Doctorhopping begünstigt die Chronifizierung
Sie alle kennen diese Patienten. Immer wieder erscheinen sie in der Praxis und klagen über irgendwelche Beschwerden, meist über Schmerzen. Einmal steht der Kopf im Mittelpunkt der Beschwerdeschilderung, ein anderes Mal ist es der Rücken oder eine Extremität. Die Krankenakte ist dick, gefüllt mit zahlreichen Facharztberichten, die entweder eine organische Erkrankung ausschließen oder Bagatellbefunde beschreiben, die letztendlich aber als Organmaske und nicht als plausible Erklärung für die vielfältigen Beschwerden dienen. Von solchen Patienten fühlen Sie sich häufig genervt, ja manchmal möchten Sie sogar resignieren, insbesondere dann, wenn Ihnen weder diagnostisch noch therapeutisch etwas Neues einfällt.
Frauen häufiger betroffen
Solche somatiformen Störungen sind, so Prof. Ulrich T. Egle von der Psychosomatischen Klinik der Universität Mainz, gar nicht so selten. Die Prävalenz liege bei 13 Prozent, das heißt etwa jede achte Deutsche leide zumindest einmal im Leben vorübergehend an einer solchen somatiformen Störung. Diese äußere sich meist in Form von Schmerzen unterschiedlicher Lokalisation. Aber auch über neurologische Symptome, beispielsweise Schwindel oder Parästhesien, würden häufig geklagt.
Die Symptomatik bei einer somatiformen Störung entwickelt sich meist schon in jungen Jahren, in der Regel vor dem 35. Lebensjahr. Klagt ein älterer Patient jenseits des 50. Lebensjahres über erstmals aufgetretene Schmerzen, so sollte primär immer an eine organische Ursache gedacht werden, das heißt eine somatiforme Störung ist eher unwahrscheinlich.
Sozioökonomisches Problem
Der medizinische Alltag zeigt, dass oft wertvolle Zeit verstreicht, im Durchschnitt fünf bis sechs Jahre, bis die richtige Diagnose gestellt wird und die Betroffenen adäquate Hilfe erfahren. Dazu kommt, dass somatiforme Störungen auch ein enormes sozioökonomisches Problem darstellen. Im Durchschnitt konsultieren betroffene Patienten neun Ärzte. Zwei Drittel werden wiederholt krankgeschrieben, bei einer mittleren Dauer der Arbeitsunfähigkeit von 20 Wochen, und bei jedem Vierten werden unwirksame und somit letztendlich unnötige invasive Eingriffe durchgeführt.
Emotionsloses Klagen
Typisch für eine somatiforme Störung sind, so Egle, anhaltende Schmerzen mit hoher Intensität und ohne freie Intervalle. Die Schmerzen werden diffus geschildert und oft wechselnd lokalisiert, am häufigsten im Bereich des Stammes oder der Extremitäten. Bevorzugte Manifestationsorte sind jedoch auch das Gesicht und die Zähne. Neurologisch lassen sich diese Schmerzen nicht erklären. Viele betroffene Patienten klagen zusätzlich über ein Kloßgefühl oder ein Brennen im Hals oder Mundbereich.
„Typischerweise werden die Schmerzen als schrecklich beschrieben, die den Betroffenen pausenlos plagen“, so Egle. Im Gegensatz zu dieser drastischen Schilderung stehe jedoch die auffallend geringe emotionale Beteiligung des Patienten, das heißt die Beschwerden würden so vorgetragen, als ob über einen Dritten gesprochen werde. Auffällig ist auch die hohe Komorbidität mit anderen psychischen Erkrankungen. So leidet jeder Zweite zusätzlich an einer Angststörung oder einem depressiven Syndrom.
Somatiform statt psychosomatisch
Der Begriff „somatiforme Störung“ ist ein relativ neuer, allerdings sehr unspezifischer Begriff. Er umfasst eine Reihe von Beschwerdebildern, die früher als psychosomatisch bezeichnet wurden. Dabei werden verschiedene Störungen unterschieden, die sich jedoch teilweise stark überlappen:
• Somatisierungsstörung
• undifferenzierte somatiforme Störung
• Konversionsstörung
• Hypochondrie
• Schmerzstörung
• Dysmorphophobie
Bei der Somatisierungsstörung werden unterschiedliche körperliche Beschwerden, insbesondere Schmerzen und gastrointestinale Symptome genannt.
