Auf dem Weg zur weiteren Öffnung der Märkte
Lohn- und Sozialdumping, Verschärfung der Massenarbeitslosigkeit durch billige Arbeitskräfte aus Osteuropa, moderne Sklaverei – in den letzten Wochen machten die Pläne der Europäischen Kommission für den neuen Dienstleistungsrichtlinienentwurf in den Schlagzeilen so richtig Furore. Konkret geht es um die weitere Öffnung des Dienstleistungsmarktes.
Bundeskanzler Gerhard Schröder erklärt das Thema zur Chefsache und pocht auf Änderungen zu Gunsten deutscher Sozialstandards. Arbeitsminister Wolfgang Clement tritt für die Richtlinie ein und verspricht sich davon neue Arbeitsplätze. Insgesamt scheint es in der Bundesregierung aber noch keinen Konsens zu dem Thema zu geben.
In vielen EU-Mitgliedsländern, vor allem in Frankreich, macht sich derweil Widerstand breit, in Politik wie Öffentlichkeit will man nicht so recht an positive Veränderungen durch die Richtlinie glauben. Den Entwurf hatte noch die alte EU-Kommission vorgelegt und die im vergangenen Jahr konstituierte neue Kommission führt das Ganze jetzt weiter. Mit den möglichen Folgen beginnt sich die deutsche Politik erst jetzt ernsthaft zu beschäftigen.
Teil eines Reformprozesses in der EU
Der Richtlinienentwurf ist Teil des Wirtschaftsreformprozesses, der auf dem EUGipfel in Lissabon mit dem Ziel eingeleitet wurde, die EU bis zum Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum weltweit zu machen. Dazu ist die Vollendung eines wirklichen Binnenmarktes unerlässlich. Deshalb bedarf es eines Rechtsrahmens, der die bisherigen Hindernisse für die Niederlassungsfreiheit von Dienstleistungserbringern und für den freien Dienstleistungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten beseitigt. Der Vorschlag erstreckt sich auf eine große Bandbreite von Dienstleistungen und er gilt nur für Dienstleistungserbringer, die in einem Mitgliedsland niedergelassen sind. Kern der Richtlinie – und damit Hauptknackpunkt – ist die Absicht der EU, künftig das so genannte Herkunftslandprinzip anzuwenden. Das heißt, der Dienstleister würde nach der neuen Vorschrift einzig und allein den Rechtsvorschriften des Landes unterliegen, aus dem er stammt.
Auf die Wirtschaft übertragen heißt das: Mitarbeiter von Firmen mit Niedriglohn erhalten bei Umsiedlung in Gastländer mit höherem Lohn für ihre Dienstleistung eine bessere Bezahlung. Der Arbeitnehmer jedoch, der umgekehrt aus einem Land mit höherem Lohnniveau in eines mit niedrigerem Niveau umsiedelt, wird wirtschaftlich benachteiligt.
Für die Freien Berufe ergeben sich ganz besondere Fragestellungen. Die Politik dürfe nicht allein an den Erfordernissen der Märkte ausgerichtet werden, argumentiert der Bundesverband der Freien Berufe (BFB) und plädiert für eine Überarbeitung des Kommissionsentwurfs. Ebenso wichtig seien der Schutz der Verbraucher und das Anrecht der Allgemeinheit auf zuverlässige Versorgung durch die Freien Berufe.
Vor allem im Gesundheitsbereich sind die Diskussionen um die Richtlinie besonders sensibel. Denn Gesundheitsleistungen unterscheiden sich grundlegend von den meisten anderen Dienstleistungen.
• Zum einen: Es geht um kranke Menschen. Patienten sind höheren Risiken ausgesetzt als sonstige Verbraucher. Sie können sich als Kranke die in Anspruch genommene Leistung nicht freiwillig aussuchen und gehen nicht nur finanzielle Risiken ein, sondern setzen Gesundheit und Wohlergehen aufs Spiel.
• Zum anderen: Gesundheit ist ein öffentliches Gut, die Gesundheitsversorgung dient dem Allgemeininteresse. Zugänglichkeit für alle, Zukunftssicherheit und Leistungsqualität spielen eine Rolle.
