Eine wichtige aber ungewöhnliche Tätigkeit des Zahnarztes

Der Zahnarzt als Sherlock Holmes

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Große Katastrophen gehen immer mit vielen Toten einher, die anschließend identifiziert werden müssen. Sei es Ramstein, Bopal, Enschede oder New York am 11. September 2001: Nur ein Zahn kann ausreichen, um einem Toten seinen Namen zurückzugeben. Wie Zahnärzte für diese akribische Puzzlearbeit vorbereitet werden, zeigt folgender Beitrag sehr anschaulich.

Ein ohrenbetäubender Knall – eine enorme Druckwelle erschüttert die Umgebung – in der Tiefgarage eines Hochhauses in Washington gab es eine Explosion durch eine defekte Gasleitung. 25 Personen werden vermisst. Man befürchtet, dass die meisten durch die Explosion ums Leben gekommen sind, womöglich bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

Praktisch zur gleichen Zeit ist ein Symposium von zivilen und militärischen Zahnärzten und Rechtsmedizinern aus der ganzen Welt in vollem Gange – der Tagungsort befindet sich fiktiv in unmittelbarer Nähe des Unfallortes. Die Regierung bittet die Mediziner um Amtshilfe, um die Toten so schnell wie möglich zu identifizieren.

Dieses Szenario spielten wir vor Pressevertretern in München durch. „Es ist grausam, aber leider durchaus realistisch“, so Oberstarzt Dr. Klaus-Peter Benedix, Begutachtender Zahnarzt der Bundeswehr und stellvertretender Abteilungsleiter im Sanitätsamt der Bundeswehr in München. Er erkannte vor sechs Jahren die Wichtigkeit und Notwendigkeit für die Bundeswehr, sich mit der Thematik der „Forensischen Zahnmedizin“ intensiv auseinanderzusetzen. Bei Flugzeugabstürzen, schweren Verkehrsunfällen, militärischen Unfällen, Terroranschlägen, aber auch bei der Aushebung von Massengräbern in den Auslandseinsätzen ist das Fachwissen von Experten gefragt, um die Toten eindeutig zu identifizieren. Anlass genug für Dr. Benedix, im Juli 1999 mit einer ersten Informationsveranstaltung den Stein der „Zahnärztlichen Identifizierung“ innerhalb der Bundeswehr ins Rollen zu bringen. I nzwischen gab es schon fünf Symposien zu diesem Thema und in der ersten Augustwoche 2004 den zweiten Workshop. Vier Rechtsmediziner aus der Schweiz, vier Bundeskriminalbeamte (BKA) der Identifizierungskommission und 45 Bundeswehrzahnärzte aus der ganzen Republik reisten nach München an die Sanitätsakademie der Bundeswehr, um den in Deutschland einmaligen Workshop zu besuchen. Den weitesten Weg hatte der Durchführende des Workshops, Colonel Curtis Dailey – einer von zwei amerikanischen Sanitätsoffizieren, die zertifiziert sind, diesen Kurs überhaupt durchführen zu dürfen – er kam aus Georgia, USA, wo er stellvertretender Direktor der Tingay Zahnklinik, Fort Gordon, ist. Im Gepäck hatte er auch die so genannten Aservate – original menschliche Kieferteile und die zugehörigen zahnmedizinischen Behandlungsunterlagen aus einem amerikanischen Archiv. Das Üben an original menschlichen Präparaten macht diesen Kurs so einmalig in Deutschland. „In ganz Europa gibt es dies nur noch ein weiteres Mal in Skandinavien“, so Oberstarzt Dr. Benedix.

Trauriges Puzzlespiel im Hörsaal als Übungsaufgabe

Ein Hörsaal in der Sanitätsakademie wurde für den zweiten Workshop zum Schauplatz der „Zahnärztlichen Identifizierung“ der verbliebenen sterblichen Überreste der im Szenario „Gasexplosion in Washington“ verunglückten Personen. Neun Gruppen zu je sechs Kursteilnehmern arbeiteten akribisch an den nummerierten Gebissteilen und den zugehörigen zahnärztlichen Unterlagen: Ante-morte-Befunde wurden mit postmortalen Befunden verglichen, Röntgenbilder ausgewertet, zahnärztliche Behandlungsunterlagen studiert, Informationen ausgetauscht und abgeglichen – „Detektivarbeit von Weißkitteln“. Aber eines war anders: Weiße Kittel trugen die Kursteilnehmer in diesem Fall nicht, denn die anatomischen Präparate sind hygienisch einwandfrei.