Bei der Konversionsstörung stehen neurologische Symptome im Vordergrund. Dazu gehören eine Beeinträchtigung der Koordination, des Gleichgewichtssinnes, eine Schwäche oder Parese eines Armes oder Beines oder der Verlust der Empfindung eines Körperteils. Seltener können auch nicht epileptische Anfälle, Störungen des Sehvermögens, wie Blindheit und Doppelsehen, oder des Gehörs, aber auch Schluckprobleme oder eine Harnverhaltung im Vordergrund stehen. Meist ist der Beginn der Symptomatik an ein psychisch belastendes Ereignis geknüpft.
Der Übergang bei solchen somatiformen Störungen zur Hypochondrie oder zur Dysmorphophobie ist fließend. Bei letztgenannter entwickelt der Patient defizitäre Empfindungen im Hinblick auf sein Aussehen. So kann ein schütter werdendes Haar, Akne, Falten oder gefäßbedingte Hautveränderungen ebenso große Besorgnis auslösen wie die Form oder die Größe eines Körperteils. Es entwickeln sich Zwangsgedanken, die nicht verdrängt werden können. Folgen sind Selbstunsicherheit sowohl am Arbeitsplatz als auch im privaten sozialen Umfeld. Dies kann zu einer gesellschaftlichen Isolierung führen.
Insgesamt ist die differenzialdiagnostische Abgrenzung zu einer Angsterkrankung, einer Phobie oder einer depressiven Verstimmung nicht immer einfach.
Psychische Ursache wird verneint
Auch wenn bereits die Art und Weise, wie die Beschwerden vorgetragen beziehungsweise lokalisiert werden, den Verdacht auf eine somatiforme Störung lenken, so handelt es sich letztendlich um eine Ausschlussdiagnose. Doch wie viel oder wie wenig Diagnostik sollte betrieben werden? Dies hängt nach Meinung von Egle vom Einzelfall ab.
Doch die meisten Betroffenen können beziehungsweise wollen nicht akzeptieren, dass ihren Beschwerden keine körperliche Ursache zu Grunde liegt. Deshalb misstrauen sie erhobenen Befunden und fordern immer wieder neue beziehungsweise Wiederholungsuntersuchungen. Dazu kommen häufige Arztwechsel. „Unsere Spitzenreiterin brachte es auf 83 Ärzte“, so Egle. Ein solches Doctorhopping sei jedoch prognostisch ungünstig; denn bei therapieresistenten Patienten handele es sich meist um iatrogen Geschädigte. Bei der intensiven Suche nach einer organischen Erkrankung würden nämlich häufig auch Bagatellbefunde erhoben, an die sich die Betroffenen klammerten, die aber nur als Organmaske dienten und die wirkliche Ursache der Beschwerden verschleierten. Als solche Organmasken dienten zum Beispiel das Karpaltunnel-Syndrom oder degenerative Wirbelsäulenveränderungen. Das Verhalten der Ärzte könne deshalb dazu beitragen, dass sich ein solches Schmerzsyndrom chronifiziere. Wichtig für den Therapieerfolg sei, solchen Patienten rechtzeitig psychotherapeutische Hilfe anzubieten.
Bio-psycho-soziales Erklärungsmodell
Die eigentliche Ursache einer somatiformen Störung ist der Stress. Darunter versteht die Psychologie allerdings nicht das, was heute allgemein als solcher bezeichnet wird. Psychologisch gesehen handelt es sich bei Stress um einen Zustand bedrohter biologischer Homöostase. Ist diese biologische Homöostase bedroht, werden genetisch determinierte neuronale Programme und Verhaltensprogramme aktiviert, mit dem Ziel, die biologische Homöostase wieder herzustellen. Dieses Stress-Prozess wird durch körperliche Schädigungen und auch durch psychosoziale Belastungen aktiviert. Gerade psychosoziale Belastungsfaktoren können zentrale Strukturen des limbischen Systems aktivieren mit der Folge, dass über die hormonelle Achse, das heißt über eine vermehrte Freisetzung von Releasing-Faktoren, vermehrt Glukokortikoide und Katecholamine freigesetzt werden.