Die gesamten europäischen Heilberufler sehen diese Belange in dem jetzigen Entwurf nicht genügend berücksichtigt und haben eine strategische Allianz gebildet, um hier ein konzertiertes, gemeinsam abgestimmtes Lobbying zu betreiben und ihre Interessen gegenüber der EU zu vertreten. Denn in Brüssel gilt: Nur gemeinsam verschafft man sich Gehör. Das gilt auch für die Belange der Zahnärzteschaft. Die Bundeszahnärztekammer ist – über ihr Brüsseler Büro – zusammen mit dem Zahnärztlichen Verbindungsausschuss zur EU (Dental Liaison Committee DLC) und mit allen Repräsentanten der europäischen Dachverbände der Heilberufe hier aktiv.
Von Anfang an nach Bekanntwerden des Kommissionsentwurfs hat man sich in der Zahnärzteschaft Gedanken um die möglichen Konsequenzen der Dienstleistungsrichtlinie gemacht – weit vor der „allgemeinen” Politik. Vor kurzem hat das DLC für alle europäischen Zahnärzte ein gemeinsam abgestimmtes Informationspapier erarbeitet, das der weiteren Argumentation für die zahlreich auf allen Ebenen (national wie international) laufenden Gespräche mit Entscheidungsträgern dient.
Grundsätzlich begrüßen es die Zahnärzte, dass die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen, das heißt die Mobilität der freiberuflichen Dienstleister wie auch der Patienten, erfolgen soll. Sowohl für Zahnärzte wie auch für Patienten ergäben sich positive Auswirkungen, besonders dann, wenn damit eine schnellere Behandlung möglich wird. Auf jeden Fall müsse aber, so betont das DLC, dem Patientenschutz und seiner Sicherheit höchste Priorität eingeräumt werden.
DLC will eigene Richtlinie für Gesundheitsberufe
Da die Gesundheitsberufe ganz eigenen Regeln unterworfen sind, plädiert das DLC für eine Herausnahme der Gesundheitsdienstleistungen von der Dienstleistungsrichtlinie und ihre Behandlung in einem separaten Regelwerk. Die Kommission hat es bisher versäumt, eine umfassende Abschätzung der Richtlinie auf den Gesundheitssektor vorzunehmen. Sollte eine Herausnahme nicht möglich sein, plädiert das DLC als zweite Alternative für erhebliche Nachbesserungen, um potenziell negative Auswirkungen auf das Gesundheitswesen abmildern zu können.
Ein gravierender Punkt aus Sicht der Zahnärzte ist zum Beispiel der Umgang mit der Patientenmobilitiät im Hinblick auf grenzüberschreitende Leistungen. Die damit verbundenen Fragen seien zu komplex, um sie in einem einzelnen Artikel der Dienstleistungsrichtlinie zu regeln. Vielmehr sei dazu ein gesamtes Regelwerk vonnöten, das sich ausdrücklich mit der Patientenmoblität befasse.
Die Kommission hält angesichts der Probleme, wie alternde Bevölkerung und steigende Behandlungskosten, eine verstärkte Deregulierung des Gesundheitssektors und eine Förderung des Wettbewerbs für unumgänglich. Sie will einschränkende nationale Rechtsvorschriften identifizieren und ausräumen. Das DLC erkennt zwar an, dass mehr Wettbewerb und weniger Regulierung grundsätzlich förderlich seien, plädiert aber dafür, solche Effizienzsteigerungen aufgrund der besonderen Merkmale des Gesundheitssektors nicht einfach den Marktkräften zu überlassen. Zur Identifizierung einschränkender Rechtsvorschriften schlägt das DLC vor, diese unter den Mitgliedstaaten in einer Art Offener Methode der Koordinierung zu überprüfen.
Herkunftslandprinzip muss fallen
Vor allem das Herkunftslandprinzip hält die Zahnärzteschaft für problematisch. Sollten die Gesundheitsberufe nicht von der Richtlinie ausgenommen werden, so müsse auf jeden Fall die Ausnahme des Herkunftslandprinzip sichergestellt werden, fordert das DLC.
Dieses Prinzip würde es Anbietern möglich machen, vorübergehend ihre Leistungen auf Grundlage der Vorschriften ihres Heimatlandes im Ausland zu erbringen. Für die Gesundheitsberufe ergeben sich viele offene Fragen. Hier einige Knackpunkte:
• Es bestehen zwischen den Mitgliedstaaten noch erhebliche Unterschiede in Bezug auf qualitative und ethische Anforderungen.
