter Amtszeit werde es wohl in Russland kaum ernst zu nehmende Krisen geben, prognostizierte die Referentin, denn „Das Regime hat keine ernsthaften Widersacher“, so Shevtsova. So lange der Ölpreis hoch bleibe, brauche sich der Kreml keine Sorgen machen. Gebe es Veränderungen, könnte das ganze System erschüttert werden oder sogar einen Kollaps erleiden. „Ein System, das sich auf der Ordnung eines Mannes aufbaut, ist verletzbarer als eines, das sich auf starken und lebensfähigen Institutionen begründet“, so Shevtsova. „Jeder Führer in Russland wird verlieren, wenn er keine starken Institutionen hat, die ihn unterstützen.“ Die Referentin sieht die Zukunft Russlands klar und deutlich: Die Zukunft ist nicht rosig, aber es ist unbedingt möglich, auch diesen äußerst steinigen Weg zu beschreiten. Aber es muss jetzt sofort mit dem Marschieren begonnen werden. sp