Das emsige Treiben der Zahnärzte und Rechtsmediziner wurde jedoch den ganzen Tag über immer wieder unterbrochen. Colonel Dailey machte es seinen „Schülern“ nicht einfach und hat „Fußangeln“ in das Szenario eingebaut: „Ein Bodyguard und ein Fahrer werden zusätzlich vermisst“, bisher standen sie nicht auf der Vermisstenliste und zahnärztliche Behandlungsunterlagen liegen bis jetzt auch noch nicht vor. Dafür kann ein Vermisster von der Liste gestrichen werden – er war nicht wie vermutet in der Tiefgarage, sondern er befand sich bereits auf einer Geschäftsreise.

Lageänderungen schaffen Realitätsnähe

Dafür können zwei Kiefer nicht den vorliegenden zahnärztlichen Unterlagen zugeordnet werden. Rechtzeitig fällt den Kursteilnehmern jedoch ein, dass sich Monteure zur Reparatur der Gasleitung in der Tiefgarage aufgehalten haben sollen. Auf Nachfrage beim Leiter erhalten die Kursteilnehmer die entsprechenden zahnärztlich notwendigen Unterlagen. Curtis Dailey schafft mit diesen Einlagen bestmögliche reale Übungsbedingungen. Wobei die psychologische Belastung eines realen Unfalls bei einem derartigen Workshop nicht einmal annähernd geübt werden kann. Das bestätigt auch Dr. Sven Benthaus, Zahnarzt mit eigener Praxis in Oberhausen und externes Mitglied der BKA-Identifizierungskommission. Er war mit dem BKA im Einsatz beim Zugunglück von Eschede, bei dem Flugzeugabsturz in Überlingen am Bodensee und er war im Kosovo bei der Identifizierung von Toten aus Massengräbern: „Diese Eindrücke trägt man lange Zeit mit sich herum.“

Alle Vermissten erfolgreich identifiziert

Am späten Nachmittag trugen die neun Gruppen ihre Ergebnisse vor. Tatsächlich haben sie alle das Ziel erreicht: Alle vermissten Personen wurden richtig identifiziert. Nicht ohne Stolz auf seine Lehrgangsteilnehmer sagte Dr. Benedix: „Es ist von unschätzbarem Wert, nach so einem Unglück den Toten ihren Namen wiederzugeben! Daher bin ich froh, dass auch der zweite Lehrgang dieser Art mit so großem Erfolg absolviert wurde.“ Den Wert der richtigen Identifizierung unterstrich Colonel Dailey mit seinen Erfahrungen nach den Anschlag auf das World Trade Center in New York: „Das Schlimmste ist eine falsche Zuordnung. Gelingt den Ärzten eine einwandfreie Identifikation, geben sie nicht nur den Behörden, sondern auch den Angehörigen Gewissheit und damit die Möglichkeit einer Beerdigung.“

DNA-Analyse ist teuer und zeitraubend

Im Zeitalter von Hightech und schier unbegrenzten Labormöglichkeiten mag man sich fragen, warum man im 21. Jahrhundert bei der Identifizierung nicht auf die modernen Möglichkeiten der DNA-Analyse zugreift. „Die DNA-Analyse dauert wesentlich länger, als die zahnärztliche Identifizierung“, so Oberstarzt Dr. Benedix. „Um nur ein Beispiel zu nennen, beim Zugunglück in Eschede waren bereits 80 Prozent der unbekannten Toten zahnärztlich identifiziert, bis die ersten Ergebnisse der eingeleiteten DNA-Analysen verfügbar waren“, bekräftigt der Experte.

Die Erfolgsquote bei der zahnärztlichen Identifizierung liegt bei bis zu 95 Prozent, ein Ergebnis, das sich sehen lassen kann und für die Kursteilnehmer die enorme Wichtigkeit einer ausführlichen und genauen zahnärztlichen Befunderhebung, Dokumentation und Archivierung deutlich macht.

Dr. Kerstin KladnyOberfeldarztPresse- und Informationszentrumdes Sanitätsdienstes derBundeswehrSanitätsamt der BundeswehrDachauerstraße 12880637 München

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