Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde

Grundsätze bei der zahnärztlichen Behandlung von Personen mit Behinderungen

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1. Definition und Problemstellung

Grundlegend lässt sich Behinderung folgendermaßen definieren: „Als behindert gelten Personen, welche infolge einer Schädigung ihrer körperlichen, seelischen oder geistigen Funktionen soweit beeinträchtigt sind, dass ihre unmittelbaren Lebensverrichtungen oder die Teilnahme am Leben der Gesellschaft erschwert werden“ [Bleidick, 1977]. Darüber hinaus lässt sich jede Art von Behinderung beziehungsweise Kombination verschiedener Behinderungen medizinisch sowohl mit Hilfe des International Code of Diagnoses (ICD) als auch der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) beschreiben [WHO, 2001].

In Deutschland erfolgt die formale Anerkennung einer Behinderung durch Amtsärzte. Aus den offiziellen Meldungen geht hervor, dass in Deutschland am 31.12.2001 1,67 Millionen Personen lebten, denen eine 100- prozentige angeborene oder erworbene Behinderung amtlich bescheinigt wurde [Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland, 2003]. Die Zahl der Personen mit einer amtlich anerkannten angeborenen Behinderung (Grad der Behinderung 50 bis 100 Prozent) betrug an diesem Stichtag 312 410.

Wissenschaftliche Untersuchungen und klinische Erfahrungen zeigen, dass der orale Gesundheitszustand bei vielen Personen mit Behinderungen deutlich schlechter ist als in der Allgemeinbevölkerung [Einwag et al., 1989; Pieper, 1990; Schulte et al., 1992; Griess et al., 1996; Nunn, 2000]. Daraus kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass das Vorliegen jeder Art von Behinderung automatisch zu einer Benachteiligung für die Mund- und Zahngesundheit der betroffenen Personen führt [Cichon und Grimm, 1999]. Dies trifft nur dann zu, wenn mit den angeborenen oder erworbenen Behinderungen eine oder mehrere der nachfolgend aufgeführten Begleiterscheinungen verbunden ist beziehungsweise sind:

1.Beeinträchtigte Mund- und Kaufunktion (wie bei Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, Anodontie, ausgeprägter Hypodontie oder neurologischen Störungen);

2.Störungen der Immunlage im Bereich des Parodontiums (wie Morbus Down);

3.Reduzierte oder fehlende Fähigkeit, selbst eine ausreichende Mundhygiene durchzuführen (zum Beispiel wegen motorischer Störungen, psychischer Störungen, mentaler Retardierung, Demenz, Lähmungen, Auslösung spastischer Anfälle durch Berührung einer hypersensiblen Mundschleimhaut, fehlender oder unphysiologisch gebildeter oberer Extremitäten);

4.Fehlende oder unzureichende Fähigkeit, selbst Besuche bei einem Zahnarzt zu veranlassen, um regelmäßige Kontrollen und bei Bedarf eine frühzeitige Therapie durchführen zu lassen beziehungsweise um präventive Maßnahmen in Anspruch zu nehmen (wie bei psychischen Störungen, mentaler Retardierung, Demenz);

5.Eingeschränkte oder fehlende Fähigkeit, ausreichend bei der zahnärztlichen Untersuchung und/oder der zahnärztlichen Therapie kooperieren zu können.

Der deutsche Gesetzgeber betont, dass die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation von Personen mit Behinderungen insbesondere die Behandlung durch Ärzte, Zahnärzte und Angehörige anderer Heilberufe umfasst; auch wird ausdrücklich darauf verwiesen, dass hierbei „die Anleitung, eigene Heilungskräfte zu entwickeln“ eingeschlossen ist [Sozialgesetzbuch IX 2001].

Aus diesen Aspekten ergibt sich, dass zahnärztlicherseits vielfältige Maßnahmen sowohl zur Prävention, Früherkennung und Frühtherapie von Gebiss-Schäden als auch zur Rehabilitation stark geschädigter Gebisse bei Personen mit zahnmedizinisch relevanten Behinderungen vorgenommen werden müssen.

2. Anamneseerhebung

Vor der zahnmedizinischen Befunderhebung und Therapieplanung muss bei Personen mit Behinderungen eine umfassende Anamnese erhoben werden, da bei dieser Patientengruppe häufig eine Polymorbidität vorliegt. Die Anamnese muss die in den nachfolgend aufgeführten Fragen angesprochenen sozialen, medizinischen und zahnmedizinischen Aspekte einschließen.

1.Wie sind die Lebensumstände des Patienten mit einer Behinderung, das heißt, lebt er selbständig oder benötigt er hierzu Unterstützung; lebt der Patient zu Hause oder in einer Institution; besucht der Patient eine Schule oder arbeitet er in einer beschützenden Werkstatt? Wie sieht der Tagesplan des Patienten aus und welche therapeutischen Maßnahmen beinhaltet dieser?

2.Entscheidet der Patient für sich selbst oder wurde ein offizieller Betreuer bestellt?

3.Liegen neben der primären Behinderung weitere Erkrankungen vor und welche medizinischen Befunde wurden bisher erhoben?

