Gastkommentar

Nicht krankenversichert

Die parlamentarische Anfrage eines Bundestagsabgeordneten macht auf eine Lücke im Gesundheitssystem aufmerksam: die nicht Krankenversicherten. Sie werden der Gesellschaft vermutlich als kleine, aber größer werdende Randgruppe noch lange erhalten bleiben, denn die Tendenz ist steigend.

Dr. Rudi Mews
Parlamentskorrespondent in Berlin

Die Zahnärztin W. hat sich mit einem möglichen Minimaltarif privat krankenversichert. Sie ist jung und gesund. Mit Arztrechnungen rechnet sie höchstens bis zu 1 000 Euro im Jahr. Die zahlt sie lieber aus eigener Tasche und spart eine erkleckliche Summe an Versicherungsbeiträgen damit ein: Die Entscheidung einer mündigen Patientin. Nicht weniger mündig ist der Arzt M. (Es gibt sie beide wirklich!). M. sagt, er sei überhaupt nicht krankenversichert. Wenn er denn ernsthaft krank würde, dann sollte man ihn doch in Frieden sterben lassen. Wie M. sind 188 000 weitere Deutsche ohne jeden Krankenversicherungsschutz. Diese Meldung in einem bekannten Hamburger Nachrichtenmagazin hat der Bundestagsabgeordnete Dr. Volker Wissing (FDP) im September mit einer schriftlichen Anfrage an das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS) ausgelöst. Wissing ist Mitglied im Petitionsausschuss. Die Parlamentarische Staatssekretärin Marion Caspers-Merk aus dem BMGS antwortete dem „sehr geehrten Herrn Kollegen“ noch im selben Monat, die Anzahl der nicht Versicherten würde vom Statistischen Bundesamt im Rahmen eines repräsentativen Mikrozensus hochgerechnet. Die Zahl 188 000 ergab sich für das Jahr 2003. 1999 waren es nur 150000 und 1995 105000. Die Steigerung ist nicht zu übersehen. Wenngleich diese Zahlen im Vergleich zu allen Versicherten in zweistelliger Millionenhöhe eher als quantité négligeable erscheinen, lassen sie doch vermuten, dass sie pars pro toto die anhaltende Konjunkturflaute widerspiegeln.

Wissing hat nämlich nicht nur Post von der Staatssekretärin erhalten, sondern auch von Betroffenen. Darunter sind viele Erwerbslose, die in ihrer Eingabe mitteilen, sie seien wegen Arbeitslosigkeit in die Selbständigkeit gezwungen worden, und hätten schlicht kein Geld, um eine Krankenversicherung zu bezahlen. Sie brauchten jeden Cent für ihre Ich-AG. Hintergrund ist nicht selten auch, dass Erwerbslose es für attraktiver halten, eine Ich-AG zu gründen, statt im nächsten Jahr im Arbeitslosengeld 2 zu landen. Die Arbeitsagentur fördert diesen Schritt; jeder Selbständige ist ein statistischer Arbeitsloser weniger. Viele darunter legten bisher noch nicht einmal eine praktikable Geschäftskonzeption vor, bevor sie sich selbständig machten. Dies soll zwar künftig besser geprüft werden, indessen bleibt das Problem, dass Erwerbslose – anders als die Doctores W. und M. – zum Risiko animiert werden, ohne sozial ausreichend abgesichert zu sein. Eine Versicherungspflicht gibt es für den neuen Ich-AG-Inhaber nicht. Er kann als freiwillig Versicherter in der gesetzlichen Krankenversicherung bleiben, zahlt dann aber höhere Beiträge. Als Selbständiger kann sich jeder in der Privaten Krankenversicherung versichern. Er kann – wie Frau Dr. M. – zumindest deren Basistarife wahrnehmen, die in etwa den GKV-Leistungen entsprechen. Wer jedoch einmal in die PKV eingetreten ist, kommt nicht in die GKV zurück. Geht er pleite und hat er kein Vermögen mehr, so landet er bei der Sozialhilfe. Als Sozialhilfeempfänger wird er wieder GKV-Mitglied. Die Katze beißt sich in den Schwanz.

Die statistische Bewertung lässt keine Schlüsse auf die Ursachen von Einzelschicksalen zu. Von allen in Not Geratenen erwartet die Gesellschaft, dass sie zunächst ihr Vermögen aufbrauchen, bevor sie ihr zur Last fallen. Aber danach lässt sie keinen verkommen. Sie fängt am Ende das Risiko auf, das die nicht Versicherten laufen – auf Kosten der Steuer- und Beitragszahler. Wäre es ordnungspolitisch nicht sinnvoller, fragt sogar der Liberale Wissing, hier eine Pflichtversicherung einzuführen?

Der Vorschlag ist überdies im gesundheitspolitischen Programm der FDP enthalten. Die GKV ist gesetzlich verpflichtet, über die Absicherung des Krankheitsrisikos zu informieren. Sofern der mündige Bürger das Angebot aber nicht wahrnimmt, läuft es an ihm vorbei. Die Aussichten, dass der Bundestag sich der Randgruppe annimmt, sind jedoch gering. Die großen Volksparteien sind mit parteiinternen und parteiübergreifenden Streitigkeiten über eine grundsätzlich neue Finanzierung des Gesundheitswesens mehr als ausgelastet, um nicht zu sagen: total überfordert.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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