Wurzeln liegen in der Kindheit
Anhaltende oder wiederholte Reize dieses Systems führen bei gesunden Menschen zu einer Gewöhnung, auch Habituation genannt. Dies bedeutet, dass beim nächsten Reiz die Reaktion geringer ausfällt. Anders ist die Situation bei Personen, deren Stressverarbeitungssystem gestört ist. Solche Störungen können sich zum Beispiel entwickeln, wenn ein Kind unkontrollierbaren Stress-Situationen ausgesetzt ist. Dann verliert es die Fähigkeit zu einem adaptiven Verhalten.
Die Wurzeln einer somatiformen Störung reichen deshalb meist in die Kindheit, da das Stress-Verarbeitungssystem beim Menschen normalerweise in den ersten acht Lebensjahren ausreift. Schädigungen der Stress-Verarbeitung in der Kindheit führen dazu, dass im Erwachsenenalter auf kleine Stressoren überaktiv reagiert wird, das heißt geringe oder mittlere Schmerzreize werden als sehr stark erlebt, ein Befund, wie er sich typischerweise bei Fibromyalgie-Patienten findet. Aber nicht nur die Aufmerksamkeit auf ein Schmerzerlebnis ist gesteigert, gleichzeitig ist auch die Aktivität absteigender schmerzhemmender Bahnen im ZNS (Zentrales Nervensystem) vermindert. „Diese neuen pathophysiologischen Erkenntnisse sprechen dafür, dass es sich bei einer somatiformen Störung letztendlich doch nicht um eine psychische, sondern um eine organische Störung handeln könnte“, so Egle.
Biologische Narben führen zu einer Selbstwertstörung
Nach den Ergebnissen neuerer Studien gibt es eine Reihe von Faktoren, die ein erhöhtes Risiko für eine somatiforme Störung bedingen, wenn sie in den ersten acht Lebensjahren einwirken. Dazu gehören:
• emotionale Vernachlässigung
• berufliche Anspannung der Eltern
• chronische familiäre Disharmonie
• Gewalt
• körperliche Misshandlung
• sexueller Missbrauch
• finanzielle Probleme der Eltern
• Scheidung/Trennung der Eltern Diese Faktoren können wie biologische Narben wirken und im späteren Leben tiefgreifende Störungen des Selbstwertgefühls zur Folge haben, insbesondere dann, wenn neue psychosoziale Belastungen hinzukommen. „Somit ist der Schmerz letztendlich der Ausdruck einer Beziehungs- und Selbstwertstörung, welche psychotherapeutisch angegangen werden muss“, so Egle.
Anhaltende Besserung durch Psychotherapie
Um solchen Patienten helfen zu können, müsse man die Voraussetzungen für die Teilnahme an einer Gruppen-Psychotherapie schaffen. Dabei kommt dem Hausarzt eine zentrale Rolle zu. Er muss den Patienten allerdings in seinem Krankheitsverständnis dort abholen, wo dieser steht. Da Betroffene eine psychische Ursache ihrer Beschwerden strikt ablehnen, sollte man sie nicht primär mit der „Psychodiagnose“ konfrontieren. „Wer gegenüber dem Patienten die Diagnose ‚psychisch bedingt’ unbedacht äußert, riskiert, dass der Patient entrüstet die Praxis verlässt und niemals wiederkommt“, so Egles Erfahrung. Deshalb ist es sinnvoller, dem Patienten gegenüber von Stress zu sprechen. Dieser Begriff ist heute gesellschaftlich akzeptiert. Deshalb kann auch der Patient einen Zusammenhang zwischen einer gestörten Stress-Verarbeitung und seinem Schmerzerlebnis leichter akzeptieren. Dann ist er auch leichter zu motivieren, an einer Gruppen-Psychotherapie teilzunehmen.
Entsprechende Erfahrungen zeigen, dass eine solche Gruppen-Psychotherapie bei Patienten mit somatiformen Schmerzen sehr erfolgreich sein kann. 50 Prozent der Patienten, die innerhalb eines halben Jahres 40 eineinhalbstündige Therapiesitzungen erhielten, waren auch nach einem Jahr noch vollkommen beschwerdefrei.
Dr. Peter StiefelhagenChefarzt der Inneren AbteilungDRK-Krankenhaus57627 Hachenburg