4.Inwieweit sind bei einer Person mit Behinderungen die geistig-seelisch-körperlichen Voraussetzungen vorhanden, um geeignete Maßnahmen zur Erhaltung der Gebissfunktionen (wie ausgewogene Ernährung, Mundhygiene, Fluoridierung, Aufsuchen eines Zahnarztes) selbst durchführen zu können?

5.In welchem Ausmaß sind gegebenenfalls betreuende Personen (wie Familienangehörige oder Mitarbeiter von beruflichen, medizinischen, pädagogischen oder sozialen Einrichtungen) fähig beziehungsweise in die Lage versetzbar, Defizite von Personen mit Behinderungen bei den Maßnahmen zur Erhaltung der Gebissfunktionen zu kompensieren?

6.In welchem Ausmaß ist eine Person mit Behinderungen in der Lage, bei der Erhebung der zahnärztlichen Befunde sowie bei der gegebenenfalls erforderlichen zahnärztlichen Therapie zu kooperieren?

7.Welcher Art und wie erfolgreich war die gegebenenfalls bisher erfolgte zahnmedizinische Therapie?

3. Befunderhebung und Diagnosestellung

Bei der zahnärztlichen Befunderhebung von Patienten mit Behinderungen und stark eingeschränkter Kooperationsfähigkeit muss berücksichtigt werden, dass diese manchmal erst nach einer systematischen, vertrauensbildenden Adaptationsphase vollständig durchgeführt werden kann. Scheitert diese, ist die genaue intraorale Befunderhebung bei diesen Patienten zusammen mit der zahnärztlichen Therapie nur in Allgemeinanästhesie möglich.

Die Informationen, die mit Hilfe der unter den Punkten 2.1 bis 2.6 aufgeführten Fragen und durch die Befunderhebung gewonnen wurden, müssen vor der zahnärztlichen Diagnosestellung und Therapieentscheidung dazu verwendet werden, eine diesbezügliche Risikoeinschätzung vorzunehmen.

4. Behandlungsgrundsätze

Für die zahnmedizinische Betreuung sowie die zahnärztliche Behandlung von Personen mit Behinderungen gelten folgende Behandlungsgrundsätze, deren Umsetzung vor allem in Abhängigkeit vom Ausmaß der Kooperationsfähigkeit einen erhöhten personellen, zeitlichen und apparativen Aufwand erfordern kann, zum Beispiel bei entsprechender Indikation und nach sorgfältiger Risikoabwägung durch die Behandlung in Allgemeinanästhesie.

1.Wegen der in der Regel komplexen medizinischen Befunde erfordert die zahnmedizinische Betreuung von Personen mit Behinderungen in überdurchschnittlichem Maße eine intradisziplinäre Zusammenarbeit der verschiedenen zahnmedizinischen Fachgruppen und eine interdisziplinäre Kooperation der verschiedenen ärztlichen Disziplinen und der nichtärztlichen Berufsgruppen.

2.Im Grundsatz darf sich das Ergebnis der zahnmedizinischen Versorgung von Patienten mit Behinderungen nicht von dem eines Patienten ohne Behinderungen unterscheiden. Dies gilt sowohl für restaurative, endodontische, parodontologische, prothetische, kieferorthopädische als auch für zahnärztlich-chirurgische und kieferchirurgische Maßnahmen. Hierfür kann es erforderlich sein, bei Personen mit Behinderungen Abweichungen von der bei Personen ohne Behinderungen üblicherweise durchgeführten Therapie vorzunehmen. Derartige Abweichungen bedürfen einer Begründung.

3.Zur Unterstützung der sozialen Integration von Patienten mit Behinderungen sollte die Indikationsstellung für zahnärztliche Therapien und deren Durchführung auch bei dieser Bevölkerungsgruppe nicht nur funktionelle, sondern auch ästhetische Gesichtspunkte einbeziehen.

5. Nachsorge

Zur Aufrechterhaltung der therapeutischen Erfolge und der langfristigen Erhaltung der Gebissfunktionen ist es unverzichtbar, gerade bei Personen mit Behinderungen in risikoadäquaten Zeitabständen eine zahnärztliche Nachsorge in Verbindung mit zahnmedizinisch-präventiven Maßnahmen durchzuführen. Darüber hinaus bedürfen Personen mit Behinderungen zum langfristigen Erhalt der Gebissfunktionen vielfach einer regelmäßigen fachkundigen Unterstützung und Hilfestellung durch die Angehörigen und/oder die betreuenden Mitarbeiter aus beruflichen, medizinischen, pädagogischen und sozialen Einrichtungen. Hierfür müssen letztere die Gelegenheit erhalten, fachkundig geschult beziehungsweise weitergebildet zu werden.

Prof. Dr. Andreas Schulte, Heidelberg,Prof. Dr. Peter Cichon, Witten,Prof. Dr. Ulrike Ehmer, Münster,Dr. Ariane Hohoff, Münster,Prof. Dr. Dr. Egbert Machtens, Bochum,PD Dr. Petra Scheutzel, Münster

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