• Die Anwendbarkeit von bis zu 25 verschiedenen Regelwerken in ein und demselben Land würde aus Sicht der Patienten Unsicherheit schaffen und es im Streitfall schwierig machen, Schadensersatz- oder Folgebehandlungsansprüche gegen die Dienstleistungsanbieter durchzusetzen.
• Zu klären ist, unter welchen Voraussetzungen ein Zahnarzt als niedergelassen gilt. Nach einem Vorschlag der Kommission würde ein Zahnarzt, der regelmäßig zweimal im Monat in einem anderen Land praktiziert, als dort niedergelassen gelten. Das Herkunftslandprinzip käme bei ihm nicht zur Anwendung. Übernähme ein Zahnarzt dagegen eine mehrwöchige Urlaubsvertretung für einen anderen Kollegen in einem anderen Mitgliedstaat, käme das Prinzip zur Anwendung. Hierbei, so die Kommission, handele es sich nicht um eine regelmäßige Tätigkeit, sondern um ein einmaliges Arrangement.
Es gibt also viele Ungereimtheiten rund um den Kommissionsentwurf, die es abzuklären gilt. Dazu führt die Bundeszahnärztekammer wie auch die weiteren Vertreter des DLC zahlreiche Gespräche mit Abgeordneten des Europäischen Parlaments und Vertretern der Kommission. Gesprächspartner sind zum Beispiel die Berichterstatterin des Europäischen Parlaments, die deutsche Sozialdemokratin Evelyne Gebhardt (SPE), und der Schattenberichterstatter, der britische Christdemokrat Malcolm Harbour (EVP).
Die Erste Lesung im Europäischen Parlament ist für den Juli oder September 2005 vorgesehen. Im Moment gibt es Beratungen, Gespräche und Treffen, man befindet sich mitten im Prozess der Meinungsbildung und die Ergebnisse sind offen. Auch die Treffen der Fraktionen im Europaparlament zeigen, dass die Argumente noch intensiv diskutiert werden (siehe nachfolgenden Bericht).
Für große Aufmerksamkeit sorgte jetzt eine überraschende Ankündigung des federführenden Binnenmarktskommissars Charlie McCreevy: Die Kommission will ihren umstrittenen Richtlinienvorschlag zur Liberalisierung der Dienstleistungsrichtline überarbeiten. Damit distanziert sich McCreevy von dem Gesetzestextentwurf seines Vorgängers Frits Bolkestein. Er könne in seiner jetzigen Form nicht das Licht der Welt erblicken, erklärte er und betonte gleichzeitig, dass es einheitliche Bestimmungen für die Dienstleistungsmärkte geben müsse.
Vorschlag soll überarbeitet werden
McCreevy will zunächst die Erste Lesung im Parlament abwarten, bevor der Entwurf überarbeitet werden soll. Es solle keinesfalls zu Lohn- und Sozialdumping kommen. Vor allem befürwortete er ausdrücklich die Herausnahme der Bereiche Daseinsvorsorge und Gesundheit aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie, falls sich das Parlament dafür entscheiden sollte.
McCreevys Ankündigung erscheint zwar plötzlich, ist aber nicht nur auf seine persönliche Meinungsbildung hin geschehen. Vielmehr steht der Druck von Kommissionschef José Manuel Barroso dahinter. Dieser befürchtet nämlich, dass sich die kontroversen Diskussionen in den Mitgliedstaaten und in der dortigen Öffentlichkeit negativ auf die anstehenden Volksabstimmungen zur EU-Verfassung auswirken könnten. Derweil freuen sich die europäischen Sozialdemokraten: „Kommission beugt sich dem Druck der Sozialdemokratie“, heißt es in einer Presseerklärung von Evelyne Gebhardt.
Auch die europäische Zahnärzteschaft betrachtet das Ganze als erfreulich: „Wir können dieses neue Signal aus Brüssel als sehr positiv bewerten“, erklärt Prof. Dr. Wolfgang Sprekels, Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer und verantwortlich für den Bereich Internationales, zugleich Vizepräsident des europäischen Zahnärzte-Vorstands DLC. „Die konzertierte Aktion der Heilberufler in Brüssel hat sich bisher bestens bewährt und wir können weiterhin hoffen, dass wir mit unseren Argumenten bei unseren Gesprächspartnern auf offene Ohren stoßen.“